Heinrich Laube
Louison
Heinrich Laube

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Zehntes Kapitel.

Louison war schwer betroffen von den Reden der beiden Männer. Der Jubel über den Erfolg flog wie eine Dampfwolke von dannen.

77Sie hatte ihn ohnedies immer für sicher gehalten, diesen Erfolg, denn die Theaterwirkung lag wie eine Naturnotwendigkeit in ihrem Wesen. Warum hätte denn sonst, meinte sie, alle Welt ihre Person überall fetiert! Die Freude über den Erfolg war ihr also nicht so zu Sinn gestiegen und hielt nicht stand, als Juron und O'Brien eine wirkliche Sorge und eine drohende Sorge in ihr aufriefen. Rambert war die wirkliche, O'Brien die drohende Sorge. Rambert der gute, der so liebe Professor! Sie fühlte klar, daß sie da im Unrecht wäre, in einem peinlichen Unrecht. Den Begriff der Dankbarkeit hatte sie wohl immer abgewiesen von sich, aber hier lag noch etwas Anderes vor, das empfand sie wie ein Stechen, ein Unrecht, das man Unanständigkeit nennen mochte, kurz etwas, das mit Ehrlichkeit und Ehre verquickt wäre, und dafür hatte sie eine bestimmte Empfindung.

Sie sagte also, als man im Palais royal ankam, zu ihrer Mutter leise: »Ich kann heute nicht mehr in Ramberts Hause schlafen, ich habe ihn verraten.«

»Bist du närrisch?«

»Nein, aber gepeinigt bin ich. Wir wollen nach dem Souper in einen Gasthof fahren. Morgen früh suchen wir eine Wohnung, und du holst draußen unsere Habseligkeiten. Ich gehe nicht mehr hin, bis ich dem Professor geschrieben habe, und bis er mir verziehen hat – wenn er's tut!«

Die Mama war sprachlos, sie verstand von alledem nichts. Aber es gab nicht Platz noch Zeit zu weiterer Unterredung. Elegante Herren führten Louison zur Tafel; man begann gleich mit Champagner und Toasten, Louison mußte liebenswürdig, mußte heiter erscheinen.

Ihr Nachbar stellte sich als Herr Ferval vor. Er war ein charmanter Lebemann in der Gegend der Fünfziger und von unverwüstlicher Sicherheit, daß unser Leben ohne Umstände genossen werden müsse. Er unterließ nicht, sich als zweifellosen Garçon zu bezeichnen, und er war ein Kenner 78der Frauen. Er bemerkte rasch, daß Louison befangen wäre, und fragte vergnügt: »Was fehlt Ihnen? Es ist immer ein Vorteil für den Anbeter, wenn der Dame etwas fehlt; da kann er helfen. Zustande bringen kann man alles!«

»Eine Wohnung fehlt,« sagte sie fast nur vor sich hin.

»Sonst nichts?«

»Ich bin ein Gast in meiner jetzigen,« fuhr sie fort, »und ich habe meinen wohlwollenden Gastgeber leichtsinnig beleidigt; ich kann also heute nicht in meine bisherige Wohnung zurückkehren.«

»Das trifft sich ja wie bestellt!« rief er. »Vor drei Monaten hat sich eine kapriziöse Dame am Boulevard Montmartre, also nahe bei Ihrem Theater, ein luxuriöses behagliches Nest eingerichtet, und gestern hat sie sich mit ihrem Liebhaber, meinem Freunde, gezankt und ist nach London abgereist, zunächst auf Nimmerwiedersehen. Das trefflich eingerichtete Appartement steht leer und harrt einer neuen Mieterin. Die sind Sie! Ich führe Sie nach dem Souper hin und führe Sie ein. Ja?«

»Ja.«

»Aber es ist noch ein Wölkchen übrig auf der Stirn; was bedeutet das? Ist das nicht auch zu verjagen?«

»Es macht mir ein Mann die Cour, den ich fürchte.«

»Sie fürchten, ihn zu lieben?«

»Das wohl nicht. Ich fürchte seine Dreistigkeit. Ihr gegenüber fühle ich mich unerklärlich schwach.«

»Ah, das ist ein schwerer Fall. Da können Sie verloren gehen.«

»Oh!«

»Ja, ja. So was hab' ich mit angesehen. Da ist ein eisern durchgeführter Entschluß nötig.«

»Welcher?«

»Ihre Tür verschlossen halten für ihn mit allen Mitteln und mit unerschütterlicher Konsequenz. Haben Sie einen männlichen Diener?«

79»Nein.«

»Den brauchen Sie, und zwar einen handfesten. Eine Kammerfrau genügt da nicht. Ich hab' einen solchen und kann ihn augenblicklich entbehren. Morgen vormittag ist er zu Ihrer Disposition. So! das Wölkchen entweicht. Nun ein Glas Champagner auf freundliche Kameradschaft. Ich liebe die dramatischen Talente, solange sie frisch sind, und – keine Sorge, Fräulein, ich bin nicht zudringlich. Was nicht geschenkt wird zwischen Männlein und Fräulein, das hat keinen Wert. – Also unbekümmert um gute Kameradschaft zwischen Louison und Ferval, ja?«

»Jawohl.«

Ihr Leichtsinn hob nun wieder die Flügel. Sie fühlte sich befreit und gab sich der fröhlichsten Stimmung des Festes und den Schmeicheleien hin, welche es für sie regnete. Schmeicheleien sind ja jedermann gefährlich, Künstlerinnen aber unerläßlich. Sie sind ihr Lebensblut. Was ist eine Kunst, die nicht gefällt? Und was fehlt einer Kunst, wenn sie gefällt? Die Dauer? Ach wer zweifelt, der hat kein Talent!

Louison war mit einem Ruck in die leichte Lebensstimmung der Schauspieler mitten hineingehoben. Sie übernahm ein Logis, welches sehr schön, aber sehr teuer war. Die Gage war ja groß. »Beruhige dich, Mama, wir werden übrigens sparen.«

Louison und Sparen! Der Train ergriff sie wie eine Meereswoge. Eine Kammerfrau wurde gemietet, eine Schneiderin, eine Friseuse, ein Dienstmädchen, und Narziß, der handfeste Diener, wurde angestellt mit beträchtlichem Monatslohn. Die luxuriöse Lebensmaschine war binnen wenigen Tagen in vollem Gange. Besuche eleganter Herren kamen in großer Anzahl, man verabredete tägliche Zusammenkünfte im Bois de Boulogne, Ferval bestellte eine permanente Mietequipage, und da die geliehenen Reitpferde mißfielen, so besorgte er ihr eigene, eins für sie, eins für den Reitknecht, welcher geschmackvoll kostümirt wurde. Der Stall war gar nicht weit, alles fügte 80sich leicht, wie von selbst. Das ist immer der Fall, wenn man die Geldsummen nicht einzuschränken braucht. Nach Verlauf einer Woche hatte sie einen Etat, welcher ihre Gage überstieg. Aber weder sie noch die Mama konnten rechnen, und auch die Mama sprach nicht mehr von zu teuren Dingen, sie war berauscht, und der Train gefiel ihr.

