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Wer seinem Pedal nicht mehr unbedingtes Vertrauen schenkt, thut wohl, sich eines Rosses nebst dazu gehörigem Bändiger oder Pfleger zu versichern, wenn er das gebirgige Terrain der republikanischen Staaten Europas mit einiger Behaglichkeit heimsuchen will. Mithin berief ich einen berner Demokraten und beauftragte ihn, mir auf eine unbestimmte Zeit für einen Tagelohn von 11 Francs und den 12. als Trinkgeld, mit seinem Rosse zugebote zu stehen. Am andern Morgen um 6 Uhr rollte der dienstbereite Freistaatler vor die Thür, und ich fuhr in einem kleinen Wägelchen, das von Lauterbrunnen aus durch Kinder wieder nach Interlaken zurück bergab gezogen werden sollte, in der herrlichen Frische des Sommermorgens vondannen. Ich glaubte von den bequemen 42 Gästen Interlakens der Erste zu sein, welcher sich aufgemacht hatte; allein mehre Einspänner, die von alten Bauernweibern mit großen eisernen Brillen und ungeheuern Strickstrümpfen besetzt waren, und von kleinen Knaben nicht über 10 Jahren gezogen wurden, belehrten mich, daß eine Anzahl Touristen schon am Abend vorher nach Lauterbrunnen aufgebrochen und wahrscheinlich schon längst unterwegs sei.
Der Weg von Interlaken nach Lauterbrunnen trägt den Charakter der Schönheit und Erhabenheit an sich, der den ganzen Punkt zu der schönsten Stelle der Schweiz macht. Es ist die glücklichste Steigerung der Prospecte, die binnen zwei Stunden irgend möglich ist. Anfangs eilt man zwischen schwarzbraunen Bauernhäusern, saftgrünen Wiesen, die mächtige Waldung überragt, beschattet von reichliche Frucht tragenden Obstbäumen durch einige stille Dörfer, dann verengt sich das Thal, und gedrängt durch die riesigen Felswände ihres rechten Ufers braust die Lütschine, einer der mächtigsten Abflüsse des Berner Oberlandes, mit grauen, wildschäumenden Wogen, und einen eiskalten Athem in die milde Sommerwärme ausstoßend, gegen den steilen Fahrweg. Die rohe Wildheit dieses rasenden Wassers, das die Gletscherfluten von Grindelwald, der Jungfrau, des Schmadribachs und anderer vereinigt, sticht unheimlich ab von den sonnigen Felswänden, deren steile Gipfel Alpwiesen bedecken, von den reichen Laubwaldungen und den schneebedeckten ewigen Höhen, die da, wo Seitenthäler sich einmünden, scheinbar ganz nahe in unerhörter Majestät sichtbar werden. So das Wetterhorn, das mit seiner wilden dreigezackten Stirn da, wo der Weg nach Grindelwald sich abzweigt, den ganzen Hintergrund abschließt und nichts mit der Gemeinschaft des Thals, sondern nur mit den Töchtern der blauen Sphäre, den leichten fliegenden Wolken, zu schaffen hat.
