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Mit wahrem Kummer trennte ich mich am nächsten Tage von der gemüthlichen Familie meines Doctors, bezahlte mit ungeheucheltem Erstaunen eine Rechnung, die so niedrig war, daß ich durch ihre Veröffentlichung wahrscheinlich dem Gastfreunde ein gewaltsames Ende unter den Händen der Gastwirthe seines Vaterlandes zuziehen würde, und begab mich, begleitet von der ganzen Familie, deren Oberhaupt sich zudem noch wegen der »Höhe« der Rechnung entschuldigte und künftig den »Pensionspreis« viel billiger zu stellen versprach, nach dem Hôtel Zur Eintracht. Hier stellte ich mich wieder freiwillig unter das Joch der üblichen Schweizerpreise und zahlte sofort für zwei Cigarren aus der pfälzischen Familie der Stinkadores (es war die beste Sorte des Hôtel) nicht mehr als einen Franc. So setzte ich mich denn, den ersten dieser Verpestungsstengel rauchend, auf eine Bank an der Schiffbrücke hinter dem Hause, erwartete das Dampfschiff nach Luzern und beobachtete zum letzten mal die Eigenthümlichkeiten des Hôtel. Nie habe ich einen merkwürdigern Aufenthaltsort für reisende Zwei- und Vierfüßler kennengelernt. Tag und Nacht standen Thüren und Fenster offen, früh und spät schauten aus letztern Touristen in Hemdärmeln, und unaufhörlich tönten aus seinem Innern begeisterte Lieder. Wer in diesem Hause wohnte, schien aus freien Stücken in den unaufhörlichen Preisgesang der »Eintracht« einzustimmen, und doch war es schwer begreiflich, durch welches magische und geheime Mittel die Eintracht eigentlich aufrechterhalten wurde, denn das Verfahren des Wirths und seines blankknöpfigen Kellners säete streng genommen nur »Zwietracht« aus. Aber der Segen des 115 Himmels ruhte auf dem Hause, wer einkehrte, entschlug sich aller Rachegedanken, dachte nicht mehr an Ohrfeigen für die herrschende Schmuzerei und Liederlichkeit, aß genügsam was aufgetragen wurde, trank zufrieden des Ortes Säure und sang Tag und Nacht fröhlich mit. Eben wurden im ersten Stock französische Chansons, im zweiten »Was ist des Deutschen Vaterland?«, im dritten »Irische Melodien« von Thomas Moore vorgetragen, und eine schöne Bankiertochter aus Berlin flötete außerdem unter einem Zeltdache: »Kein Feuer, keine Kohle brennt je so heiß.« Mein Herz wurde schwer, mein Auge trüb vor aufsteigenden Thränen; hätte ich einem innern heißen Drange nachgeben können, ich wäre in das Haus geeilt, hätte den Wirth nebst seinem Kellner herausgeholt und mit ihnen das Räuberlied von Schiller, die große Arie des Fra Diavolo oder etwas Aehnliches »zur Situation« Passendes im Freien gesungen. Schon fühlte ich den seltsamen Einfluß des Hauses, und wäre nicht das Dampfboot als ein fernes Pünktchen auf dem Spiegel des Sees erschienen, ich säße wahrscheinlich noch heute in der »Eintracht« am Fuße des Rigi und bildete mein Organ in feierlichen Lobgesängen aus. Sobald aber das Schiff seine Glocke gezogen und angelegt hatte, mußten alle sanftern menschlichen Regungen, alle romantischen Sehnsüchteleien verstummen; einen letzten Blick warf ich noch auf den Hauptsänger unter dem Dache, einen schwarzbärtigen Wilden in einem mit großen rothen Blumen bedruckten Oberhemde, und ließ mich dann willenlos von der Sturmcolonne der Touristen an Bord drängen. Der Gesang der für die Eintracht Begeisterten verhallte, die helle Kirchenglocke von Wäggis rief uns einen freundlichen Abschiedsgruß nach, und wenige Minuten darauf gewann das lärmende Charivari des Dampfboots und das monotone Plätschern seiner Räder die 116 Oberhand über die in der Ferne verklingenden Rufe der Poesie und des Humors.
Am Bord bestanden die Hauptbeschäftigungen dieses Vormittags in Viehhüten und Fechten. Ersteres fand in ländlich-sittlicher Weise und Würde auf dem zweiten, letzteres zwischen einem englischen Offizier und seinen beiden Jungen auf dem ersten Platze statt; aber es erhöhte nicht das Vergnügen der zusammengepreßten Reisegesellschaft, bis endlich ein unerwartetes Ereigniß die Gladiatoren in Ruhe, die Hirten aber in die gefährlichste Aufregung versetzte. Auf dem zweiten Platze befanden sich nämlich zwei edle Pferde, die sich schlechterdings nicht wie die anwesenden Ochsen, Kühe und Kälber der Schiffsordnung bequemen wollten. Schon seit einer Stunde hatten sie ihren Wächtern unglaublich zu schaffen gemacht, als das Muthigere von Beiden sich plötzlich vom Zügel losriß, gewaltig bäumte und dabei hintenüberschlagend in das Wasser stürzte. Der Besitzer, in der Besorgniß, das edle Thier könne unter die Räder gerathen, da es im Instinct der Selbsterhaltung sich schwimmend hart am Schiffe hielt, rannte verzweifelt hin und her und rang die Hände, die Maschine wurde gestoppt, ein Boot ausgesetzt und der Versuch gemacht, sich des Pferdes zu bemächtigen. Allein das feurige Geschöpf widersetzte sich selbst jetzt noch, und erst als vom nahen Ufer aus ein kleines Geschwader zu Hülfe eilte, gelang es, den Marinedilettanten einzufangen und in anscheinender gänzlicher Erschöpfung an das Land zu ziehen, wo er indessen nach wenigen Minuten wieder aufsprang und, als ob nichts vorgefallen wäre, aus Leibeskräften mit allen Vieren ausschlug.
