Ernst Kossak
Schweizerfahrten
Ernst Kossak

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13.
Der Brünigpaß.

Es ist im Hochsommer leichter, die Einsamkeit in den Straßen einer großen Stadt als in den Thälern der Schweiz zu finden. Das im Süden so überaus beständige und den Reisenden günstige Wetter des vorigen Jahres hatte eine Anhäufung von Menschenmassen hervorgebracht, welche einem jener Völkerstürme zu vergleichen war, von denen das sinkende Rom soviel zu erzählen wußte. Mit Recht hat man sich über den jährlichen Füllsel Helvetiens, die wandernden Colonien Englands, beklagt, allein auch Deutschland stellt sein gehöriges Contingent von gelangweilten Touristen, um die großen Reisestraßen und die sehenswürdigsten Punkte der Schweiz mit allen den Unbequemlichkeiten und Rücksichten zu umgeben, welche uns in den Salons der berliner Gesellschaft oft so lästig fallen.

85 Als ich am nächsten Morgen im tiefen Gebirgsnebel Interlaken verließ und mit wenigen Passagieren über den Brienzersee nach dem Brünigpaß fuhr, um noch an demselben Tage den Vierwaldstättersee und den Fuß des Rigi zu erreichen, hatte ich noch keine Idee davon, daß diese Reise, natürlich die landschaftliche Umgebung abgerechnet, hinsichtlich der Gesellschaft kaum etwas Anderes als eine Sonntagspromenade unter den Linden sein würde. Selbst bei dem herrlichsten Wetter würde ich deshalb nicht rathen, auf der Tagereise von Brienz über Lungern nach Beckenried einen guten Hut mit fester Krempe aufzusetzen. Der Ruin meines eigenen, höchst leichtsinnig in Anwendung gebrachten, und noch vor Abend vollständig »zuschanden gegrüßten« Filzes veranlaßt mich zu dieser freundschaftlichen Ermahnung.

Die Morgensonne hatte sich noch nicht durch die wüsten Nebel gekämpft, und die Natur sah wie eine schlechte verwischte Bleistiftzeichnung aus, als ich in Brienz das einzige Pferd des Gasthauses, ein junges Thier, dessen Lieblingsbeschäftigung darin bestand, mit beiden Beinen nach den Stechfliegen auszuschlagen, für meinen Gebrauch engagirte. Im Speisesaal saß ein magerer, etwas deutschsprechender Engländer, der seinen Sohn mit den Fragmenten eines von ihm zu drei Vierteln verzehrten Eierkuchens und einigen Tassen Kaffee besänftigte. Gleich aus den ersten Phrasen erkannte ich, daß mir hier ein Exemplar jener Species, welche am passendsten mit dem Ausdruck »Meilenfresser« bezeichnet werden dürfte, in den Weg gekommen sei. Das touristische Phänomen und sein Junges waren grau bis zum Exceß gekleidet, und sahen vollständig wasserdicht aus. Das Alle versicherte mich, daß es jährlich mit seinem Jungen einen großen Abschnitt der Schweiz zu Fuß zu durchreisen pflege, und lehnte mein artiges Anerbieten, Beide bis an den Fuß des Brünig 86 in meinem Wäglein mitzunehmen, mit einem sehr entschiedenen »No, No!« ab. Das Junge warf mir einen triumphirenden Blick zu und meinte, wir würden, trotz Wagen und Pferd, uns schon am Tage wiedertreffen, und das Alte nickte bedächtig mit dem Kopfe und sang dazu vernehmlich: »Yes, Yes!«

Nach kurzem Abschied überließ ich das Meilenfresserpaar den Freuden der ersten Fütterung und gelangte im raschen Trabe des jungen Braunen in kurzer Zeit an den Fuß des Passes. Schnell war der Sattel aufgelegt, der Wagen in eine Felsecke geschoben und gemach ging es den steinigen Pfad bergan. Anfangs war der Weg wenig belebt. Außer einigen Ziegen, die sich übten die Gemsen zu copiren und auf scheinbar unersteigliche Felsblöcke geklettert waren, von denen sie freundlich und neugierig herabmeckerten, war nichts Lebendiges zu sehen. Kaum hatte ich aber das sogenannte Wirthshaus kurz vor der Höhe des Passes erreicht, als sich die Scenerie belebte. Zwei Berliner saßen bei einem Glase Milch und bewunderten den Zuchtstier (Muni) des Wirthes. Dieser Koloß wurde eben von drei kräftigen Männern einen Felssteig heraufgeführt und brummend in einen unverhältnißmäßig kleinen Käfig gesperrt. Der Gefangene sah sehr misvergnügt aus und schien die Trennung von seinen zahlreichen Gemahlinnen, die auf den nahen Matten weideten, sehr übel zu empfinden. Auch die beiden Berliner verfehlten nicht, ihre Condolenzbemerkungen zu machen, und den Jüngern hörte ich ein wenig anzüglich zu dem Aeltern sagen: »Weißt du Abraham, wie sie dich am letzten Sylvesterabend bei Kroll auch so aus dem Saale brachten?«

