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Die »Venezia« hatte in Massaua im Roten Meer die Anker gelichtet und fuhr jetzt mit erhöhter Geschwindigkeit der italienischen Heimat zu. Wie üblich, wurde das Ende der fast zweimonatlichen Seefahrt an Bord durch ein großes Fest begangen. Auf Djojos Anregung feierte man einen Maskenball. – Die Scheinverlobung mit Dieferle hatte nicht die erhoffte Wirkung gehabt. Zwar hielten die männlichen Passagiere Distanz und überließen Djojo ihrem Verlobten. Aber um so interessierter waren jetzt die Frauen, die Djojo aus Neid und Eifersucht bisher gemieden hatten. Nun, wo sie nicht mehr im Mittelpunkt stand, und die Herren sich ihnen wieder zuwandten, fanden sie sie plötzlich bezaubernd und geradezu geschaffen, ihnen die Langeweile an Bord zu vertreiben. Djojo, der das genau so auf die Nerven ging wie das viele Alleinsein mit dem verliebten Dieferle, war schon in Port Said nahe daran, die Verlobung aufzuheben. Was sie davon zurückhielt und sie bestimmte, das Märchen aufrecht zu erhalten, war folgender Vorgang:
An Bord befand sich ein Mr. Lorms, ein Geschäftsfreund von Paul G. Olem, der Djojo am Tage, an dem sie die männlichen Passagiere zusammenrief und ihnen ihre Verlobung mit Dieferle verkündete, um eine kurze Unterredung bat. Das Fest, das die Damen an Bord am selben Abend noch dem jungen Brautpaar gaben, bot Gelegenheit zu dieser Aussprache.
»Als Freund Ihres Vaters,« begann er. Weiter kam er nicht. Denn Djojo fiel ihm ins Wort und sagte:
»Danke! Sie können sich Ihre Rede ersparen. Ich weiß, was Sie sagen wollen.«
»Sie empfinden es also selbst, daß diese Verbindung unmöglich ist. Die Nachkommenschaft aus Ehen weißer Frauen mit farbigen Männern . . .«
Wieder fiel sie ihm ins Wort und sagte:
»Ich fühle mich vorläufig nur Braut, nicht Mutter.«
»Aber die Kinder . . .«
». . . bekomme ich. Lassen Sie das also meine Sorge sein. Aber zu Ihrer Beruhigung: meine Kinder werden so weiß sein wie Sie.«
»Hat Ihr Dieferle Ihnen einzureden versucht, daß es dafür ein Mittel gibt?«
»Sie wären das Mittel jedenfalls nicht!« erwiderte Djojo und wandte Mr. Lorms den Rücken. Aber sie erfuhr bei ihren guten Verbindungen schon ein paar Stunden später, daß Mr. Lorms vom Schiffe aus an ihren Vater telegraphiert und ihn von der Verlobung in Kenntnis gesetzt hatte. Obgleich sie hinterher telegraphierte:
»Mr. Lorms ist ein Trottel« –
war Paul G. Olem von der Nachricht so erschüttert, daß er sich sofort entschloß, persönlich einzugreifen. Er wußte, Djojo war unberechenbar – und er hielt es durchaus für möglich, daß der wahre Grund ihrer Reise diese Verbindung war, die in Sumatra niemals zustande gekommen wäre. Zwar glaubte er seine Tochter zu kennen und zu wissen, daß dieser schwatzhafte und eitle Halfkast nicht nach ihrem Geschmack war. Aber sie waren so viel allein gewesen und bei Djojos Temperament war es nicht ausgeschlossen, daß sie sich vergessen hatte und aus Furcht vor den Folgen nun dies Opfer brachte. Der Inhalt ihres Telegramms, daß Mr. Lorms ein Trottel sei, besagte gar nichts. Auch war ihm klar, daß er mit Telegrammen und Briefen – ganz abgesehen, daß sie unter Umständen zu spät kamen – nichts ändern würde. Also entschloß er sich, ihr zu folgen.