Es versteht sich von selbst, daß fernerhin am Bord nur Pferdegeschichten in mehren lebenden Sprachen erzählt wurden, daß der Besitzer des Pferdes als Mann des Tages erschien, und alle Perspective nur auf das in Sicherheit gebrachte Thier am Lande gerichtet blieben. So kamen wir glücklich nach Luzern, schifften das im Trockenen gebliebene Pferd unter allgemeiner Theilnahme aus und suchten in einem Hôtel ein Unterkommen zu finden.
Die Einwohnerschaft des in der neuern Geschichte so berüchtigt gewordenen Orts der Bürgerkriege und räthselhaften Criminalgeschichten schien mir im ersten Augenblick ausgewandert und der Ort von einer berliner Emigrantencolonne besetzt zu sein. Aus allen Hôtelfenstern schauten bekannte Gesichter, ja auf einer kurzen Promenade am Seeufer vor den prachtvollen Gasthofspalästen entdeckte ich selbst mehre Persönlichkeiten, welche eine berliner Zeitung gleich unter ihre Notabilitäten gerechnet hätte, z. B. den wackern Friedrich Förster, der (nicht mit seinem gewohnten frischen Humor) eine Tasse Kaffee im Freien zu erwischen suchte, die indessen bei diesen intelligenten Republikanern, trotz ihrer Nachbarschaft mit Italien, nicht zu erlangen war. Einen andern renommirten Herrn sah ich auf einer Bank am See sitzen und mit göttergleicher Ruhe, durch einen Regenschirm gegen die Sonnenstrahlen geschützt, die Kreuzzeitung lesen. Er schien sich an ihren schmächtigen Spalten zu laben und in die kühlen Schatten der Dessauerstraße zurückzuträumen, nahm mehrmals lächelnd Prisen und trommelte dann mit fetten weißen Fingern auf der goldenen Dose.
Ein sich meiner erbarmender Kellner brachte mich im Hôtel Rigi, vier oder fünf Stock hoch, in einem freundlichen Zimmer unter, von dessen heiterer Höhe aus ich einen unumschränkten Blick auf die alten Befestigungen und Thürme von Luzern thun konnte. Es litt mich indessen nicht im Zimmer, ehe ich den berühmten Löwen von Luzern gesehen hatte. Nach einer kaum nennenswerthen Promenade stand ich vor dem vielbesprochenen Monument, welches seiner Tendenz nach von 118 jedem Andern passender als gerade von den Schweizern selber errichtet worden wäre. Zum Andenken an die bei den wiederholten Angriffen auf die Tuilerien im Jahre 1792 gebliebenen schweizer Soldtruppen gegründet und mit der Inschrift »Helvetiorum fidei ac virtuti« versehen, ist es nichts als ein Denkmal zur Verherrlichung des Eides tapferer Lohnsoldaten, welche, obwol für ihre Personen anderweitiger Ueberzeugung huldigend, zum Nutzen eines absoluten Fürsten laut Contract vom Leder gezogen haben. Die Nachwelt wird auf ihren Reisen vielleicht an einer andern Stelle der Schweiz ein Denkmal zu Ehren einer im Dienste des Königs von Neapel gefallenen Schar zu besuchen genöthigt sein. »Haec sunt nomina eorum, qui ne sacramenti fidem fallerent, fortissime pugnantes ceciderunt«, lautet das ausführlichere Epigramm auf diesem gewaltigen Erinnerungsstein, nicht der edeln freigewagten That, sondern des zähen militärischen Aushaltens des Todes auf dem Soldbeutel, der stummen Fügsamkeit in die Consequenzen eines halbverrückten Commandos. Heute lägen sie doch Alle im Grabe und jeder Tod für eine abstracte Idee wirft auf den Gefallenen einen Strahl von der überirdischen Glorie, welche die dichterischen Träume von Treue, Gehorsam und Aufopferung seit Anbeginn der Welt verbreitet haben.
