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Der Morgen brach finster und regnerisch an und von dem herrlichen Haslithal war bei diesem Wetter wenig mehr zu sehen als von einer langweiligen und geraden berliner Straße. Im Erdgeschoß des Wilden Mannes herrschte eine außerordentliche Aufregung auf Seiten der deutschen, eine stumpfe Gleichgültigkeit auf Seiten der überseeischen Reisenden. Vor der Thür unter dem breiten Dache wimmelte es von gesattelten Pferden, Trägern, Führern und Knechten, die mit schweizerischer Gemüthsruhe, vertrauend auf die Taxe ihres Landes und das sichere Gold der Fremden, den warmen dichten Sommerregen auf ihr festes Fell triefen ließen und höchst gleichgültig auf ihre fremdländischen Gebieter emporblickten. Endlich lichtete sich das Gewölk ein wenig, die Basis der Berge und Felsgruppen wurde sichtbar, und sogleich befahlen alle Touristen, die Pferde vorzuführen. Sieben dieser wackern Rosse kamen allein auf die nordamerikanische Familie des Mr. Williams aus Neuyork, der die Seinigen bis herab auf ein etwa sechsjähriges reizendes, aber zugleich ebenso selbständiges Mädchen mitgenommen hatte. Die Menschen- und Gepäckvertheilung der Yankeegesellschaft auf diese sieben tüchtigen Gäule war höchst lehrreich. Jedes ausgewachsene Individuum hatte nur eine kleine Rolle hinter dem Sattel, aber hinter jedes der Kinder war zur Ausgleichung ein gehöriger Koffer geschnallt; nur Mr. Williams, als Familienoberhaupt und Mann von fast zwei Centnern, hielt sich von schnöder Ueberfracht frei, obwol das starkknochigste Pferd die Ehre hatte ihn zu tragen.
Der Leser wird vielleicht verwundert sein, daß mir der 70 Name dieses großen Gentleman bekannt geworden, zumal die überseeischen Menschen die Söhne des Continents weder zu bemerken noch des Gesprächs zu würdigen pflegen. Ich bemerke deshalb eilig, daß der Name Mr. Williams auf allen Koffern, Schirmen und Plaids gravirt stand, daß die blasse Gouvernante aber wahrscheinlich mit dieser herrlichen Signatur noch näher, etwa wie unsere Edelschafe, von ihren Gebietern bezeichnet war.
Die nordamerikanische Familie hatte sich kaum zu Pferde gesetzt, als der Regen wieder begann und die ganze Sippschaft sofort aus den Sätteln rutschte und sich in einer Reihe im Hausflur aufstellte. Der sechsjährigen Lady mochte aber die Zeit länger als billig werden, denn sie begann plötzlich das Verlangen zu äußern, die Muße durch die Anfertigung von Seifenblasen auszufüllen. Der kleine Napoleon konnte nicht eifriger bedient werden als das Kind von Neuyork. Die Gouvernante stürzte sofort in die Küche und stellte einen Schweizerbua zur Verdichtung des nöthigen Seifenwassers an, ein Stuhl wurde herbeigeschafft und an den großen Tisch gestellt, und ein Bote augenblicklich in die Engroshandlung von Meyringen geschickt, um eine Thonpfeife zu holen. Ungewöhnlich schnell kam dieser Mercur zurück und brachte einen Pfeifenstummel, der mir länger als billig von Charakter alter Glimmstengel gewesen zu sein schien, hier aber für neu galt und auch nur einen Franc kostete. Die kleine Lady ergriff ihn, der Sohn der jungen Schweiz hielt die Schüssel, sie machte Seifenblasen, und Master wie Mistreß Williams bewunderten das Genie ihrer jüngsten Tochter. Die Bedienung des Hôtel bildete in malerischen Gruppen einen Chor der Bewunderung und bekümmerte sich weiter nicht um die sonstigen Continentalgäste, die nach Kaffee lüstern waren. Doch selbst die glücklichsten Momente auf Erden müssen am Menschen vorbeigehen, 71 die Lady warf plötzlich dem Bua die Pfeife an den Kopf, sprang vom Stuhl, gab ihm einen Stoß, daß die Seifenlauge ihm in das Gesicht spritzte, und wollte fort. Der Himmel begünstigte ihren Eigensinn, eben kam die Sonne zum Vorschein, und in Zeit von 10 Minuten sah ich die eilige Familie über die Aar jenem Felsabhange entgegenreiten, den ich gestern hinabgestiegen war.