Wie so oft bei geschäftlichen Unternehmungen kam ihm auch jetzt, wo es sich um die Zukunft seiner Tochter handelte, der Zufall zu Hilfe. In Medan startete nachts drei Uhr der berühmte amerikanische Flieger Alfred Habel nach Europa, um einen neuen Schnelligkeitsrekord aufzustellen. Eine normale Möglichkeit, ihn zu begleiten, bestand nicht. Auch wenn er Unsummen opferte. Das Flugzeug bot Platz für zwei Personen. Der eine war Mr. Habel, der andere sein Mechaniker Lux. Die Fähigkeit, den Mechaniker zu ersetzen, traute er sich zu. Daß es ihm aber gelingen könnte, Habel davon zu überzeugen, glaubte er nicht. Also half nur ein Betrug. Das moralische Recht sprach er sich zu. Das Leben des Fliegers mochte sicherer in der Hand des Mechanikers aufgehoben sein als in seiner. Aber gefährdet war es nicht. Und dies Minus wog das Glück Djojos reichlich auf. Er wußte, daß er mit Erwägungen dieser Art wohl sein Gewissen beruhigen, niemals aber den Mechaniker überzeugen würde. Dessen Gewissen forderte Beweise anderer Art. Er fuhr nach Medan, suchte den Mechaniker auf, der gerade die letzte Prüfung der Maschine vornahm und besprach sich mit ihm. – Der Mechaniker lehnte, wie er erwartet hatte, entrüstet ab. Statt vieler Worte legte Paul G. Olem ihm sein Scheckbuch vor und sagte:
»Füllen Sie die Zahl aus!«
Der Mechaniker stutzte. Der Alte drückte ihm die Füllfeder in die Hand. Der Mechaniker schrieb:
»10 000 Dollars.«
Paul G. Olem setzte seinen Namenszug unter den Scheck. Sie wechselten die Kleidung, und Paul G. Olem, von dem man nicht viel mehr als die Augen sah, kehrte auf den Flugplatz zurück, während der Mechaniker sitzen blieb, den Scheck verwahrte und lachend sagte:
»Zehntausend Dollars und außer Lebensgefahr! Das Geschäft ist richtig!« – –
Während so Paul G. Olem für das Glück seines Kindes den guten Ruf und sein Leben aufs Spiel setzte, traf Djojo im Rauchsalon der »Venezia« Vorbereitungen für das Abschiedsfest. Man hatte wochenlang an kleinen runden Tischen gespeist, und sie schlug nun vor, daß am Abend des Kostümfestes die Damen und Herren des Schiffes einfach ihre Rollen tauschten. Eine Verwandlung, die im Zeitalter des Bubikopfes kaum mehr als einen Wechsel der Kleider bedeutete. Ja, der Dottore di bordo, der eine große Künstlermähne trug, nun aber Djojo darzustellen hatte, mußte, um ihrem Pagenkopf zu gleichen, seine schönen Haare opfern. Und eine glutäugige Spanierin, deren Oberlippe mehr als nur einen zarten Bartansatz aufwies, ließ sich, um in Uniform dem Ersten Offizier zu gleichen, sogar rasieren. Diese Vorbereitungen im Salon schufen bereits eine festliche Stimmung. Aber sie gaben zugleich einem Zwischendeckspassagier, der schon während der ganzen Ueberfahrt in den Gängen der ersten Klasse herumgestrichen war und sich verdächtig gemacht hatte, Gelegenheit, sich in die sogenannte gute Gesellschaft zu schmuggeln. Diesen dunklen Ehrenmann, von dem man nie recht wußte, ob er ein Spanier oder Italiener war, erkannte in seiner Verkleidung als Zigeunerin niemand, und keiner wäre auf den Gedanken gekommen, ihn für einen Mann zu halten. Die ungezwungene, wenig zurückhaltende Art, in der er sich auf dem Kostümfest bewegte, lockte vor allem die älteren Herren an, die ihm denn auch recht ungeniert den Hof machten. Als einer der Passagiere seinen fraulichen Reizen zu nahe kam, versetzte er ihm zur Belustigung der Gäste eine Ohrfeige und verschwand – aber nicht auf das Zwischendeck, auf das er gehörte – vielmehr in die Kabine Djojos, für die er schon seit Penang ein merkwürdiges Interesse zeigte.
Er erbrach den Kabinenkoffer und raubte daraus die Kassette mit Djojos kostbarem Schmuck, mit dem er sich aber sonderbarerweise nicht entfernte. Er setzte sich vielmehr ruhig auf das Bett und vertiefte sich in die Lektüre von Zeitungen, die in der Kabine lagen. – Oben ging das laute Fest seinem Ende zu. Als die Musik verstummte, horchte er auf, legte die Zeitung fort und schlich zur Luke. Durch sie konnte er genau die Füße und Beine der Passagiere, die ihre Kabinen aufsuchten, sehen. Und da er sich die Beine von Djojo so ungeniert betrachtet hatte, daß die aufmerksam geworden war, so erkannte er sie sofort, als sie jetzt vor der Luke sichtbar wurden. Aber auch jetzt ging er nicht hinaus, sondern trat vor den Spiegel, durch den er die Tür sehen konnte, trug mit Djojos Stift rot auf und puderte sich.