Gleich hinter dem Vater der Heerde kamen hoch zu Roß zwei berliner Damen in Begleitung eins jungen, ohne Zweifel herzoglich sächsischen Herrn, von Meyringen herauf und zeigten 87 sich sehr ungehalten über die kurze Rast, zu welcher ihre Pferdeknechte sie nöthigten. Die liebenswürdigen Geschöpfe begriffen nicht, daß die Ruhe den schweißtriefenden Thieren nöthiger sei als ihnen, die bequem im Saumsattel lehnend, mit Fächer und Reitpeitsche sofort einen Austausch von Blicken mit den beiden erstgenannten Herren begannen. Ein fleißiger Theatergänger lernt nach und nach alle jene Gesichter kennen, welche den ersten Liebhaberinnen des Parquet gehören, und ich glaubte, als ich diese geheime und dem jungen sächsischen Herrn durchaus unverständliche Vereinbarung zwischen den patriotischen Parteien bemerkte, im berliner Schauspielhause zu sitzen, und statt der wirklichen Berge des in der Tiefe liegenden Haslithals nur die Decoration des »Sonnenwendhof« oder des »Tell« von Schiller vor mir zu sehen.

Eilig machte ich mich auf und erschrak eben über einen höchst unbequemen Sprung meines Braunen, den die Fliegen im höchsten Grade genirten, als mir um den nächsten Felsvorsprung ein alter Herr zu Pferde entgegenkam und den Zügel anhaltend mich freundlich um Feuer bat. Ich erkannte einen liebenswürdigen Commerzienrath aus der Leipziger Straße. Der treffliche Mann saß in einem Damensattel und bemühte sich vergebens, mittels eines Luntenfeuerzeugs seine Cigarre in Brand zu stecken. »Ich kann mit diesen Achatsteinen nie Feuer anschlagen, können Sie mir nicht ein paar Schwefelhölzchen mit auf den Weg geben?« fragte der Würdige. Mit Vergnügen theilte ich meinen Vorrath mit ihm, und vor Freuden drang er mir eine Handvoll trefflicher Upmans aus seiner Satteltasche auf, die mit dem eben von mir gerauchten schwarzen »Rattenschwanze«, wie die Schweizer in richtiger Erkenntniß diese populäre ländliche Sorte nennen, einen wahrhaft erschütternden Contrast bildeten.

»Auf Wiedersehen, Doctor!« waren seine letzten Worte, 88 der Knecht führte mein Pferd vorüber und der Commerzienrath verschwand zwischen dem Laube einiger Birkengebüsche.

Die Gegend, welche bisher nur einen beschränkten Prospect geboten hatte, nahm jetzt plötzlich einen höchst anmuthigen und poetischen Charakter an, sodaß ich mehre bekannte Herren und Damen, die ich theils aus Gesellschaften, theils von Whistpartien her kannte, nicht anredete, sondern nur achtungsvoll grüßte. Von hohen Bergen, grünen Matten und schattigen Waldungen umgeben, lag der kleine grüne See von Lungern und glitzerte in der warmen Vormittagssonne. Auf schattigen, unregelmäßigen Felstreppen stieg ich, nachdem ich Roß und Führer entlassen, in das von Fels und Bäumen eingeengte Dorf Lungern, den abermaligen Anfangspunkt einer Fahr- und Poststraße hinab. Ueber die hohen Vorberge ragte majestätisch ein beschneiter Gipfel des Berner Oberlandes hervor.

In Lungern herrschte ein großer Wirrwarr unter Pferden, Führern, Trägern, Buben und Postknechten. Die Einwohner des Orts, gehüllt in Schwalbenschwanzfracks und bedeckt von ungeheuern Seidenpapphüten mit ganz schmalen Krämpen, standen in einer Reihe, hielten die Köpfe steif zwischen fußhohen Vatermördern und lächelten ironisch über die eleganten Moden, die sich in zahlreichen Exemplaren vor ihnen aufthaten. Den echten Stammschweizer, den Urenkel Tells, darf man sich nie ohne einen Hut denken, wie ihn etwa Hähnchen oder der Maurerpolier Kluck in Angely's »Fest der Handwerker« tragen. Man muß schon ein sehr ruhiger Charakter sein, wenn man den geheimen Wunsch zu unterdrücken vermag, einen dieser Deckel gegen angemessene Francsentschädigung bis auf die Nase des Besitzers herunterzuschlagen! Da ich diesen Grad von Ruhe noch nicht durch Jahre und Philosophie erworben habe, war es vielleicht sehr zu meinem Besten, daß 89 mir die Post mündliche Schwierigkeiten machte, mich nach Beckenried zu befördern. Zum zweiten male hätte sonst ein Hut Veranlassung zu einem welthistorischen Schweizerkampfe geben können, nicht ein Hut auf hoher Stange, sondern ein festaufgetriebener Hut; zum zweiten male hätte die Geschichte einen Geßler, einen Tell sehen können, aber das Geschwätz des Postbeamten wehrte gnädig den tödtlichen Pfeil von meiner Brust. Die jungen Berlinerinnen mit ihrem Seladon langten an, und siehe da! seitdem vier Personen vorhanden waren, fand sich auch ein hübscher leichter Beiwagen nebst zwei schnellen und kräftigen Pferden neben der Postchaise ein, und um 12 Uhr setzten wir uns in Begleitung mehrer Miethwagen lustig in der Richtung des Vierwaldstättersees in Bewegung.

