Ernst Kossak
Schweizerfahrten
Ernst Kossak

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12.
Gesellschaftsstudien.

Wer aus dem Berner Oberlande heimkehrt, weiß erst die Bequemlichkeiten von Interlaken gehörig zu schätzen. Nachdem ich, begleitet von einem Knaben Gehasi, deren stets ein halbes Hundert zu Diensten der Fremden steht, mich und mein leichtes Gepäck wieder in der guten Pension untergebracht, trachtete ich aus gerechtfertigten Gründen nach einem Bade. Es gibt in Interlaken zwei öffentliche Institute dieser Art. Das erstere liegt an der obern Aarbrücke und gehört in die Kategorie der sogenannten Schreckbäder. Bekanntlich eignet sich dieses Genre nicht für jede Nation und Constitution, man muß geborener 77 Russe und ausdrücklich in Eiswasser getauft sein, um an dem Sprunge in die grüne Aar, deren Temperatur nur einige Grade über Null steht, Wohlgefallen zu finden. Das kalte Aarbad ist das Monopol jener Nervenrenommisten, jener Percys des Wassers, die über Verweichlichung klagen, wenn sie nicht alle Morgen den schrecklichen Mordschauer der Prießnitzianer genossen haben. Nicht anspruchsvoll genug, um ein solches Wagniß zu unternehmen, seit drei Tagen auch mehr geeignet zu scheuern als zu schauern (zwei Verba, die für ein gewisses Berlin ganz identisch sind), begab ich mich in die warmen Bäder an der untern Aarbrücke.

Nachdem ich um das in einem kleinen verwilderten Garten gelegene alte Haus gewandelt und Niemanden gefunden hatte, nachdem auf meinen bangen Hülferuf ebenso wenig eine menschliche Stimme geantwortet, ahmte ich dem bekannten blinden Schimmel in der Ballade nach und zog, wenn auch nicht wie mein unsterbliches Vorbild mit den Zähnen, eine große Glocke. Kaum erschallte ihr feierlicher Klang, als aus Ställen, Fluren und Fenstern plötzlich eine Anzahl Menschen blickte, woraus ich schloß, daß ich den großen Bourdon der Abfütterung, die Melkglocke oder den Hauswecker gezogen haben müsse. Da indessen in meiner Haltung nichts lag, was mich in den Verdacht des Wunsches bringen konnte, zu essen, aufzustehen oder gemelkt zu werden, näherte sich mir eine Schweizerin und fragte nach meinem Begehren. Kaum war mein offenes Geständniß erfolgt, als mich die Dame in ein großes niedriges Gemach führte und sich entfernte. Anfangs war ich geneigt, diesen Raum für das Wartezimmer des Instituts zu halten; allein bald entdeckte ich zwei Gefäße, welche mir den Verdacht einflößten, ich könnte mich doch wol in einer Badestube befinden. An den Wänden standen zwei kleine viereckige Kästen von der Größe mäßiger Kindersärge ohne Deckel, an deren linker Seite 78 zwei Hähnchen, die nur ein wenig dicker waren als die Stiele von Thonpfeifen, aus der Wand hervorragten. Der Raum für das zu dieser Badefolter verurtheilte Geschöpf wurde noch durch einen dicken verrosteten Draht beschränkt, dessen Handhabe am Kopfende des Kastens dazu bestimmt war, das Wasser abzulassen. Bald erschien die Dame mit zwei Handtüchern, drehte die Hähnchen und bat mich um ein wenig Geduld. In Verlegenheit gesetzt durch die Kleinheit der mir zugedachten Wanne, machte ich sie auf das unzureichende Format des Bades aufmerksam, erhielt aber nur zur Antwort, daß alle übrigen Zimmer besetzt seien, ich auch gar keinen Grund zur Klage habe, da mir ja zwei Wannen zur Disposition gestellt seien, die Kosten aber nur den tarifmäßigen Franc betrügen. Dagegen ließ sich nichts einwenden; ich zahlte höflich und kroch in die elende Wanne, die ich so genau ausfüllte, wie die Schnecke ihr Haus. Während ich das Aarwasser, dessen köstliches Fluidum ganz dieselbe atlasartige Geschmeidigkeit der Thermen von Gastein und Wildbad besaß, auf mich wirken ließ und darüber speculirte, ob die Wirkung jenes berühmten Bades nicht lediglich der großen Reinheit des Wassers, deren auch die Fluten aller aus geschmolzenem Schnee entstandenen Ströme unfern von ihrem Ursprunge theilhaftig sind, zuzuschreiben sei, fiel mir die berner Regierung ein. Wenn ihr Princip ist, daß Interlaken niemals zu einem gemeinen Badeorte erniedrigt werden solle, könnte sie doch mehr für die Anstalten der Reinlichkeit sorgen, als sie dieses Bad gewährte. Hier wo die reichen Leute Europas während dreier Sommermonate ihre Villeggiatur beziehen, existiren nicht einmal Vorrichtungen von der demüthigen Bequemlichkeit der Badestube in dem Zellengefängnisse von Moabit bei Berlin. Ein norddeutscher Unternehmer würde hier in wenigen Jahren ein reicher Mann werden; aber die Schweizer sind so eifersüchtig auf ihre klügern und 79 gewerbfleißigen Nachbarn, daß jedem fremden Industriellen die größten Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden würden. Man peinigt lieber die Gäste mit altfränkischen und elenden Einrichtungen, ehe man das triviale Schutzsystem zu Gunsten der Landeskinder aufgibt. Gleiches gilt von der Zubereitung der Molken. Von allen Seiten wurde mir geklagt, daß sie ihrer abscheulichen Säure wegen kaum zu genießen seien. Und solche Beschwerden muß man in einem Landstriche hören, der die herrlichsten Alpenweiden Europas in sich schließt. Die Molken von Reinerz, Ischl und Kreuth wurden bei weitem dem schweizerischen Gebräu vorgezogen.