Als die Tür aufging und Djojo in die Kabine trat, betupfte er schnell noch einmal das Gesicht mit der Puderquaste, stieß die verblüffte Djojo beiseite und stürzte mit der Kassette hinaus. Djojo hinter ihm her. Eine nächtliche Jagd auf dem Schiffe. Ein Kampf. Mit Fetzen des Zigeunerkleides in der Hand flog Djojo durch eine offenstehende Tür hinunter in den Packraum. Der Strolch entkam. Djojo, die schnell wieder auf den Beinen war, machte verzweifelte Versuche, an Deck zu gelangen. Sie kletterte wie ein Wiesel über die Frachtstücke, und es glückte ihr schließlich, wieder hinaufzukommen. Obgleich es schon vier Uhr war, lief sie zu dem wachthabenden Offizier auf der Kommandobrücke und redete so lange auf ihn ein, bis er sich bereit erklärte, Alarm blasen zu lassen. Zehn Minuten später war alles auf Deck des Schiffes versammelt – in zum Teil so merkwürdigem Aufzug, daß man meinen konnte, der eigentliche Maskenball begänne erst jetzt. Djojo trug den Fall vor, und der Kapitän nahm unter Assistenz mehrerer Offiziere sofort die Untersuchung auf. Eine Matrosenabteilung erhielt Befehl, die sämtlichen Räume und Gepäckstücke des Zwischendecks zu durchsuchen, eine andere Abteilung wurde beauftragt, sofort die an Bord befindlichen Zigeunerinnen vorzuführen. Denn es stellte sich heraus, daß die beim Ball als Zigeunerin erschienene Dame kein Passagier der ersten Klasse gewesen war. Sie alle konnten mühelos nachweisen, in welcher Tracht sie an dem Ball teilgenommen hatten. Als die drei Zigeunerinnen des Zwischendecks unter starker Matrosenbewachung vorgeführt wurden, erkannte jeder Passagier in einer anderen mit absoluter Bestimmtheit den ungebetenen Gast von heute Abend wieder, – trotz der verschlissenen Kleidung, die sie am Leibe hatten und dem ebenso primitiven Gepäck, das man in ihren Kabinen vorfand. Als Djojo aber den abgerissenen Kleiderfetzen vorwies, der aus bunter Seide war, bekannte sich eine der drei Zigeunerinnen sofort dazu, heulte und lärmte und schrie:
»Diebsgesindel! Man hat mich bestohlen! das stammt von meinem Hochzeitskleid!« – und sie machte ernstlich Miene, auf Djojo loszugehen.
Während der Kapitän sich mit den Offizieren bemühte, Licht in diese dunkle Affäre zu bringen, begannen die Passagiere, die aus Furcht vor einer Schiffskatastrophe auf den Alarm hin ohne jede Rücksicht auf ihr Aeußeres aus ihren Kajüten gestürzt waren, nun, wo die Angst vorüber war und die glutrot aufgehende Sonne das Deck heller als ihnen lieb war, beleuchtete, unter sich selbst Gerichtstag zu halten. Dieser unerwartete nächtliche Appell kühlte manche schon bis zur Erfüllung gediehene Begeisterung ab, und Menschen, denen man bis dahin, nicht nur am Tage, nie anders als zu zweit begegnet war, sah man nach dieser Nacht sich geflissentlich aus dem Wege gehen. Schlimmer aber waren die Frauen untereinander. Spott und Schadenfreude über das Aussehen der Nächsten waren so groß, daß sie darüber vergaßen, sich an die eigene ungepuderte Nase zu fassen.
Der Kapitän hatte gerade den glücklichen Gedanken, auf Grund der Passagierliste festzustellen, ob jemand fehlte, als ein Mann beschmutzt, zerzaust, verbeult und außer Atem mit einem zerfetzten Kleid im Arm herankroch und etwas Unverständliches vor sich hin stotterte. Bevor der Kapitän noch eine Frage an ihn richtete, fielen die drei Zigeunerweiber über ihn her, rissen ihm den Anzug vom Leibe und prügelten auf ihn ein.
Als Matrosen ihn den Weibern entrissen hatten, stellte sich heraus, daß es niemand anders als Dieferle war. Und als er sich unter den Händen des Schiffsarztes erholt hatte, erzählte er in abgerissenen Sätzen:
»Ich wachte – wie jede Nacht – vor der Kabine meiner Braut, als plötzlich die Zigeunerin mit der Schatulle herausstürzte, hinter ihr her meine Braut. Da sie schneller waren als ich, verlor ich sie aus den Augen. Ich lief um das Deck herum, als plötzlich irgend etwas von oben herunterflog. Ich konnte es gerade noch fassen, bevor es ins Meer flog. Es war ein seidenes Frauenkleid. Eben dies!« – Er wies auf eine der Zigeunerinnen, die es ihm entrissen hatte und heulend die Seidenfetzen in der Hand hielt . . .
