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Endlich war der Abend da. Um acht Uhr sollte die erste Vorstellung der »Neuen Louison« beginnen.
Schon vor Eröffnung der Kasse war großer Zudrang vor dem Theaterhause, obwohl vor dem neuen Stücke eine alte bekannte Komödie abgespielt werden sollte. Es gab 206Lärm und Geschrei; insbesondere schalt man, daß Agioteure eine große Anzahl der Billette angekauft hatten, um sie nun für erhöhte Preise zu verkaufen. Man ging einigen Männern, welche man in diesem Verdachte hatte, unmittelbar zu Leibe, und es war nur einem starken Manne zu verdanken, daß ihnen nicht Gewalt angetan wurde. Dieser starke Mann schob die Angreifer links und rechts zur Seite, und zwar scheinbar mit solcher Leichtigkeit, als ob er es mit Puppen zu tun hätte. Dabei machte er Späße, welche belacht wurden.
Dieser starke Mann war niemand anders als Sennor Rosas. Er behauptete, man habe kein Recht, die Agioteure anzugreifen; Handel sei Handel im Kleinen wie im Großen. Diese Verkäufer riskierten ihr Geld wie jeder andere Kaufmann, und wenn sie für Donna Louison ihr Geld eingesetzt hätten, so beweise das obenein, daß sie guten Geschmack hätten, denn Donna Louison sei eine außerordentliche Künstlerin.
»Was solch ein Clown nicht alles weiß!« rief ein Herr, welcher vorüberging. – Es war Juron, von einer Gruppe begleitet, welche offenbar aus Malcontenten bestand, denn sie blickten sehr hochmütig drein. Leider war auch Malevy darunter.
Rosas blieb die Antwort nicht schuldig, sondern schrie Juron nach: »Respektieren Sie den Clown, das rat' ich Ihnen. Der Clown ist ein Künstler. Er versteht die Kunst, Lachen zu erregen. Was versteht denn ihr? Das Gegenteil. Ihr verderbt ehrlichen Leuten den Spaß mit euren hochmütigen Grimassen. Nehmt euch ja heute in acht, wir werden die Spaßverderber kurios auf die Finger klopfen.«
»Bravo!« rief man um ihn her, und das ermunterte ihn fortzufahren:
»Ich sage, auch die Agioteure unterstützen die Kunst. Wenn die Preise steigen, so steigt die Ware. Das heizt ein, das heizt ein, wenn man die armen Teufel verkaufen sieht – ah, Madame, kann ich dienen?«
207Das sagte er zu einer schwarz gekleideten älteren Dame, welche soeben aus einem Fiaker gestiegen war und sich ratlos umsah.
»Madame« – fuhr er fort – »wünschen vielleicht eine Eintrittskarte?«
»Jawohl. Um jeden Preis.«
»Das wär' zu hoch bezahlt. Indessen heute haben Sie recht. Einer solchen Enthusiastin für Demoiselle Louison muß geholfen werden. Ich habe zwei Karten, und mein Kamerad, für welchen die eine bestimmt war, läßt warten; er verdient sie nicht mehr. Sie werden für ihn applaudieren. Nicht wahr, Madame? Voilà! Ich stelle die Karte Madame zur Verfügung.«
Die schwarze Dame griff hastig danach und reichte ihm zwei Goldstücke dafür.
»Pardon, Madame, ich mache hier keine Geldgeschäfte. Ein Goldstück ist schon zu viel; ich bitte, es zurückzunehmen, und hier die Ausgleichsmünze, ich bitte! Darf ich Madame meinen Arm anbieten durch den Menschenknäuel hindurch?«
»Sehr dankbar, mein Herr.«
Und so führte er, triumphierend fast, indem er, von seiner eigenen Galanterie befriedigt, links und rechts blickte, die hochgewachsene, vornehm aussehende Dame mit Geschicklichkeit durch die Menge in das Haus und klappte ihr artig den Sperrsitz auf. Dann setzte er sich neben sie und machte sich so dünn wie möglich, um sie nicht zu belästigen.