Nachdem ich Toilette gemacht, lungerte ich nach Ortsgebrauch in dem Garten der Pension umher und hörte die gewöhnliche Kritik der einzigen Jungfrau an, deren Toilette nicht den Spott oder Neid der anwesenden Damen erregte. Die Pension hatte ihre Gäste zum Theil gewechselt, und eine neueingezogene aus dem Hôtel des Alpes übergesiedelte Insulanerin beschäftigte die Gesellschaft ausschließlich. Unter dem großen Nußbaum vor der Thür sprach man nur von Miß Nelly; im Garten, wo eine ewige Whistpartie blühte, schwärmte man für Miß Nelly; vom Balkon tönte als Seufzer »Miß Nelly« herab, und im Gartenhause sang ein junger Franzose ein von ihm componirtes, aber höchst kunstloses Lied zu Ehren der Miß Nelly. Ich machte mir Vorwürfe, durch einen Ausflug in das Berner Oberland ein so wichtiges Ereigniß, als die Ankunft der Miß Nelly, versäumt zu haben.

Von wem sollte ich erfahren, wo diese Helena von Interlaken sei; ich entschloß mich, die schöne Malwine, die einzige mir näher bekannte Dame zu befragen. Wo anders als am Hofe einer Königin der gestickten Unterröcke konnte ich auf unparteiische Auskunft rechnen. Ich fand die Gemahlin des 80 berliner Assessors auf dem Balkon, einsam, vernachlässigt, mit einem Romane der Currer Bell in der Hand. Eine Dame, die ihr Buch nicht unmittelbar an der Landstraße eines Badeorts liest, hat gegründete Ursache mit dem männlichen Geschlechte zu grollen.

»So einsilbig, meine Reisegefährtin?« begann ich den Dialog.

»Ich habe Zahnschmerzen!« antwortete Malwine und legte das Buch hin.