Mir flößte das Wetter nicht ein gleiches Vertrauen ein; ich beschloß nach Interlaken zurückzukehren, berief meinen Pferdeknecht zur Auszahlung und foderte die Rechnung im Wilden Mann. Brüchi – so hieß dieser Goldmensch – erschien und erhielt für zwei Tage und den dritten, als die Zeit seines Rückwegs, 36 Francs, wobei ich ihm noch das Trinkgeld für den heutigen dienstfreien Tag mit auszahlte. Dann kam die Rechnung, natürlich in gutem Französisch, wenngleich sonst nicht das Mindeste an die Eleganz von Paris erinnert hatte; es stand sogar das Frühstück, welches ich noch gar nicht genossen, da Niemand so freundlich gewesen war es mir anzubieten, darauf verzeichnet. Dieser Köhlerglauben an meinen Appetit und guten Willen nach den Antecedentien des gestrigen Tages beleidigte mein Gefühl. Ich befahl das Frühstück zu streichen, erklärte mit einer Offenheit, die ich den edeln und einfachen Sitten des Landes entlieh, daß der Bissen verflucht sein solle, den ich in dieser »S . . wirthschaft« noch genießen würde, und wandte mich, ernst und gespenstisch, wie ein dämonisches Wesen in einer deutschen Ballade. Feierlich ging ich auf die »Krone« zu, welche wenige Schritte von dem unseligen Wilden Mann entfernt, zugleich Post- und Telegraphenstation vorstellte, löste mein Postbillet nach Brienz und erquickte mich mit einem reichlichen, saubern und überaus billigen Déjeûner. Hier herrschte das entgegengesetzte Bewirthungsprincip. Statt der Kellner bedienten die freundlichen Töchter 72 des Hausherrn die Gäste, wie sie außerdem den Post- und Telegraphendienst mit Gewandtheit verrichteten. Noch saß ich gemüthlich bei meinem Thee und wehrte nach Kräften den Fliegen, sich freiwillig in den Honig zu stürzen und den süßesten Tod zu suchen, als mein Brüchi erschien und mich fragte, ob ich nach Brienz fahren wollte. Der liebe Mensch mochte kein Engagement durch das Oberland gefunden haben und auch begierig nach seiner Heimatsruhe sein. Er bot mir deshalb an, wenn ich ihm soviel bezahlen wolle, als mein Postgeld betrug, mich bis Brienz zu fahren. Da ich ihm für den Tag bereits 12 Francs gezahlt hatte und nach dem Landesgebrauch der Kerl und sein Pferd mir noch gehörten, soweit ich auf dem Rückwege eben reiten oder fahren konnte, rührte mich diese Sitteneinfalt beinahe bis zu Thränen. Ich fragte ihn, wie viel das Postgeld, welches ich 10 Minuten vorher mit 1½ Francs bezahlt hatte, betrüge, und erfuhr, daß es gerade 2 Francs ausmache. Ohne weiter mit ihm zu unterhandeln, zeigte ich ihm den Postschein mit dem darauf vermerkten Preis, nannte ihn einen Schuft, wünschte ihm auf der Heimkehr den Hals zu brechen und bat ihn, mein Frühmahl nicht ferner durch seine gaunerische Gegenwart zu entweihen. Mit Vergnügen füge ich hinzu, daß die Leute in der Krone über Brüchi's speculativen Sinn äußerst erzürnt waren und ihn unter heftigen, mir leider unverständlichen Controversen zum Hause hinauswiesen.