Nach Verlauf einer Woche fand Louison aber doch eine Viertelstunde, um den Brief an Rambert zu schreiben, welchen sie sogleich hätte schreiben sollen. Sie gestand ihr Unrecht offen und ehrlich ein und sagte: »Ich weiß es mit nichts zu entschuldigen als mit dem unwiderstehlichen Drange, auf der Bühne zu reüssieren, und wenn noch Ärgeres nötig gewesen wäre, ich hätte auch noch Ärgeres ergriffen. Die ganze Wahrheit zu sagen: dieser Drang ist so unwiderstehlich, daß er mich vielleicht zu einem Verbrechen treiben könnte. Verzeih' mir lieber Onkel, bitte, bitte, ich bin darin unzurechnungsfähig.«

Der Brief ging in die Provinz hinaus aufs Landgut, wo Rambert noch wohnte. Er kam wohl zu spät, denn Juron mochte schon arg geschürt haben. Es erfolgte keine Antwort.

Juron fing auch in den Journalen an, ihren Erfolg zu benagen. Malevy kam eines Tages entrüstet mit einem zweideutigen Entrefilet. Dies Entrefilet spottete über den Begriff der Dankbarkeit im Herzen einer Theaterprinzessin. – »Das ist er!« rief sie. – »Das ist Juron!« rief er und setzte hinzu: »Es muß ihm etwas angetan werden! Ich bring' Ihnen einen Klopffechter, dem erzählen Sie Details von Juron, damit er sie drohend öffentlich andeuten und Juron einschüchtern kann, größere Deutlichkeit in Aussicht stellend. Übrigens, reizende Louison, müssen wir eine neue Rolle vorbereiten für die zweite Hälfte der Saison; ich komme nächste Woche mit Plänen. Einer gärt schon in mir mit einer erzwungenen Heirat. Wie wär's mit O'Brien als Hauptperson?«

»Oh!«

»Man sagt, er komme täglich zu Ihnen, und er rühme 81sich Ihrer Gunst. Seine Wette im Klub hält er aufrecht, eine riesenhohe Wette, daß er Sie noch diesen Winter heiraten werde.«

»Um Gottes willen, das ist alles erlogen. Ja, er kommt fast täglich, aber Narziß läßt ihn nicht herein. Nichts von ihm, Malevy, der ist zu schlimm.«

»Dann versichern Sie sich ja Ihres Narziß. Den besticht er, wenn er gerade Geld gewonnen hat, oder er ermordet ihn, wenn er ohne Geld ist. Außerdem wohl zu merken! er soll jetzt unermeßlich reich werden. Sein Bruder, der Majoratsherr, sei der Schwindsucht verfallen und habe nur noch eine kurz bemessene Frist zu leben. Die Erbschaft aber, das Majorat, welche ihm dann zufällt, soll kolossal sein. Dieser Josuah – so heißt er – hat also jetzt schon einen riesigen Kredit. Sie haben recht: der ist schlimm, wenn Sie ihn nicht lieben.«

»Lieben?! Ich fürchte, ich verabscheue ihn.«

»Hm, hm! Das wäre also dort in Irland kein übler Stoff zu einem Sensationsdrama, in welchem Sie ihn ermordeten.«

»Ich?!«

»Davon sprechen wir noch. Jetzt Adieu! Und Narziß hoch halten im Solde!«

Ach, solch ein Künstlernaturell wie Louison ist gar nicht geeignet, die Bedingungen des wirklichen Lebens einzuhalten. Ja, es erkennt sie nicht. Solch ein Geschöpf lebt und webt in idealen Verhältnissen, um nicht zu sagen in phantastischen. Die grellsten Hindernisse werden ja in den Komödien am Schlusse immer spielend beseitigt. Diese Komödienwelt aber herrscht souverän in der Gedankenwelt der Schauspieler.

Im Verkehr mit der sogenannten Jeunesse dorée sah und hörte Louison nichts als fröhlichen Leichtsinn; jegliches Hindernis wurde verlacht. Geld bedeutete gar nichts. Sie bedachte nicht, daß all' diese jungen Leute ihre Familien hinter sich hatten, daß sie selbst aber nichts hinter sich hatte als ihre feste Gagensumme.

82Als nun die erste Forderung einer Geldschuld streng an sie herantrat, da lachte sie und warf sie ins Schubfach, ein paar Stunden später in ihrer Empfangsstunde ihren Courmachern spöttisch erzählend, der Gläubiger habe mit gerichtlicher Klage und Pfändung gedroht. Allgemeiner Aufschrei der Courmacher, allgemeines Anerbieten, diese Schuld sofort zu übernehmen. »Nicht doch!« rief sie, »nicht doch! Geld verdirbt die Freundschaft.«

Das war so hingesagt, gedankenlos, eine erlernte Phrase. Aber der Eindruck blieb bei ihr nicht aus, daß ja Leute genug vorhanden wären, für sie einzutreten, wenn einmal wirklich Not an Mann käme.

Eine zweite drohende Geldnote ward ihr eines Mittags überreicht, als gerade Ferval neben ihr saß. »Zum zweiten Male schon erlaubt man sich solche Drohungen,« sagte sie und reichte Ferval die Note.

»Ah, das muß man sich nicht gefallen lassen,« sprach dieser – »erlauben Sie, daß ich das flugs beseitige.« – Und er ging hinaus und zahlte dem Boten die verlangte Summe.

Louison hatte nicht Zeit gehabt, das zu verhindern, aber sie empfand doch gleich, daß dies unpassend sei.