43 Allmälig verstummt das Geheul des tobenden Eiswassers links in der Tiefe, und eine steile Anhöhe zwischen seltsam geformten Felsmassen emporsteigend, nähert man sich der Heimat thalwärts niederstürzender Wasser, dem einsamen friedlichen Lauterbrunnen, dessen großes Hotel Der Steinbock sich dem Wanderer zuvor in den Weg stellt. Zwar kann man in sogenannten char-à bancs von hier aus noch eine kleine halbe Stunde das schmale düstere Thal entlangfahren, allein die Mehrzahl der Reisenden setzt von hier aus ihre verschiedenen Wege zu Fuß oder zu Pferde fort. Der Vorhof des »Steinbock« zu Lauterbrunnen ist eine wahre Börse aller der Talente zu nennen, welche sich den Reisenden zu Diensten stellen und seine künftigen Beschwerden erleichtern wollen. Kutscher, Führer, Reitknechte, Träger und Jungen drängen sich um den aussteigenden Reisenden und bieten ihm ihre Arme, Beine, Räder und Hufe an, während der Mann im schwarzen Frack, der Steinbocks-Oberkellner, als Präsident in ihrer Mitte, den stutzenden Ankömmling in Empfang nimmt, in das Zimmer führt und seine Kräfte mit Kaffee soweit stärkt, daß er ohne Gefahr die endlosen Anerbietungen vernehmen kann. Ich, dessen Ausdauer noch durch interlakener Pensionselemente wohlgerüstet war, leistete diesem gewinnenden Verfahren hartnäckigen Widerstand und begab mich nach dem nahen Staubbach, dessen flatternde Mähne man vom Hotel aus wenige Schritte weiter von der Felswand herabhängen sieht. Zunächst ist zu bemerken, daß die meisten vom Fels nach Lauterbrunnen herabfallenden Bäche»Staubbäche« sind, insofern die beträchtliche Höhe des Sturzes, die nirgends unter 800 Fuß hinabsteigt, das Wasser auf der Hälfte des Weges in Staub auflöst und dem Winde als Spiel überläßt. Indessen ist nur der höchste dieser Fälle, dessen glatte Wand beinahe 1000 Fuß erreicht, mit jenem Namen beehrt 44 worden. Ich begab mich zu seinem Fuße und sah oben in jäher Höhe den ziemlich starken Wasserarm vereinigt herabstürzen, dann sich in einen dichten Schleier auflösen, dann in eine dichte rollende Wolke, endlich in einen Nebel vergehen, der über unsern Häuptern ruhig wallte, und indem er weit und breit die Vegetation mit feinem, dem Diamantstaub vergleichbaren glänzenden Naß erquickte, hier und da lichte farbige Höfe bildete. Das Schauspiel besaß durch den Hintergrund der grauen, mit dunkelgrünen Flechten in schwindelnder Höhe bewachsenen Felswand etwas Feierliches, und das tiefe Schweigen, unter dem das seltsame Phänomen vor sich ging, unterstützte die ernste Scenerie. Mein Roßbändiger war unterdessen mir nachgekommen; der Braune, dessen Appetit durch ein großes Haferbrot gestillt worden war, trug einen abgeschabten Sattel und dahinter ein glattes Gestell, auf das meine Effecten geschnallt worden waren. Ich setzte mich zu Pferde, wir überschritten bei der Kirche die Lütschine und nach wenigen Schritten, die mein Gaul in philosophischer Ergebenheit vor sich gebracht, standen wir vor dem Anfange des Weges auf die berühmte Wengernalp. Bädeker, der vielbenutzte Wegweiser des deutschen Touristenthums, nennt diesen Weg »wegen des steilen Steigens anfangs für Ungeübte vielleicht etwas beschwerlich«, allein ich kann versichern, daß der erste Aufmarsch von Lauterbrunnen nach Dorf Wengern, das oben am Fuß der Alp liegt, vollkommen ausreicht, um die Kräfte eines starken Mannes und Pferdes, worunter ich meinen Automedon und seinen energischen Braunen verstehe, so zu verarbeiten, daß sie oben eine gute halbe Stunde Ruhe brauchen. Was mich betrifft, so lag ich ergeben in mein etwaiges Schicksal nach vorn gebeugt über dem Halse meines Rosses, blickte gelassen in die Abgründe, die sich alle Augenblicke auf unserm Zickzackmarsche aufthaten, und petitionirte beim Fatum, 45 den über mir reitenden Engländer, wenn er fallen sollte, mir nicht direct auf den Kopf, sondern entweder rechts oder links vorbeizuwerfen. »Es war der Vater mit seinem Kind«, der über mir der Jungfrau zueilte, jedoch hielt er ihn nicht sicher, auch hielt er ihn nicht warm, sondern der Alte ritt allein, und das Kind, dessen Beine in meiner Erinnerung – das soll mir Keiner ausreden – als sechs Fuß lang fortleben, während das übrige Zubehör nur zwei Fuß betrug, wandelte rüstig vor dem Vater und setzte zuweilen sanft kleine Felsstückchen in Bewegung, die freundlich auf meinen Kopf fielen. Ich gestehe, daß es die erste halbe Stunde lang kein Genuß war, diese beiden Ungethüme, von denen das älteste das arme Pferd mit einem Birkenaste erbärmlich anpeitschte, stets über mir in der Schwebe zu erblicken; man gewöhnt sich indessen bald an Alles, und endlich vermißte ich noch mit Schmerzen den Vater und sein Kind. Sie hatten längst vor mir die Höhe erreicht, allein ihre eilige Freude dauerte nur kurze Zeit. Sowol ihre Kräfte wie das mishandelte Pferd waren so angestrengt, daß ich sie später bald überholte und im Verlauf des Tages weiter nicht zu Gesicht bekam.