Hätte ich nicht meine Zeit damit vergeuden müssen, die zahllosen uns entgegenkommenden Landsleute zu grüßen, schlechte Witze zu hören und Bestellungen im Fluge entgegenzunehmen, ich würde diese Reise von Lungern nach Beckenried die herrlichste Spazierfahrt meines Lebens nennen. Allmälig in bequemen Thalstufen bergab führte der Weg zwischen steilen, zur Hälfte herrlich belaubten Bergen der Mittelalpen an dem lieblichen See von Sarnen vorüber, durch große saubere Weiler, bevölkert von einem stillen nachdenklichen Menschenschlage. Die Chaussee war meilenweit von gigantischen Wallnußbäumen eingefaßt, deren Stämme hier und da kaum von drei Männern umklammert werden konnten, und aus diesem milden kühlen Schatten blickte das Auge die sonnenhellen Felskuppen hinan und freute sich an den Nebelstreifchen, die wie Schäfchen die öden Gipfel abzuweiden schienen. Nur drei mal drang durch diese Gegenwart voll Schönheit und Glanz eine dämonische Erinnerung an die unversöhnlichen Naturmächte. Bei einem der letzten Gewitter hatten drei, steil vom Gebirge herabstürzende Bäche, vom Regen angeschwellt, mächtige 90 Steinklumpen und Geschiebe niedergeschwemmt und außer mehren Obstgärten und Getreidefeldern auch eine kleine Kapelle arg zugerichtet. Ein schwarzer Strich an der Mauer zeigte die kaum glaubliche Höhe der Flut, und weit den Berg hinauf lag noch das wüste Geröll, ein trauriger Anblick. Der Fahrweg war nur nothdürftig wiedereingerichtet, und die Passagiere stiegen weislich aus und wanderten zu Fuß über die steinige Stelle, während die Gespanne langsam im Schritt darüberhingeleitet wurden.

Von sonstiger Kurzweil gab es mancherlei auf der lustigen Reise. Zuweilen fanden wir einen Regenschirm, zuweilen auch einen gestickten Reisesack auf der Landstraße. Bei dem liebenswürdigen Familienleben haben solche Verluste keine andern Unannehmlichkeiten als den ersten Schrecken; die Telegraphenkosten sind so billig und das Volk so ehrlich und klug, daß der Verlierende sein Hab und Gut stets in wenigen Tagen zurückerhält. Nur muß man sich hüten, wie Herr Baron von Rothschild, in seinen Reisesack 20,000 Francs zu stecken und ihn dann vom Wagen fallen zu lassen. Auch die Ehrlichkeit der Helvetier hat ihre Grenzen.

Bei Stanz trennte sich die Wagenkaravane. Der Hauptzug eilte nach Stanzstadt, um sobald als möglich mit dem letzten Dampfboot nach Luzern zu kommen; ich blieb allein zurück, um nach Beckenried zu fahren. In einer Ecke des Marktplatzes hielt ein altfränkisches Cabriolet, das ich ohne den braunen riesenhaften Postillon und den davorgespannten starken Schecken für ein durch Künstlerlaune etwas modificirtes Watercloset auf Rädern gehalten haben würde. Dieses Fahrzeug war telegraphisch bestellt worden, und alsbald ergriff der Postillon mein Gepäck, öffnete auf der Kehrseite des Cabriolets eine Klappe wie die eines Schreibtisches, und band endlich das Gepäck, welches sich nicht den beschränkten Dimensionen fügen 91 wollte, mit Stricken fest. Dann setzte er mich unter das Verdeck, ergriff die Peitsche und ließ den Schecken ausgreifen.

Die Bergluft und der bisherige Sitz auf einem schmalen Kutscherbock hatten seit 4 Uhr Morgens meine Munterkeit untergraben. Ohnehin war mein Mittagessen nichts gewesen als eine Flasche Wasser mit ein wenig rothem Alpenkrätzer gemischt; ich schlief also sanft ein. Aber als ob sich tausend Teufel gegen meinen Schlummer verschworen hätten, hielt der Wagen alle 4–500 Schritte mit einem plötzlichen Ruck an, ein Junge öffnete eine natürlich nichts versperrende Hecke und lief dann laut schreiend neben dem Wagen her, um eine Belohnung seiner Anstrengungen zu erflehen. Ja sogar die Kinder ganz bemittelter Aeltern, Jungen mit feiner Wäsche, Sammetwesten und silbernen Knöpfen, entblödeten sich nicht, uns nachzusetzen und wie elendes Bettelvolk die Hände auszustrecken. Endlich zeigte sich der Spiegel des wunderbaren Sees, die Ausgeburten der reisenden Civilisation verschwanden, und dem ermüdenden tagelangen Wagengerassel folgte die himmlische Stille und labende Kühle der weiten, von pittoresken Felsformationen und anmuthigen Dörfern umgebenen Wasserfläche.


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