Ein paar Tage darauf bemerkte sie auch, daß Fervals Benehmen gegen sie dreister geworden. »O nein, nein!« rief sie, »wohin würde das führen!«

Sie war durchweg in all' dem Verkehr keusch und unnahbar und benutzte nun eiligst den Rat ihrer Friseuse, die Summe anderswo aufzunehmen, bei einem»sehr ordentlichen Manne«, wie die Friseuse sagte, damit sie sofort Ferval zugestellt werde. »Der ›sehr ordentliche Mann‹,« fuhr die Friseuse fort, »berechnet nur mäßige Zinsen.«

Da nun Louison von Zinsen gar nichts verstand, die Forderungen aber immer zahlreicher einliefen, so nahm sie immer neue Summen auf von dem »sehr ordentlichen Manne« und stellte am Ende auch Wechsel aus. Was wußte sie von 83der Bedeutung eines Wechsels! Kurz, um Neujahr etwa war sie über und über verschuldet, und eine Unterredung mit dem »sehr ordentlichen Manne« belehrte sie, daß sie auf einem gefährlichen Wege sei und daß eine beiläufige Bemerkung ihres Stubenmädchens Rose, »Wucherschulden türmten sich auf wie Berge«, eine arge Bedeutung hätte.

Jetzt erst erkannte sie die Gefahr und sah sich nach Hilfe um. Wo gab's die? Ah, sie hatte ja doch so viel Briefe von Anbetern bekommen, welche alle glänzende Anerbietungen enthielten. Sie hatte alle unter einen Beschwerstein gelegt und las sie jetzt noch einmal durch. Als sie fertig war, ließ sie Kopf und Arme sinken. Es war ihr klar, daß all' diese Anerbietungen einen schlimmen Hintergrund hatten – sie erwarteten für ihr Opfer Hingebung der jungen schönen Dame.

»Um keinen Preis der Welt!« flüsterte sie vor sich hin. Aber was tun? Der letzte Mahnbrief hatte äußerst brutal mit Pfändung ihrer Habseligkeiten gedroht. Was tun?

Da hörte sie im Vorzimmer einen heftigen Stimmenwechsel und ein Geräusch, als ob ein Mensch zur Erde fiele. Der Mensch war Narziß, und vor ihr stand O'Brien.

»Verzeihen Sie, meine Liebste« – sagte er – »es blieb mir am Ende nichts übrig, als mit Gewalt zu Ihnen zu dringen. Ihr Diener wurde flegelhaft und mußte beseitigt werden. Aber erschrecken Sie nicht! Ich bin nicht so schlimm, wie ich Ihnen bisher erschienen bin, ich hab' nur einen festeren Willen als die Ferval und Konsorten, welche Sie mit Geldanerbietungen in ihrer Not beleidigen. Außer dem festen Willen habe ich auch redliche Absichten, redlicher als diese Fanfarons, welche eine Maitresse in Ihnen suchen. Ich suche in Ihnen eine Ehefrau – ich beschwöre Sie, nehmen Sie ein paar Minuten furchtlos Platz und hören Sie mich ohne Vorurteil an!«

Sie sank auf einen Sessel; er holte sich einen und setzte sich in ihre Nähe.

84Bei allem Schreck mußte sie sich doch eingestehen, daß er von seiner früheren Brutalität keine Spur zeigte, sondern daß er sanft, ja liebenswürdig spräche. Er war dessen fähig, denn er war ein reichbegabtes Menschenkind.

»Ich wiederhole es,« sprach er nun sanft, »schenken Sie mir die Anstrengung, mich zehn Minuten lang ohne Vorurteil anzuhören! Ich verdiene es kaum, das ist wahr, denn ich habe Sie durch Tollheiten eingeschüchtert. Aber ich kann doch Einiges zu meiner Entschuldigung vorbringen. Nicht bloß meine grenzenlose Liebe zu Ihnen. Denn bei Gott dem Allmächtigen! als ich Sie das erstemal gesehen, da ist es wie ein Schicksalsspruch in mir aufgesprungen: dies ist das Weib, welchem du angehören mußt dein Leben lang, sie ist dein Lebenszauber. Daß ich hinzugesetzt: so wie ich ihnen angehörte, so müßten auch Sie mir angehören, das ist wahr. Daher meine frechen Drohungen. Aber sie werden Ihnen erklärlich und vielleicht auch verzeihlich erscheinen, wenn Sie meine Erziehung kennen. Diese Erziehung hat aus mir einen heftigen, oft gewaltsamen Menschen machen müssen. Meine Mutter und die Umstände haben mich verzogen. Der Lord, mein Vater, starb früh und hinterließ meiner Mutter große Herrschaften und zwei Söhne, meinen älteren Bruder David und mich, der ich Josuah getauft bin. Der Vater hatte meinen Bruder David vorgezogen und mich gering geachtet. Meine Mutter tat nun nach seinem Tode das Gegenteil; sie achtete David, für welchen sie bis zu seiner Großjährigkeit die Güter verwaltete, gering und behandelte mich mit einer geradezu leidenschaftlichen Liebe. Mir wurde alles gewährt, auch an Geldmitteln alles; meinem Bruder wurde auch das entzogen, was ihm gebührte. Er war von kränklicher Leibesbeschaffenheit, namentlich schwach in der Brust. Der Ärger über die Mutter schwächte ihn noch mehr, und der Widerwille gegen mich beherrschte ihn allmählich ganz. Da starb meine Mutter plötzlich an einem Schlagfluß. 85Gerade um die Zeit, als Davids Mündigkeit eintrat. Nun rächte er sich an mir. Er jagte mich fort und entzog mir die Gelder, welche mir zustanden. Sie können ermessen, wie das auf den verzogenen Josuah, auf mich wirken mußte. Ich lebte in heller Empörung und natürlich in gänzlicher Armut. Nur ein entfernter Verwandter meiner Mutter unterstützte mich einigermaßen. Ich wurde ein wilder Abenteurer, ein Spieler und was weiß ich! Da kam Rettung, Rettung von zwei Seiten. Die erste und wichtigste kam von Ihnen. Ich sah Sie und war verwandelt. Man sagt: Wer liebt, wird gut. Jedenfalls wurde ich besser. Ich wollte und will zwar noch alles vernichten, was mich von Ihnen trennen könnte, aber in meinem Innern ist doch eine Welt aufgegangen, welche ich früher gar nicht kannte. Ich möchte sagen: eine Welt des Wohlwollens. Ich sehe immer Ihr Bild, und das wirkt zähmend, beschwichtigend auf mich. Ich behandele die Menschen anders als früher, und ich bin überzeugt, Sie können mich, wenn Sie mir angehören, zu einem guten, wenigstens zu einem gelinden Menschen machen. – Die zweite Seite der Rettung kam aus Irland. Es war die bestimmte Nachricht, daß Davids Brustleiden Lungenschwindsucht geworden und daß seine Tage gezählt seien. Er könne den Ausgang des Winters nicht überleben. Dann bin ich Lord O'Brien und sehr reich. Ich kann Ihnen also ein Leben bereiten, wie Sie's in Ihrer Künstlernatur nur wünschen können. Ungern lasse ich Sie beim Theater, denn ich bin eifersüchtig, aber ich lasse Sie, wenn Sie's positiv verlangen. Ich tue alles, was Sie wollen. Augenblicklich bitte ich um weiter nichts, als daß Sie mir alle Wechsel und Schuldscheine übergeben, damit ich sie bezahlen und Sie befreien kann von der gemeinen Sorge, und daß Sie mir Zutritt gestatten in Ihr Haus. So werden Sie mich allmählich kennen lernen, und zwar besser als bisher. Sie werden mich durchweg bescheiden und genügsam finden, denn ich habe 86eingesehen, daß sich die Liebe nicht ertrotzen läßt. Ich will, wie gesagt, nur, was Sie wollen.«