Hart am Rande der Felswand, die östlich von Lauterbrunnen aufsteigt, liegt oben ein Wirthshaus, bei dem ich vor Schweiß triefend anlangte, die Rippen des Thieres flatterten wie ein von Dampfkraft getriebener Blasebalg, und der arme Bursche vermochte sich seiner Blouse nur mit Hülfe eines Bauernburschen zu entledigen, so fest verbunden war sie mit seinem sonstigen Costüm durch die Macht des Wassers. Aber die ganze Situation war entzückend und voller Einheit. Das mir aufgetragene Déjeûner entsprach an Härte und Ursprünglichkeit dem Zustande des Landes. Zwei Stück Käse von der Festigkeit, aber nicht von der Biegsamkeit des Stahls, ein Brot, das von der Basis des Felsens abgeschlagen schien, eine 46 Milch, wie aus dem Staubbach aufgefangen, und eine Butter, so weich wie eine herabgestürzte Sommerlavine, wurden mir zu meinem größten Entzücken dargebracht und meinen Zähnen als Problem vorgelegt. Ich begnügte mich mit der herrlichen Aussicht auf die gegenüber ragende Felswand, die schroff zur Linken über mir den Prospect abschließende grünbewachsene Klippe, und das düstere, das Thal von Lauterbrunnen abschließende, einem eisigen Grabmal vergleichbare Panorama. Eine Menge von Schneefeldern und Gletschern senkte sich thalnieder, und wie ein Streifen von der Länge und Dicke eines Spazierstocks zeichnete sich in blendender Klarheit der 200 Fuß hoch auf einer blaugezackten Eismasse niederstürzende mächtige Fall des Schmadribachs ab. Dieses große Bild ruhte in fernem tiefen Schweigen, und der Staubbach, den ich unmittelbar vor mir sah, bildete bereits oben schon einmal einen gewaltigen Sturz und verflog jetzt vor dem frischen Nordwind in Atome, als könnte er nicht länger der Sehnsucht nach seiner Heimat, dem weißen Hochlande, widerstehen und müsse als Wolke dorthin zurückkehren.
Wir brachen wieder auf, und der Weg setzte sich jetzt, weniger steil bergan, über wellige Höhen, durch Abhänge voll seltsamen bitterlich aromatischen Blumenduftes, über Naturbrücken aus wenigen dünnen Baumstämmchen, unter denen ein schneeweiß schäumendes Wasser zu Thal rann, durch junge schwarze Tannen, etwa zwei Stunden lang fort. Auf diesem Pfade genoß ich eine mannichfache und gute Gesellschaft. Wo eine Hecke war, öffneten dienstfertige Kinder, wo sich keine vorfand, öffneten sie wenigstens die Hände und bettelten; wo aber nur die Spur eines Echos zu finden war, reizte ein Mann das sogenannte Alphorn, ein Instrument, das vom Charakter des Hornes gar nichts, von dem der Alpen nur das Entsetzliche und Schroffe ansichträgt, zu starken 47 Seufzern, und die Natur läuterte in ihrer gen Himmel ragenden Werkstatt die schwache Virtuosenarbeit und sandte die Töne wie Antworten aus dem Munde höherer Wesen zurück. Als merkwürdigstes Etablissement der Schweizerindustrie fand ich etwa 4000 Fuß hoch, in einer stark mit Felsstücken beschwerten Hütte eine Art Kleidergeschäft, in dem etwa 10–12 Röcke, Jacken und Beinkleider hingen. Eine junge Frau saß darinnen hinter dem aufgeklappten großen Tische und flickte, ein paar Kinder spielten vor der Thür im Grase, der Mann blies hundert Schritte weiter das Alphorn zum Erbarmen. Mir flößte das arme Bild in dieser hehren und stillen Einsamkeit von der aus das elegante und reiche Interlaken mit seinen Tausenden nur wie ein Häufchen weißer Bachkiesel, die ein Kind zum Spielen aufgelesen, aussah, ein so erschütterndes Mitleid ein, daß ich mein Thier anhielt und die Frau nach dem Ertrage ihres Geschäfts und der Nahrung fragte. Wir konnten uns nicht verständigen, unsere Dialekte waren gegenseitig nicht zu entziffern, und ich ritt vorwärts, nachdem ich sie beschenkt und mich selbst über die Unzufriedenheiten im eigenen Leben durch den verzweiflungsvollen Vergleich mit diesem wilden Bergschneiderthum im Stillen getröstet hatte.