»Welche Veränderungen sind hier eingetreten?« fuhr ich fort; »ich finde nach meiner kurzen Abwesenheit eine totale Umwälzung, eine empfindliche Störung der gewohnten Ruhe; die ältern Damen sind zu einem Kriegsrath versammelt, die jungen Damen brüten, jede für sich, über Rachepläne, alle Herren sind aufgeregt, aber heiter, der berliner Balneologe hat zum ersten male ein reines Hemde angelegt, und der lange Stadtgerichtsassessor läßt die Schnur, mit der er die jungen Katzen des Hauses zu vergnügen pflegt, diesen immerwährenden Begleiter seines schweizer Aufenthalts, ungewöhnlich kokett zu seinen Füßen spielen – was ist geschehen, Verehrte? – ich flehe Sie an, befriedigen Sie meine Neugier!«

»Ach, ich sterbe vor Langeweile!« gab die Schöne zur Antwort, ohne meine Fragen zu beantworten.

»Dann bleibt mir nichts übrig, als mich an ihren Gemahl zu wenden«, sagte ich und wollte gehen.

»O, der Treulose!« seufzte Malwine, und ergriff wieder den Currer Bellschen Roman.

»Sollte auch er? – Miß Nelly –« wagte ich zu flüstern.

»Das kokette Geschöpf!« rief Malwine erröthend. Ich wußte genug und verabschiedete mich, da einige Herren mit Bouquets erschienen, welche zu Ehren Miß Nelly's und um 81 ihr Couvert bei Tisch zu zieren, weit hergeholt worden waren. In diesem Moment erschallte die Eßglocke; es war 4 Uhr, und die zweite Table d'hôte begann. Als ich in den Saal trat, fand ich ihn für diese Eßstunde ungewöhnlich gefüllt. Die Mehrzahl der Herren, insoweit sie unverheirathet oder ohne die Hausfrauen auf Reisen waren, schien plötzlich eine späte Eßzeit liebgewonnen zu haben. Ich wurde als Letzter, weit vom Throne Miß Nelly's, an den Grenzen ihres Reiches placirt. Allgemeine Spannung – geheimnißvolles Tuscheln – endlich öffnete sich die Glasthür und die Königin des Tages erschien in Begleitung ihres Bruders. Sie war von der stattlichen Figur der Viereck, aber zarter und graziöser, und ihre blauen Augen besaßen einen Schimmer, der selbst die Nebel ihres Vaterlandes erleuchten konnte; ich fand die Exaltation der Pension natürlich und verzeihlich. Aber die schöne Miß nahm wenig Notiz von den ungeschlachten Bemühungen ihrer Nachbarn, einen Blick dieser herrlichen Augen zu erobern; auf ihrer Stirn lagerten Sorgen, und meine Lorgnette, die ich quer über die Länge der Tafel unbemerkt anwenden konnte, verrieth mir die Geheimnisse dieses anziehenden Wesens fast ausführlicher als die Gestalten ihrer Mutter und Schwester, die auf dem Wege einer Menschenanleihe von ihr erworben schienen. Miß Nelly war kein unerfahrenes Vögelein, wie es der gläubige Dichter besingt. So mächtige und feste Augen, umschattet von einer reizenden und geübten Schwermuth, eine so welterfahrene Haltung, diese sanft umwölkte Marmorstirn, um die sich das hellbraune reiche Haar in Fülle schlang, plauderten von großen Erfahrungen, vielleicht von einer geheimen Geschichte, von Memoiren des Herzens oder des speculirenden Verstandes; ich hielt im Stillen Miß Nelly für eine jener Zauberinnen vom Stammbaum der Circe. Neben mir saß ein alter Herr, Berliner, wie sich von 82 selbst versteht, eine neuere Ausgabe des seligen Herrn von Treskow, ein Mann, begabt mit der Travestie jenes Wissensdurstes, der Alexander von Humboldt über Meere und Berge jagte, um die Natur zu ergründen; mein Nachbar durchforschte jedoch nur die Natur, insofern sie »Klatsch« war. Nur eines vorsichtigen Blickes von der Seite bedurfte es, um ihn redselig zu machen. »Hübsches Mädchen – das!« schmunzelte das graue Berlin.