Damit ging er, indem er sich tief verbeugte.

Louison blieb regungslos sitzen. Sie war in solcher Verwirrung, daß sie absolut selbst nicht wußte, was sie empfände, was sie dächte. Das war ja ein ganz anderer Mann, als er bisher gewesen! Gewesen? Vielleicht nur erschienen. Sein blaues dunkles Auge, früher immer drohend, wie ruhig, wie mild hatte es geblickt! Der Mund mit prächtigen weißen Zähnen hatte nichts mehr gehabt vom früheren Zucken. Der unbewegliche Arm in der Binde dazu hatte jeden Gedanken entfernt an sonstige Gewaltsamkeit.

Aber der Fall im Vorzimmer, ehe er eingetreten? Das konnte nur Narziß gewesen sein. Hatte O'Brien den Diener niedergeworfen?

Sie griff mechanisch nach der Klingel, welche auf einem Tischchen neben ihr stand, und läutete.

Narziß trat ein. Er sah niedergeschlagen aus und zuckte die Achseln. Er sei über einen Zipfel des Teppichs gestolpert und gefallen, als er dem fremden Herren den Eintritt verweigern wollte.

Also auch hier keine Gewalttat O'Briens! dachte sie. Es fiel ihr nicht ein, daß dieser Narziß von O'Brien bestochen sein könnte. Es fiel ihr überhaupt nichts ein, als daß sie sich doch noch fürchtete vor diesem O'Brien und daß sie sich Vorwürfe machte wegen dieser Furcht. Denn er sei ja gut und sanft gewesen. Dabei blickte sie nach dem Fach in ihrem Schreibtische, in welchem alle Schuldforderungen lagen. Die hatte er ja verlangt. »Das nicht!« sagte sie, und Ferval fiel ihr ein, welcher neulich für sie bezahlt hatte.

»Wieviel hat denn neulich Herr von Ferval für mich gezahlt?« fragte sie.

»Zweitausend Francs,« antwortete Narziß.

»Können wir die noch auftreiben?«

87»O ja, gegen hundert Prozent Zinsen.«

»Besorgen Sie also die Summe und liefern Sie dieselbe an Herrn von Ferval ab mit meinem Dank.«

»Zu Befehl.« – Und er entfernte sich.

Das waren also wieder viertausend Francs Schulden mehr. Sie hatte die Schuldscheine nie summiert, sie wußte gar nicht, wie hoch die Gesamtsumme sich belaufe. Das wollte sie jetzt tun – aber da trat die Friseuse ein, um die Tagesfrisur herzurichten.

Diese Friseuse hieß Nanette und war eine etwa dreißig Jahre alte Pariserin, wohl erfahren, sehr geschickt und gar nicht ohne Geist, welche sich viel darauf zugute tat, beinahe blond zu sein. Sie kannte die Theater und Paris gründlich und war für Louison in allen Dingen fördersam gewesen, besonders in Geldsachen. Sie wußte für alles Rat, nahm alles leicht und war deshalb behaglich und bequem für Louison.

Jetzt betrachtete sie lächelnd die schöne junge Dame, welche das Hervorziehen der Schuldscheine aufgegeben hatte und lautlos dasaß, Nanettens Frisieren sich ruhig gefallen lassend.

Nach langem Stillschweigen seufzte endlich Nanette und flüsterte: »Man lernt doch die Männer nicht aus! Dieser Lord O'Brien ist eine neue Merkwürdigkeit. Mademoiselle hat ihn endlich empfangen? Mit Recht! Denn ist der verwandelt! Sein Diener wartete unten beim Coupé. Den hab' ich gesprochen, als ich kam, weil ich hörte, daß sein Herr bei Ihnen wäre. Na, weiß der zu erzählen! Sein Herr sei sich gar nicht mehr ähnlich. Eines Abends – er sei aus unserem Theater gekommen und habe Mademoiselle spielen sehen – habe er ihm Order gegeben, seine ganze Hausordnung zu ändern, alle Besuche abzuweisen und nur den irländischen Geistlichen vorzulassen, welcher im Hotel Glasgow wohnt. Der sei jetzt täglich bei ihm und speise auch mit ihm. Er speist jetzt zu Hause und geht nicht mehr in den Klub. Seine Pferde hat er verkauft und lebt sparsam 88wie ein Gewürzkrämer. Derselbe Herr, der früher das Geld zum Fenster hinauswarf! Von seiner früheren Heftigkeit sei keine Spur mehr vorhanden, er sei geduldig und sanft, aber traurig. Ich begegnete ihm auf der Treppe, als er von Mademoiselle kam, und er grüßte mich. Dabei strauchelte er mit dem Fuße und wollte sich am Geländer halten. Das Geländer war aber an der Seite seines kranken Armes. Den zog er unbedacht aus der Schleife, dieser schien aber den Dienst zu versagen. Der Lord stöhnte wie vor Schmerz und hielt sich mit dem gesunden Arme einen Augenblick lang an meiner Schulter fest. Dann holte er tief Atem, sah mich gutmütig an und dankte mir. Kurz, es ist, wie unser Pfarrer sagt, ein Paulus geworden aus dem Saulus. Merkwürdig!«

Louison dachte wieder nicht im entferntesten daran, daß auch Nanette, die erfahrene Pariserin, bestochen sein könnte. Sie stand auf, ließ sich einen großen Schal umhängen und ging aus, ohne ein Wort zu reden. Wohin? Den Boulevard entlang bis zur Madeleinenkirche. Dort trat sie ein, kniete an einem Seitenaltare nieder und betete lange, lange.