Pünktlich um 9½ Uhr bestiegen wir buntzusammengewürfelten Passagiere den omnibusartigen Postwagen und fuhren bei dem freundlichen Sonnenschein auf einer trefflichen Chaussee nach Brienz. Der Hauptcharakter der Gesellschaft war außer einem berliner Rentier ein alter Schweizerführer, der sich das Vergnügen machte, sein Controlebuch zur Ansicht wie ein Album vorzuzeigen, und allerdings die trefflichsten 73 Zeugnisse vorweisen konnte. Da die Schweizerregierung mit anerkennenswerther Berücksichtigung der vaterländischen Interessen jährlich die Preise der Miethpferde je nach dem Steigen des Hafers und der wachsenden Zahl der Reisenden pünktlich erhöht, könnte sie auch wol die erwähnten Führungsbücher auf die Pferdeknechte ausdehnen, über welche, wie über die Lohnkutscher, die Klagen der Reisenden alles Maß überschreiten.
Nach einer starken Stunde langten wir in Brienz an, parirten die Finten des Wirthes, welcher uns mit einem Frühstück überlisten wollte, und mietheten für 3 Francs einen flachen Kahn, um uns nach dem berühmten Gießbach, dem jetzigen Besitzthum der Gebrüder Rappard aus Preußen, überfahren zu lassen. Man glaubt nicht, auf welcher elenden Stufe die nautische Fertigkeit der Schweizer steht. Ihre Fahrzeuge gleichen den ungeschickten Booten, welche unsere Knaben aus der Borke der Fichtenstämme schneiden. Sie sind im höchsten Grade unsicher, und müssen bei irgendwelcher Unruhe der darin Sitzenden auf der Stelle umschlagen. Bei lebhaftem Winde sind sie sofort zu Ferien verurtheilt, und Gäste zu Interlaken erzählten, daß sie bei einer aufspringenden Brise mehr als einmal am Ufer ausgesetzt worden und gezwungen gewesen seien, ihren Weg meilenweit am Ufer über Gestrüpp und Felstrümmer zu suchen. Kielboote und Segel stehen noch nicht im Marineregister der freien Schweiz.
Die kleine Strecke am Rande des lieblich grünen Sees, über dessen mächtige Felsufer südlich das beschneite Faulhorn blickte, war bei dem ruhigsten Wetter schnell zurückgelegt, und nach 20 Minuten wurden wir bei einer bedeckten Plateforme unterhalb des Gießbach-Etablissements ausgesetzt. Die Klänge eines fünfstimmigen musikalischen Bettels waren uns schon über die Fluten in mittelmäßiger, etwas hahnebüchener Melodik 74 entgegengeschwebt. Fünf nicht allzu reinliche, weder hübsche noch junge Nachtigallen des Berner Oberlandes standen um einen Pfeiler und sangen mit einer bangen Verschämtheit, die allerdings ihren Leistungen nur angemessen war, aber doch das menschliche Herz wenigstens zum Mitleid stimmte. Das übrige Schweizerpublicum bestand aus Weibern und Buben, welche ein Gewerbe daraus machten, die Habseligkeiten der Fremden in Verwahrung zu nehmen. Nachdem wir diesen Industriellen unsere Plaids, Taschen und Schirme anvertraut, stiegen wir den Fels in die Höhe.