Wie wir so immer höher stiegen, verließen uns zuerst die Sträucher, dann die Blumen, dann die Insekten, und vom Leben blieb nichts bei uns als ein kurzes graugrünes Gras, ein sanfter kühler Wind, der von den Eisfeldern der Jungfrau uns entgegenfächelte, und eine himmlische, durch Höhe und Luftklarheit gemäßigte Sonnenwärme. Das Bild der Landschaft war jetzt weit und großartig geworden; ferne Eiszacken tauchten rings am Horizonte auf, und das Thal von Lauterbrunnen erschien von hier aus gesehen wie ein Felsspalt, nicht eben breiter, um mit einem leidlichen Ansatz darüber wegzuspringen. Selbst die hochgelegenen Dörfer Mürren 48 und Eisenfluh waren versunken, und soweit der Blick reichte, erschien die Gegend gänzlich vereinsamt.
Indem wir so still und unablässig in mannichfachen Windungen die kahlen Höhen bergankletterten, trat plötzlich die ganze Façade der Jungfrau, wie ich sie schon in Interlaken gesehen, jetzt in ihrer vollständigen Macht und anscheinenden Nähe hervor. Der Bergpfad wandte sich links empor, und ich konnte zur Rechten blickend mein Auge auf diesem Wunder der Hochgebirgswelt ruhen lassen. Der Gipfel des gewaltigen Berges, daneben das wundervoll glänzende Silberhorn, schien mir beim ersten Anblick ganz nahe zu sein; allein wenn ich auf die zahlreichen Wasserstürze blickte, die über die hellblaugrauen Felswände aus Gletscherpforten der Tiefe des zwischen der Wengernalp und dem Hochgebirge sich weit unten erstreckenden Trümletenthals zueilten und sie deutlich sah, sie aber ihrer Größe und Höhe ungeachtet nicht hörte, so erhielt ich eine Ahnung von der Tiefe der Perspective, und begriff die Reinheit der dünnen Luft, die die nächsten und ganz ferne Gegenstände dem Auge gleichmäßig verdeutlichte. Die Temperatur, die tief in den Thälern und an den Felsabdachungen ungemein drückend gewesen war, beschränkte sich hier auf 15° Réaumur im Schatten des Pferdes, und der volle Strahl der Sonne, der uns in der Fläche um diese Stunde – es war etwa 12 Uhr – so empfindlich trifft, berührte mich hier nur wie die melancholische Kühle eines seligen Spätherbstmittags.
Der Genuß war unvergleichlich. Es überkam die Seele die unendliche Ruhe des Gestorbenseins, die Unthätigkeit der sonst sich jagenden Gedanken und das überirdische Gefühl des stillen klaren Schauens. Wie das Bewußtsein überstandener Entbehrungen, die wir uns weislich selbst auferlegt haben, den Geist seltsam befriedigt, so die Seele der Gedanke, hier hart 49 an der Schwelle des Urwinters, umgeben von äußerster Armuth und irdischer Noth, trotzig hinaufgestiegen zu sein und in das Reich der Unveränderlichkeit zu starren. Das aber ist der Hohn der Natur, daß uns zahlreiche Wege in das Grauen des ewigen Winters offenstehen; aber ein ewig ungetrübter Frühling oder Sommer ist dem Menschen nirgends gegeben, er gehe so weit er wolle, er steige so hoch sein Fuß ihn trägt. Ich begriff, daß diese Stätte den tiefsinnigen Lord Byron einst unendlich fesseln, daß er sich hier vom Rosse werfen, sein glühendes Haupt an den kalten steinigen Boden pressen und jenen »Manfred« dichten mußte, die letzte Verherrlichung des müden Menschengeistes.