Sie war, wie es in Belgien Sitte, im getreuen Kirchenglauben erzogen, und in ihrer Gläubigkeit sowie in Befolgung aller kirchlichen Vorschriften und Gebräuche hatte sich nichts an ihr verändert trotz allen bunten Verkehrs in ihrem Leben.

Sie betete echt und warm, die heilige Jungfrau möge sie beschirmen und erleuchten in ihrer Not, in ihrem Zweifel.

Auf dem Rückwege begegnete sie vor dem Grand Hotel Juron, welcher geringschätzig und ohne Gruß an ihr vorüber wollte. Sie aber blieb stehen und sagte: »Verzeihen Sie mir, Herr Juron; es tut mir sehr leid, daß ich Ihnen weh getan. Sagen Sie dasselbe, ich bitte, dem guten Herrn Professor! Ich flehe ihn an, mir eine Unterredung zu schenken. Ich bin in schwieriger Lage ratlos, und zu keines Menschen Rat habe ich ein so unbedingtes Vertrauen als zu dem des Herrn Rambert. Ist er in Paris?«

89»Ja.«

»Wollen Sie die Güte haben?«

»Wozu? Er spricht Sie nicht mehr.«

Nach diesen Worten ging Juron weiter. Louison blieb betrübt stehen. Endlich blickte sie auf die gegenüber harrenden Fiaker und griff in ihre Tasche. Sie wollte hinausfahren zu Rambert. Aber sie hatte kein Portemonnaie in der Tasche und es fing heftig an zu regnen. Hastig eilte sie nach Hause, hastig schrieb sie einen neuen Brief an Rambert und bat ihn, sie zu empfangen. Sie schrieb die Wohnung genau auf die Adresse und gab den Brief Narziß zu sofortiger Bestellung. Er sollte ihn selbst abgeben.

Dann legte sie sich aufs Sofa; sie war todmüde, und sie schlief auch ein, und sie schlief, bis Rose sie weckte. Es war finster, sie aber mußte ins Theater, um sich anzukleiden und zu spielen. Das Stück »Louison« wurde ja nach Pariser Sitte auch nach Monaten Abend für Abend aufgeführt.

Narziß hatte den Brief nicht bestellt, sondern auf einen Tisch im Vorzimmer geworfen, weil eben ein Gläubiger eingetreten mit zudringlicher Forderung. Gleichzeitig war Rose, das Dienstmädchen, ins Vorzimmer gekommen, und hatte zugehört, wie Narziß diesen Dränger mit groben Worten abfertigte und ziemlich handgreiflich aus dem Vorzimmer hinausexpedierte. Narziß ging ebenfalls hinaus, und Rose hörte, daß der Gläubiger mit Pfändung drohte und daß Narziß erwiderte, das sollte er nur tun, je eher, desto besser.

Rose schüttelte dazu den Kopf; sie mochte Narziß überhaupt nicht leiden. Ihrer Herrin aber, welche sich immer freundlich gegen ihre Dienstleute benahm, war sie herzlich zugetan. Sie war die Tochter eines Schulmeisters in den Vogesen und hatte vier Schwestern. Alle hatten aus dem Hause gemußt, um sich ihren Unterhalt zu suchen, und alle hatten einen guten Schulunterricht genossen. Rose war auch sonst aufgeweckten Geistes und hatte aus einzelnen Äußerungen ihrer Herrin sich zusammengereimt, 90daß ein Professor Rambert früher ihr Beschützer gewesen. Jetzt las sie dessen Adresse auf dem Briefe, welchen Narziß auf den Tisch geworfen, und dachte: Die arme Herrin sucht Hilfe in ihren bedrängten Umständen, und der Schlingel Narziß wirft den Brief beiseite! Er geht fort, setzte sie hinzu und öffnete die Vorsaaltür. Richtig! Narziß ging mit dem Gläubiger die Treppe hinunter. Geschwind holte sie ein grobes Umschlagetuch gegen den Regen, steckte den Brief zu sich und trug ihn hinaus zu dem Herrn Professor.

Als sie zurückkam, trat ihr Narziß herrisch entgegen mit der Frage, ob sie einen Brief vom Tische genommen. Sie schüttelte den Kopf und ließ ihn stehen.

Der Brief kam also in Ramberts Hände. Er las ihn, hielt ihn noch eine Zeitlang in der Hand und legte ihn dann auf den Schreibtisch. Der Eindruck war ersichtlich günstig. Es waren Monate vergangen, seit er durch Juron die Nachricht erhalten von dem Attentate Malevys und Louisons auf dem Theater. Juron hatte es auf die gehässigste Weise geschildert. Rambert hatte sich unbeschreiblich verletzt gefühlt und auch bei seiner Rückkehr nach Paris Juron recht gegeben, daß einem Mädchen von so verwerflichem Charakter für immer der Rücken zuzukehren sei. Ja, sie verdiente eine Züchtigung! hatte Juron zugesetzt. Das hatte Rambert mit einer Handbewegung abgewiesen.

Er war eine grundgute Seele, und er hatte Louison sehr lieb. Unter Schmerzen hatte er sie aufgegeben und ihren ersten Brief nicht beantwortet. Die Zeit aber hatte den häßlichen Eindruck gemildert, und ob man ihn erkannt habe in der Theaterfigur, davon hatte er wenig erfahren, weil er nicht in Paris gewesen. Über die Szene aber, in welcher Juron gefoppt und eingesperrt wird, hatte er wohl gar später, wenn er daran gedacht, lachen können, indem er sein Lachen damit entschuldigte, daß er ausrief: »Verdient hat er's.« Was ihn selbst betraf, so hatte er nach einiger Zeit ärgerlich die 91Frage in den Hintergrund geschoben, in das »Schuttzimmer«, wie er's nannte, wohin jedermann seine Enttäuschungen wirft.

So fand ihn der heutige zweite Brief. Er fand ihn, möchte man sagen, vorbereitet zur Versöhnung. Der Brief war auch in Louisons bester Art geschrieben, einfach und rührend. »Wohlan denn!« sagte Rambert und faßte den Entschluß, diesen Abend ins Theater zu fahren, das abscheuliche Stück über sich ergehen zu lassen und Louison anzuschauen, anzuschauen als Talent ohne Rücksicht auf ihre Person und ihren moralischen Wert.