Der breite, sehr sauber unterhaltene Fußweg gewährte nach den Strapazen der vorangegangenen Tage die anmuthigste Erholung; wir schlenderten neben dem tobend herabstürzenden Bergwasser bequem, wie in einem königlichen Park bergan. Gegenüber dem zweiten, sehr schönen Wasserfalle des Gießbach liegt das hübsche kleine Hôtel, dessen Bedienung und Waaren einen Anstrich von norddeutscher Solidität und Güte haben. Dem entsprechend zahlt der Fremdling auch als »Entrée« für die Naturscene einen halben Franc. Mein berliner Rentier, der schon die ganze Zeit hindurch die Schweiz mit allen den unnachahmlichen Redewendungen überschüttet hatte, welche das Monopol unserer geistreichen, aber stets zur Unzufriedenheit geneigten Mitbürger bilden, hatte eben mit dem Satz geschlossen: »Tausend Berliner möchte ich in diese Schweiz werfen – nur tausend wie ich – und sie würden das ganze ›Ding‹ wie einen Handschuh umkehren!« als das Dampfboot von Interlaken anlangte und einen wahren Blumenflor von reizenden Damen nebst ihren herrlichen Rittern und Knappen zu unserer Höhe emporsandte. Sie gedachten solange zu verweilen, bis das Dampfboot von Brienz zurückkam, und dann nach Interlaken heimzukehren. Der Gießbach ist eine reizende Vormittags- oder eine Wasserpartie für die Villeggiaturgäste 75 von Interlaken. Man sah die saubersten Toiletten, die rosigsten Frauenwangen, die zierlichsten Gestalten, die graziösesten Bewegungen neben den bestgedrehten Schnurrbärten und Sommer- und Reitfracks von Dusautoy vom Boulevard des Italiens, umgeben von einer wilden Natur, die eine Viertelmeile weiter nur für den Fuß des Gemsjägers und Schützen des Steinadlers gangbar erscheint. Aber trotz dieses ausgesprochenen Zaubers trug das Schauspiel etwas Ueberreiztes, ja Krankhaftes an sich. Diese ernste, wenn auch schöne Natur sah mit ablehnender Miene auf die verwöhnten und entarteten Sprossen der weichen Civilisation herab, und das harte Volk in seinen groben Kleidern, das stumpfsinnig umherstand, paßte würdiger zu dem großen und rohen Stile der gewaltigen Formen, welche wie erstaunt und ungewohnt in die Milde des schweigenden Sommervormittags schauten und sich nach Sturm, Blitz, Regen und Hagel zu sehnen schienen.
Unsere Betrachtungen mußten gemessen sein; gleich einer hungerigen Ente mit den Rädern schnatternd, kam das kleine Dampfboot von Brienz zurück, und die fashionablen Cirkel, die es sich kaum bequem gemacht, sahen sich zur Heimkehr gezwungen. Ueber Hals und Kopf eilten Alle die Windungen des Berges hinab und drängten sich an Bord. Nie hat es einen kläglichern Raddampfer gegeben. Er litt an Asthma und galoppirender Schwindsucht in seinen eisernen Lungen. Nur bei dem friedlichsten Wetter wagte sich der unglückliche, schon unheilbar krank auf die Welt gekommene, als Patient über den grünen Seespiegel. Interlakens herrliches Klima, der Phthisis so heilsam, hatte alle medicinischen Kräfte für ihn verloren; er siechte langsam unter der Führung eines Flüchtlings aus Berlin dahin. Litt er wie dieser am Heimweh? Die Frische des Sees, die Heiterkeit der glücklichen Stunde und ein alter polnischer Herr ließen uns die Qualen des 76 Dampfers vergessen. Das alte Polen hatte auf seine Kosten das Oberland-Quintett von der Plateforme für die Mittagstafel des Hôtel des Alpes engagirt und erging sich gegen mich, der ich ihm ein tückischgeneigtes Ohr lieh, in überschwänglichen Lobpreisungen der Altistin. Mir schien indessen, als ob es weniger die »musikalischen« Talente dieser Person waren, welche den Kunstsinn des Greises reizten, als sonstige Naturgaben, wie sie selbst in rohester Gestalt Alte vom Berge anziehen können. Sein Zweifel, ob es nicht passend sei, das arme Quintett gleich zur Morgenmusik in Interlaken zu behalten, bestärkte mich in meinen verwerflichen Muthmaßungen. Da schellte es am Bord, das schwindsüchtige Boot schwamm in die Aar, vom Ufer winkten mit Tüchern und Blumenbouquets schöne Damen, Kinder und Freunde – wir waren wieder in Interlaken.