»Hm!« antwortete ich nur, meines Mitbürgers Eigenthümlichkeit beachtend. Er verstand diesen mystischen zweifelnden Laut, legte das Messer hin und sagte: »Hat Unglück gehabt mit einem kleinen deutschen Fürsten – ist jetzt hier, um einen reichen Russen zu heirathen – hat ihr im Hôtel des Alpes sehr die Cour gemacht, der Russe ist aber eifersüchtig – Heirathsantrag wird stündlich erwartet – Russe trägt nicht sein eigenes Haar – ist Fürst der Russe – unter einen Fürsten heirathet sie nicht!« Die Aufwärterinnen brachten Fisch, und mein alter Berliner beschäftigte sich jetzt nur mit diesem unglücklichen Sohne des Thunersees.

Beim Braten ergriff er wieder das Wort und bemerkte: »Heute Ball bei den Engländern – gehen Alle hin ohne Entrée – Puddings tanzen drinnen – wir sehen von außen durch die Fenster.«

»Woher bekommen denn die Engländer ihre Damen?« konnte ich nicht umhin ihn zu fragen.

»Viele deutsche Väter hier – junge heirathslustige Töchter anbringen – denken, werden Engländer heirathen – lauter Pfefferkrämer – kein Lord, lauter Mob!« stammelte und kaute mein Mitbürger. O, der Mensch steigt mit seiner Qual auch auf die Berge; ich sah es wohl, stand auf und verließ den Saal und die lärmende Heerde der schönen Engländerin. Mich dürstete nach Natur, nach Unverdorbenheit!

83 Draußen herrschte tiefer Frieden, ich wandelte ein wenig auf und ab und setzte mich auf die steinerne Ballustrade am Rande jener köstlichen Wiese, dem Smaragd in dem Diadem von Interlaken. Die Jungfrau blickte mit ihrer unsterblichen Gelassenheit aus der frostigen Höhe in das Thal auf die lächerlichen Menschen herab; plötzlich überraschte mich ein göttliches Gelächter im Baß, das aus dem ersten Stock des gegenüberliegenden eleganten und neuen Chalet kam. Es rührte von einem derben, kleinen rothnasigen Herrn her, der auf dem Balkon bei Tische saß, den Rock ausgezogen, das Halstuch abgelegt, die Weste aufgeknöpft und die Serviette um den Hals gebunden hatte, damit alle diese Garderobegegenstände ihn nicht am Essen und Einschenken des Champagners hindern sollten. Zu seiner Rechten und Linken saßen zwei Damen in der Nationaltracht des Oberlandes, reich behangen mit den üblichen silbernen Ketten, und ihm gegenüber kokettirte eine dritte Grazie. Um den Anstand einigermaßen zu retten, hielt sich an einer abgelegenen Küste des Tisches ein bleicher ausgewaschener Jüngling auf und aß mit Heißhunger.

Die Gesellschaft reizte meine Neugier und es war mir im hohen Grade willkommen, daß meine berliner Allwissenheit eben vom Essen kam.

»Wer ist der Herr dort auf dem Balkon?« fragte ich ihn rasch.

»Ah«, rief mein Alter und nickte mehrmals ironisch betrachtend den Kopf, »französischer Komiker aus Paris – reiches liederliches Ungeheuer – hat sich zur Ruhe gesetzt – drei Frauenzimmer aus der hiesigen Gegend engagirt – wohnen bei ihm – großer Lebemann – echter Franzose – kann Alles für baar Geld haben!«

»Drei Schweizerinnen?« fragte ich ein wenig entsetzt.

»Drei – baar bezahlt!«

84 »Und der junge Mensch?«

»Anstandslouis – weiter nichts!« antwortete mein Cicerone und setzte sich zu mir, mit unendlicher Zufriedenheit den pariser Komiker betrachtend, der eben einen vortrefflichen Witz über uns gemacht zu haben schien, denn die freien Schweizerinnen lachten über den freien Mann aus vollem Halse. Ich hatte genug Erfahrungen gemacht. Es stand schlecht mit jener Einfachheit der Sitten und der frommen Einfalt, die ich zur Ausfüllung der Sommerferien so sehnsüchtig gesucht, und der andere Morgen, als Termin der Abreise, erschien mir nicht zu früh gewählt.


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