Juron kam um sechs Uhr zu ihm und speiste mit ihm. Beim Dessert hatte Rambert die Unvorsichtigkeit oder, um es richtiger auszudrücken, die gutmütige Wallung, Juron seinen Entschluß mitzuteilen.

»Um Gottes willen nicht!« schrie Juron. »Die Leute werden mit Fingern auf dich zeigen und dich verhöhnen.«

»Ah? – Nun denn – so werd' ich's unterlassen.«

Glücklicherweise wurde Juron um halb Acht abgerufen, und als Rambert allein war, kam sein Gedanke nochmals auf die ganze Frage zurück. Ein gebildetes menschliches Wesen für immer aufzugeben wegen eines einzigen garstigen Zuges? Ist das human? Ist das weise? Ist das vorteilhaft? Sie hat dir ja doch viel Freude gemacht – er läutete und bestellte den Wagen.

Das Hauptstück des Abends, »Louison«, begann ja erst um acht Uhr, er konnte noch zum Anfange im Theater sein, und er kam zurecht. Der Vorhang ging eben in die Höhe, als er im Hintergrunde einer Loge Platz nahm. Das Publikum konnte ihn kaum sehen, und dieses Publikum kannte ihn nicht, es war nicht das Publikum der ersten Vorstellungen.

Louisons Auftreten fiel wie ein Sonnenstrahl in sein Herz. Er hatte sie doch sehr gern, und die ersten Szenen in Brüssel waren ihm eine liebe Erinnerung. Später lachte er unverhohlen über den gefoppten Juron. Freilich, als nun 92ihre Liebelei mit ihm daran kam und er wohl wie ein genarrter Liebhaber erscheinen konnte, da wurde ihm schwül. Aber Louison spielte das alles, wohl gerade heute, weil sie so traurig war, mit einer so mädchenhaften Dezenz, daß er auch dies nachsah; kurz, ihre liebreizende, talentvolle Person wurde ihm ganz und gar einziges Interesse an der Vorstellung, und am Schlusse hatte sie ihn ganz wieder gewonnen.

Nach Hause kommend, schrieb er rasch auf eine Visitenkarte, Louison möchte am nächsten Tage um elf Uhr zu ihm kommen, und übergab die Karte Jean mit dem Auftrage, sie am folgenden Morgen selbst bei Mademoiselle abzugeben.

Welch ein Glück für Louison! Nun konnte sie gerettet werden, gerettet, denn sie war in Lebensgefahr.

Am anderen Morgen erschien Jean in Louisons Wohnung. Ungern und verdrießlich, denn es war ihm widerwärtig, daß der Verkehr mit dieser Komödiantin wieder angeknüpft wurde. Welche Erniedrigung seines Herrn! Er hatte es ja erfahren – denn solche Diener erfahren alles, was ihre Herrschaft betrifft –, daß sie seinen Herrn aufs Theater gebracht. Wie konnte sein vornehmer Herr sich nun doch wieder herbeilassen! »Ah!« stöhnte er ärgerlich im Vorzimmer, »wer übernimmt hier eine Karte des Herrn Professor Rambert für Mademoiselle Louison?«

»Ich!« antwortete der anwesende Narziß. Und er setzte hinzu: »Ist das derselbe Professor Rambert, bei welchem Mademoiselle früher –«

»Ja doch.«

»Sie ist nicht etwa vom Herrn Lampré?«

»Rambert!« sagte Jean indigniert mit scharfem Tone, ging und schlug die Tür zu. Er hatte die Malice mit Lampré wohl verstanden – denn er hatte das Stück gesehen – und war wütend. »Das soll mein törichter Herr schon erfahren!« brummte er vor sich hin.

Woher wußte Narziß das alles? – Von O'Brien, der 93ihn bestochen hatte und der ihm den Auftrag gegeben, jede Annäherung zwischen Louison und dem Herrn Rambert nach Möglichkeit zu verhindern. Deshalb hatte er den Brief Louisons an Rambert nicht bestellt, deshalb steckte er jetzt die Karte Ramberts in die Tasche, um sie O'Brien abzuliefern, der ihm angekündigt hatte, er werde heute das Fräulein wieder besuchen.

Louison hatte ihm auch das frühere Verbot der Zulassung O'Briens nicht wiederholt. Bald darauf kam O'Brien wirklich, und nach einem kurzen leisen Wortwechsel mit ihm ging Narziß ins Zimmer, um ihn anzumelden.

Er fand große Verwirrung. Mama Miot war plötzlich erkrankt. Sie hatte heftig gestöhnt und lag jetzt ohnmächtig auf dem Sofa. Louison selbst eilte in den Vorsaal, sich bei O'Brien zu entschuldigen, daß sie ihn jetzt nicht annehmen könne, und rief Rose. O'Brien dankte dafür, daß sie ihn persönlich unterrichtete, wünschte der Mama rasche Wiederherstellung und ging.

Rose brachte Eau de Cologne und bespritzte reichlich die Mama. Als dies nichts half, sagte sie ärgerlich: die Mama hätte beim ersten Frühstück einen halben Hummer verzehrt und eine Flasche schweren Wein getrunken, es würde ein Arzt nötig sein. Oben im dritten Stocke wohne einer, sie hätte ihn vor einer Viertelstunde hinaufsteigen sehen, ob sie ihn nicht holen solle?

»Ja wohl, ja wohl!«

Als er kam, war Mama schon aus der Ohnmacht erwacht, stöhnte aber entsetzlich. Der Arzt, ein junger Mann, war durch Rose schon unterrichtet über den halben Hummer und schrieb rasch ein Rezept, welches Rose augenblicklich in die Apotheke trug.

Louison fragte ihn leise, ob es bedenklich sei? Er sah sie lächelnd an und erwiderte nach kurzer Pause: ganz und gar nicht. Aber Mama sollte mäßiger sein – vorsichtiger, 94verbesserte er – im Essen und Trinken, sonst könnte sie gelegentlich einen Schlagfluß erleiden.

Mama schrie auf, und Louison verwunderte sich über das Lächeln des jungen Mannes, welcher sich neugierig in dem luxuriös eingerichteten Zimmer umsah.

»Kennen Sie mich?« fragte sie.