Den Todten sei darum das großartige Mausoleum der Disciplin gegönnt, denn unbedingt großartig ist es in seiner Ausführung und in der poetischen Situation. Nicht wie von modernen Menschenhänden in den Stein gearbeitet, sondern wie das Werk einer halbvergessenen Vergangenheit liegt der sterbende Löwe, dessen gewaltigen Leib ein abgebrochener Lanzenschaft durchbohrt, in seiner Nische, und die verwitternden Namen und Inschriften auf der grünlichgrau geglätteten Felswand erhöhen den ehrwürdigen Eindruck der Alterthümlichkeit. 119 Zur Rechten des Beschauers aber sickert von der steilen Felswand ein zarter Quell über die Buchstaben und umspannt sie, niedertriefend und jene leise Trauermelodie lispelnd, welche die menschliche Imagination den um Grabsteine murmelnden Wassern beilegt, mit einem feuchten Moossaume. Das feierliche Bild selbst trennt, außer einem eisernen Gitter, das von der Quelle gebildete trübe unbewegte Bassin, auf dessen Oberfläche sich lautlos die welken Blätter der umstehenden hohen Bäume gleich Opfergaben der mitleidig theilnehmenden Natur sammeln. Das Werk ist aus einer Idee Thorwaldsens hervorgegangen und bringt die erhabene Wirkung einer großen Tragödie der Sculptur hervor. Hart neben ihr hat sich der Humor in der Person des Wächters, angeblich des einzigen, dem Gemetzel entwischten französischen Soldaten, eingenistet. Er soll als Kind Anno 1792 den Posten eines Tambours bekleidet haben und deshalb später mit der Ehrenstelle eines Monumentportiers bekleidet worden sein. Auch trägt er merkwürdigerweise noch die Uniform der Schweizergarde, welche mit ihm gewachsen zu sein scheint, und beherzigt die Verse, welche Horaz an seinen Freund Torquatus schrieb:
Immortalia nec speres, monet annus, et almam
quae rapit hora diem.
Die Unsterblichkeitspedanten der Stätte, die Eingriffe der Zeit und der Wechsel der Stunde kümmern ihn weniger als die Francsstücke der Fremden, auf welche er mit edelm kriegerischen Anstande und schöngewichstem Schnurrbarte speculirt. Es liegt etwas von einem illustrirten bourbonisch verklärten Schmerz in seiner Physiognomie, und wenn er den Besucher in sein links etwas höhergelegenes Häuschen führt, auf das Denkmal deutet und das Geschenk höflich dankend in die Tasche steckt, glaubt man in seinem Mienenspiele den heitern Gedanken 120 zu lesen: »Möglicherweise könntest du auch in dem Soldatenregister dort genannt sein, allein es ist besser ein lebendiger Hund zu sein als ein sterbender Löwe!« Ich hatte noch nie einen Greis gesehen, in dem Natur und Kunst gleich geschickt miteinander gemischt waren und sich schwerer auf ihr Maß zurückführen ließen; der Wächter war durchaus ein schweizerisches Problem.
Gegen Abend durchstreifte ich die saubere, aber höchst schwermüthige Stadt. Mächtige mit Strichregen beladene Wolken tummelten sich in der Höhe und wechselten mit lieblichen, über tiefes Himmelblau streifenden warmen Blicken der sich senkenden Sonne, in den Straßen lagerten sich starke Schatten, und aus den weiten leeren Thorhallen vieler großen Häuser grinste schauerliches Dunkel. Ich lehnte mich auf die steinerne Balustrade der Reuß und sah in den vorüberschießenden Azur der Flut hinab. Obgleich entzückt von dem Schauspiel und der Landschaft, überfiel mich jenes Gefühl grenzenloser Einsamkeit und todesbangen Verlassenseins, das wol Jeder einmal in einer ganz fremden Stadt an einem Sonntagabende kennengelernt hat. Als ob ich wie Johannes Parricida im »Tell« von der Reuß sagen könnte: »Sie floß bei meiner That!« sprang ich auf, warf mich in die Gassen und suchte eine menschliche Zerstreuung, eine Musik, eine Komödie, ein Puppenspiel – in diesem Zustande hätte ich selbst den »Graf von Monte-Christo« noch einmal lesen können: es gibt ja verzweifelte, räthselhafte Varianten in dem Codex der Seele. Soviel ich jedoch suchte, es fand sich nichts, es sei denn, ich hätte mir zur Vertreibung meiner Hypochondrie einen Pfefferkuchen, eine hölzerne Pfeife oder einen Riemen zum Zuschnallen des Plaid kaufen wollen. Es gab in Luzern gar kein Sonntagsvergnügen; die Stadt war offenbar der Musterort für die Anhänger einer strengen Sabbathfeier. Ich fand 121 nicht einmal einen bereitwilligen Mann, der für Geld und gute Worte ein Stück Holz in die Reuß geworfen und es durch seinen Hund hätte herausholen lassen; es wäre doch eine anständige erlaubte Zerstreuung und dem Hunde nicht zur Last zu legen gewesen! So begab ich mich denn mit der Ergebung eines reisenden Märtyrers nach der Post, die zum Glück als ein aufgeklärtes und geldverdienendes Institut nicht von der sonstigen strengen Disciplin Luzerns betroffen wurde, und löste ein Passagierbillet für den folgenden Tag nach Zürich.