»Also doch!« sagte der Kapitän.
Die Zigeunerin protestierte leidenschaftlich – und Dieferle fuhr fort:
»Ich wandte mich um und sah vom oberen Deck in der Dunkelheit jemanden die Treppe herunter und auf mich zukommen.«
»Die Zigeunerin?«
»Nein! Ein Mann in Unterhosen, der mir einen Schlag auf den Kopf versetzte und mich über Bord zu werfen suchte. Ich klammerte mich an ein Tau. Er riß mich los und gab mir einen Stoß. Ich flog auf das Zwischendeck, kroch auf allen Vieren bis zum Schornstein und blieb dahinter versteckt, bis es hell wurde, und ich über mir Lärm und Stimmen hörte.«
»Würden Sie den Mann wiedererkennen?«
»Es war stockfinster. Aber ich faßte ihn mit aller Gewalt an die Nase.« – Er zeigte seine Hände. – »Daher wohl das Blut.«
»Nasenappell auf Zwischendeck!« ordnete der Kapitän an. Er hätte klüger getan, auf Djojos Vorschlag einzugehen, und ihre Wolfshunde anzusetzen. Sie wären dann vielleicht noch dazu gekommen, den »Banditen« zu fassen, der in geduckter Stellung neben dem Küchenraum saß und abwartete, bis sie einem Schiff begegneten, das sie überholten oder das in entgegengesetzter Richtung fuhr. An dieser befahrenen Strecke brauchte er nicht lange zu warten. Schon nach einer Stunde überholten sie einen deutschen Dampfer mit dem Ziel Bremen. Der »Bandit« sprang rechtzeitig über Bord und kletterte im Dunkel der Nacht auf das deutsche Schiff – ohne daß die Wachen es merkten. Als dann nach einer Stunde erfolglosen Nasenappells, der sehr lustig verlief, Djojos Hunde angesetzt wurden, war es zu spät. Sie nahmen sofort die Spur auf, rissen sich am Eingang zum Office los, sprangen kühn – wie es vor ihnen wohl auch der »Bandit« gemacht hatte – über das Geländer auf das untere Deck, verbellten erst die Stelle neben der Küche, wo er sich versteckt gehalten hatte, und führten dann bis dicht an das Geländer, gingen da hoch und konnten nur mit Mühe verhindert werden, ins Meer zu springen.
»Er hat gebüßt!« sagte der Kapitän. »Denn er kann unmöglich bis zur Küste schwimmen.«
»Der arme Kerl!« meinte Djojo, und der Kapitän erwiderte:
»Sie bedauern ihn noch?«
»Ich habe mit jedem Menschen Sympathie, der Mut hat. Er hat gekämpft wie ein Tier. Erst mit mir, dann« – sie wies auf Dieferle – »mit dem da! Dafür, daß er ein Tier ist, kann er nichts.«
»Und Ihr Schmuck? Trauern Sie ihm nicht nach?«
»Das Leben eines Menschen ist mehr wert.«
»Dessen Leben bestimmt nicht.«
»Ihm jedenfalls – und darauf allein kommt es an.«
Djojo ging in dieser Nacht nicht mehr zu Bett. Sie stand an die Reeling gelehnt und starrte ins Meer. Auch die nächsten Tage über war sie niedergeschlagen und sagte jedem, der es hören wollte:
»Ich habe ihn ins Meer gehetzt.«
Die Passagiere lächelten und flüsterten sich gegenseitig zu:
»Eine exaltierte Person!«
Erst in Triest, als das Schiff in den Hafen fuhr, fühlte sie sich frei und fand ihre Stimmung wieder. Das Abenteuer mit Harry, an den sie während der letzten Reisetage kaum mehr gedacht hatte, begann wieder, sie zu reizen. Das Ausbleiben einer Antwort in Colombo war ihr nicht unerwartet gekommen. Sie hatte es sich sogar gewünscht und wäre enttäuscht gewesen, wenn er ihren Antrag aus geschäftlichen Gründen angenommen hätte. Sie hatte sich gesagt: vielleicht in Triest. Und diese Vermutung wurde in ihr so stark, daß sie den Commissario, dem ein Boot des Lloyd Triestino, noch bevor die »Venezia« im Hafen Anker warf, die Post aushändigte, auf den Kopf zusagte:
Der Commissario reichte es ihr, sie öffnete und las, was Harry ihr telegraphierte.
»Bravo!« rief sie und kabelte vom Schiff aus an Harry zurück:
»Ich fliege vor Freude und aus Zeitersparnis. Morgen Abend spätestens können Sie mir im Hotel Adlon Berlin beide Hände küssen.
Djojo.«