»Nein, ich habe nicht die Ehre.«

Sie nannte sich, und er erwiderte wie entschuldigend, daß er kein Theatergänger wäre. Er hätte für Theater keine Zeit und kein Geld. Seine Praxis wäre noch zu klein, und das Studium seiner Wissenschaft nähme ihn noch sehr in Anspruch.

Sie bot ihm Karten an für die heutige Vorstellung in ihrem Theater. Er lehnte ab. Gerade heut' abend habe er teilzunehmen an einem wichtigen Konsilium.

»Es interessiert Sie auch nicht –?«

»Das möcht' ich nicht sagen. Ich hab' einen Jugendfreund, einen ausgezeichneten Mann, der Stücke schreibt. Vergeblich, denn er bringt sie nicht zur Aufführung. Der erzählt mir wohl von dem wunderlichen Theaterleben; er hat mir auch von Ihrem Stücke erzählt!«

»Vielleicht gingen Sie morgen mit Ihrem Freunde in unser Theater?«

»Ein Arzt kann nicht dreißig Stunden voraus über seine Zeit verfügen. – Mama muß sich zu Bett legen und bis morgen früh nichts essen und trinken.«

Mama stöhnte schmerzlich.

»Morgen früh werd' ich wiederkommen, wenn Mademoiselle es wünschen.«

»Gewiß.«

Damit ging er. Louison sah ihm erstaunt nach, erstaunt, daß es Menschen gäbe, welche sich so gar nicht ums Theater kümmerten. Der kühle junge Mann mit großen dunklen Augen verwunderte sie höchlich, und sie sprach vor sich hin: 95»Es gibt also doch Menschen, welche das Theater gar nicht brauchen. Unbegreiflich!«

Eine halbe Stunde später schimpfte Mama Miot heftig auf den albernen Doktor, weil das Rezept sie in seinen unangenehmen Folgen abscheulich belästigte. Dazu brauche man keinen Doktor!

Louison selbst fühlte sich von Kummer und Sorgen belastet. Solch ein Zustand war ihr völlig neu, und sie fand in sich gar kein Mittel zur Verteidigung. Von Rambert kam keine Antwort; zudringliche Gläubiger aber kamen fortwährend und gingen unter Drohungen hinweg. Und nun stürmte auch noch Malevy herein mit Vorwürfen, daß sie seit einiger Zeit ohne Animo spiele und das Stück herunterbringe.

»Herr Gott!« schrie sie nun einmal ungeduldig auf, »Abend für Abend dieselbe Rolle spielen, das muß ja langweilig für mich werden. Ich bin da keine Künstlerin mehr, ich bin eine Drehorgel, die abgeleiert wird!«

»So?« erwiderte er ärgerlich, »dann müssen Sie ans Théâtre français gehen, wenn Sie so wählerisch sind.«

»Ach, aus der Welt möcht' ich gehen; es reißt ja alles entzwei rings um mich her, und ich weiß nicht mehr, was lassen, was tun!«

»Sie werden damit endigen, einen reichen Esel zu heiraten und die ganze Kunst zu verraten. Adieu!«

»Am Ende hat er recht,« sagte sie trostlos vor sich hin, und energieloser als je spielte sie diesen Abend, so daß der Direktor am Schlusse zu ihr trat und ihr Vorwürfe machte. Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Grell, verzerrt gingen alle Menschen, alle Zustände an ihr vorüber, und erst als am Morgen der junge Doktor – Zech hieß er und war ein Elsässer – bei ihr eintrat mit seinen kühlen Fragen und kurzen Antworten, da kam es ihr vor, als wäre ein kühler Luftzug ins Zimmer gedrungen. Sie sah ihn aufmerksam an, als er der verdrießlichen Mama den Puls fühlte 96und über deren Zornausbrüche wegen des Rezeptes nur kurzweg lachte.

Hübsch fand sie ihn gar nicht mit dem blassen Gesichte voll Bart und in der fast ärmlichen Bekleidung eines gedrungenen starken Körpers. Die Hand war klein und die Stimme wohlklingend.

»Es ist vorüber,« sagte er langsam zu Frau Miot, »aber es wird wiederkommen und gefährlich werden, wenn Sie sich nicht mäßigen.«

»Mäßigen? Gefährlich? Was?«

»Gefährlich für Ihr Leben.«

»Jesu Christ!«

»Ja wohl. Sie neigen zur Völlerei, denn Sie essen und trinken zu stark. Noch zweimal solch ein Anfall, und beim dritten Male rührt Sie der Schlag.«

»Maria und Joseph!«

Und sich zu Louison wendend, setzte er hinzu: »Sie müssen acht geben, warnen und am Ende mit Gewalt abhalten. Wie's scheint, kann man sich eben in solcher Künstlerwelt nichts versagen. Wer das aber nicht kann, der geht zugrunde. Die Natur ist einfach, den Menschen aber drängen seine Gelüste zur Vielfältigkeit, und daraus entsteht das Leiden.«

»Das körperliche?«

»Ja, und damit auch jedes andere. Die Sensationen des Körpers bringen auch die Gefühle zuwege, und wenn die Sensationen krankhaft sind, dann entstehen auch krankhafte Gefühle, welche das Gleichgewicht zerstören und dadurch unglücklich machen.«

»Wir armen Schauspieler, die wir alle Gefühle, auch die schlimmen, darstellen sollen!«

»Das tut Ihnen nichts. Das wird ein Turnen, und die Abwechselung gleicht den Schaden aus. Aber zu Hause, im bürgerlichen Leben, muß der Schauspieler nüchtern sein. Er 97besonders muß geordnet und mäßig leben und sich dadurch vor Sorgen behüten. Sorgen untergraben ihn. – Heut' abend übrigens bin ich frei, Mademoiselle, und nehme zwei Karten an, wenn Sie dieselben haben.«

»Jawohl. Hier sind sie. Und ich freue mich, vor Ihnen spielen zu können.«

Sie spielte an diesem Abend lebhafter als in der letzten Zeit, und als sie beim Nachhausekommen dem Doktor Zech, welcher ebenfalls heimkehrte, auf der Treppe begegnete, fragte sie ihn: »Nun, was sagen Sie zu unserer Komödie?«

Er schwieg eine Weile und antwortete dann: »Ich weiß es noch nicht.«

»Ah!? – Wollen Sie eine Tasse Tee mit mir trinken? Vielleicht besinnen Sie sich.«

»Tee dürfen Sie spät abends nach dem Spielen nicht trinken; das beeinträchtigt den Schlaf. Trinken Sie ein Glas Bier aus meiner Heimat, Straßburger Bier, das macht dumm und ist dadurch wohltätig für Sie nach geistiger Aufregung.«

»Auch das. Rose wird's uns verschaffen; sie ist auch eine Elsässerin und wird die Quelle kennen.«

Rose kannte die Bierquelle und brachte das Bier. Louison war ein wenig betroffen von seinem »Ich weiß es noch nicht« und suchte ihn zur Fassung seines Urteils zu bringen am gedeckten kleinen Tische, wo sie einander gegenübersaßen.

Er kam sehr langsam zu dieser Fassung. Der ganze Vorgang im Theater sei ihm neu, er sei nie ein Theatergänger gewesen und habe sich von Jugend auf nur mit der wirklichen Welt beschäftigt, mit der realen, wie man's nenne. Eigentlich sei ihm das Theater übertreibende Spielerei.

»Faxe?«

»Ja. Es erinnert mich immer nur an meine kindische Jugend. Meine Kameraden spielten Soldaten oder Räuber, und ich sollte mittun. Mir aber war's gleichgültig.«

»Sie hatten wenig Phantasie?«

98»Wahrscheinlich. Und so steht's nach mit mir. Phantasieren ist für mich Kranksein, wenigstens Träumen. Will sagen: Zeitverlust. Das Theaterpublikum, hab' ich deshalb immer gemeint, besteht aus Leuten, die nichts zu tun haben oder die nichts tun wollen, die sich die Zeit vertreiben. Die Zeit vertreiben! Dies Wort sagt ja alles. Die Zeit, die kurze Spanne, welche dem Menschen vergönnt ist, vertreiben, das heißt beseitigen – ist das nicht einfach unsinnig? – Verzeihen Sie! Dies gilt vielleicht nicht ganz von guten Schauspielern – die haben eine besondere Naturgabe auszuüben –, das gilt also nicht Ihnen, denn ich glaube: Sie sind eine gute Schauspielerin.«

»Warum glauben Sie das?«

»Sie haben mich durch Einfachheit und Natürlichkeit getäuscht. Das ist etwas. Was Nachdenken anregt, das ist etwas. Und Sie haben mir gefallen. Das ist auch etwas, wie ich mir hinterher überlegt habe. Weil Sie mir gefielen, wurde ich selbst munterer, ich möchte sagen: fähiger. Eine medizinische Streitfrage, welche mich seit einiger Zeit beschäftigt und peinigt, weil ich ihr nicht beikommen konnte, erschien mir plötzlich in verständlichem Lichte, weil offenbar mein Verstand munterer und findiger wurde.«

Louison lachte. Der junge Mann, ein ihr wildfremdes Wesen, gefiel auch ihr, und als das Gespräch die nächsten Dinge berührte: ihre Wohnung, ihre Gesundheit, ihre Lebensweise, lauter reale Dinge, welche allein ihm nahe lagen, da ging sie bereitwillig darauf ein. Es kam ihr vor, als erholte sie sich von ihren Wirrnissen, indem sie kindlich aufrichtig ihre Verhältnisse besprach und sich durch seine trockenen Bemerkungen veranlaßt fühlte, ihm Dinge zu sagen, welche man sonst niemals einem neuen Bekannten sagt. Wie er's auffaßte, trat alles für sie in ein neues Licht, und das war ihrer Traurigkeit sehr willkommen. So erfuhr er denn auch, daß sie von Schulden erdrückt wäre.

99»Das geht nicht!« schrie er auf. »Ich dulde nicht einen Frank Schulden an mir. Das machte mich ja abhängig, beeinträchtigte meine Freiheit. Bezahlen, gleich bezahlen!«

»Ja, womit? Mama sagt: mit einem reichen Manne, den ich heirate.«

»Das ist nicht schlecht. Kennen Sie einen reichen Mann, der Sie heiraten will und den Sie möchten?«

»Nein. Ich möchte überhaupt nicht heiraten. Leiblich einem Manne anzugehören, widerstrebt mir.«

»Das ist eigentlich gegen die Natur, welche nur durch Fortpflanzung besteht. Bei Ihnen ist's unentwickelte Sinnentätigkeit. Sie sind noch sehr jung. Ich bin leider in demselben Falle, obwohl viel älter als Sie. Die Natur holt das nach, denn sie ist unerbittlich. Man muß nur geduldig warten. Das tu' ich. – Aber Ihre Schulden drängen. Haben Sie nicht so einen törichten Gönner, welcher für eure sogenannte Kunst schwärmt? Haben Sie einen?«

»Ich hatte ihn; aber ich hab' ihn verloren.«

»Den müssen Sie wieder gewinnen. Geht das nicht?«

»Ich hoffe es. – Und nun erzählte sie ihr Verhältnis zu Rambert, und wie sie zweimal bittend an ihn geschrieben.

»Und auch den zweiten Brief hat er nicht beantwortet?«

»Nein.«

»Briefe sind Krücken; die wirft man weg. Gehen Sie doch selbst zu ihm!«

»Ich schäme mich.«

»Ah so! Vielleicht könnte mein Freund Lauriston, der ist in der vornehmen Welt zu Hause –? Aber nein, den wollen wir nicht hineinmischen. Er neigt ohnedies schon zu Wunderlichkeiten. Aber ich bin gefeit – nun denn, schicken Sie mich zu ihm; morgen hab' ich Zeit.«

Louison schrie auf und sah ihn zweifelnd an. »Wir kennen uns ja kaum,« sagte sie fragend.

»Hinreichend!« erwiderte er lachend. »Ich bin Arzt. 100Ihrer Mama schrieb ich Rezepte, und Ihnen – verschaff' ich Hilfe für die überspannten Nerven. Ich versuch's wenigstens. 's ist ein Gang zu einem neuen Apotheker, der Rambert heißt. Sie gefallen mir – unbesorgt deshalb! Ich bin kein Courmacher und werde nie einer werden. Sie gefallen mir als eine gelungene Schöpfung der Natur; die möcht' ich erhalten sehen. Soll ich zu Herrn Rambert gehen?«

»Ich weiß nicht –«

»Aber ich weiß es. Schreiben Sie mir die Adresse auf und gehen Sie dann schlafen; es ist spät. Morgen abend bring' ich Bescheid. Ja? – Wo wohnt er?«

Louison sagte mit halber Stimme die Adresse; er schrieb sie in seine Agende, reichte ihr die Hand und sagte: »Gute Nacht!«


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