»Madame kommen doch wohl nur, wie ich vorausgesetzt« – so begann er das Gespräch – »um unseren glänzenden Stern, Donna Louison, zu bewundern?«
»Um sie zu sehen, allerdings.«
»Werden Sie auch bewundern. Santa cruz! die ist danach. Was sie jetzt spielen« – der Vorhang war aufgezogen worden – »das wird allerdings Madame nicht interessieren. Das ist ein Lückenbüßer, ist Füllsel, so zu sagen. Die vornehmen 208Leute speisen spät und kommen erst um acht Uhr. Deshalb fängt das Stück mit dem Stern erst um acht Uhr an, und deshalb ist das Haus jetzt noch nicht voll.«
»Wissen Sie,« fragte die schwarze Dame leise – man hatte neben ihnen gezischt – »wer der Verfasser des neuen Stückes ist?«
Er antwortete ebenso leise: »Ja und nein, Madame. Bestimmt erfahren wir es erst am Schlusse der ›Neuen Louison‹ durch den Regisseur. Aber ich persönlich glaube es schon zu wissen, ich habe den Autor – er heißt Herr Lauriston und ist ein perfekter Kavalier – bei Demoiselle Louison getroffen.«
»Sie kennen diese Schauspielerin?«
»Ob ich sie kenne! Intim, Madame, natürlich in allen Ehren. Unter uns gesagt: ich bin verliebt in sie bis über die Ohren.«
»Wie alle Welt!«
»Mehr, Madame, viel mehr.«
»Ist sie denn wirklich so liebenswürdig?«
»Ach, dafür gibt's keine Worte! Sie ist einfach ein Engel, und früher war sie geradezu ein Erzengel.«
»Früher?«
»Ja, als sie noch lustig war.«
»Und leichtsinnig.«
»Nie! Das war sie nie! Im Gegenteil. Sie mochte ja von keinem Manne etwas wissen, das war ihr einziger Fehler. Aber lachen konnte sie, o Gott! Seit sie nun durch den irländischen Schuft – Gott verdamme ihn! – so unglücklich geworden, seitdem hat sie sich, ach! sehr verändert. Sentimental ist sie geworden, sogar tragisch.«
»Zum Schein!«
»Ei bewahre! Stockernsthaft, und man sagt, daß der mutmaßliche Verfasser des Stücks, Herr Lauriston, ihr förmlichen Unterricht erteilt hat im Sentimentalen und Tragischen, 209im Versesprechen, im edlen Ausdrucke, in der höheren Tugend überhaupt.«
»Höhere Tugend? Das heißt?«
»Ja, Madame, ich bin kein Gelehrter; die Kammerjungfer, die hübsche Rose, sagt so. Nobel soll's wohl heißen, stocknobel. So geht's in dem Hause her, und Diva Louison ist die Tugendnoblesse selber.«
Jetzt aber wurde das Zischen der Nachbarn stürmisch. Rosas war im Eifer gar zu laut geworden, und jetzt machte er der schwarzen Dame ein ausdrucksvolles Zeichen zum Stillschweigen, nur noch kaum hörbar flüsternd: »Die Leute haben recht; wenn die Kunst spricht, darf man den Nachbar nicht stören.«
Das Haus hatte sich allmählich bis zum Giebel gefüllt, und jetzt war auch Rambert gekommen, und auch Lauriston fand sich ein. Er hatte sich oben eine kleine Loge vorbehalten für sich und Zech. Noch war er allein; Zech, immer sparsam mit seiner Zeit, wollte erst Schlag acht Uhr kommen.
Ein Dichter, dessen Stück zum ersten Male aufgeführt wird, hat das Vorrecht, gründlich aufgeregt zu sein. Und Lauriston war ja noch von ganz anderen Sorgen bedrängt. Vielleicht deshalb war er ruhiger, eine Sorge schob die andere zur Seite. Es war die Ruhe stiller Verzweiflung. Er wußte nicht abzusehen, was entstehen würde. Und doch wühlte in ihm wohl die Frage am tiefsten: Liebst du Louison in solchem Maße, daß du ihretwegen die Mutter opfern willst? Er wußte es nicht oder wollte es nicht wissen. Wozu auch! Gefiel sein Stück nicht, dann war auch Louisons Leben und Zukunft geknickt, und dann wurde ja alles unberechenbar anders. Sein Talent, wie Louisons Talent versanken alsdann – also das Stück, das Stück und dessen Schicksal ist die Hauptsache!
Da trat Zech in die Loge, und das Signal von der Bühne verkündete, daß die Vorstellung des neuen Dramas 210beginne. Ein Geräusch im Publikum wie leichtes Meeresbrausen flog durch den Saal. Der Vorhang ging in die Höhe, das Geräusch verstummte.
Im ersten Akte war Louison die frühere heitere Louison, da war vorauszusehen, daß im Publikum kein Zweifel an ihrem Talente auftauchen werde. Sie wurde mit allgemeinem, lebhaftem Beifalle empfangen und sah schön und liebreizend aus. Es war eine glänzende Gesellschaft bei ihr versammelt, in welcher sie sich als Wirtin sicher und heiter bewegte. Sie bemerkte es nicht, daß ihr brutaler Courmacher, der Engländer Donegal, ihren edlen Verehrer, den Grafen Fronsac, zum Duell herausforderte, sie gab ihrem bescheidenen Freunde, des Namens Anatole, recht, als er ihr vorstellte: die luxuriöse Lebensweise werde ihre Gage und mehr noch verschlingen, und antwortete lustig: Das ist schon geschehen, und ich werd' mich auch bessern, aber morgen erst, morgen erst! Das Leben ist so schön, und wenn man es gewaltsam ändert, setzt man die ganze Schönheit aufs Spiel. Also morgen erst und langsam ändern, unmerklich ändern und mit Ihrer Beihilfe, Anatole! Jetzt wollen wir noch lachen und singen. Und sie sang auf allgemeinen Wunsch ein Couplet mit ihrer früheren Verve, und der Akt schloß unter jubelndem Beifalle des Publikums.
»Es geht gut,« sagte Zech.
»Die Gefahren kommen erst,« erwiderte Lauriston.
Sie kamen schon im zweiten Akte. Mit den Gläubigern und Gerichtsdienern und mit dem heftig zudringenden Donegal mußte Louison ernst werden, die neue Louison mußte sich entwickeln, besonders als es zu dem eigentümlichen, so seltsam verklausulierten Eheversprechen kam. Da mußte sie eine ganz neue Schauspielerin sein, wenn sie am Schlusse des Aktes auf einen Sessel sinkt und ausruft: »Rose, ich habe mein Leben verspielt!«
Das Publikum blieb still nach dem Fallen des Vorhangs. Und nun regte sich die Opposition durch einzelne mißbilligende 211Rufe und durch Zischen. Daraufhin stand aber in den Sperrsitzen ein starker Mann auf und rief mit Stentorstimme: »Brava! brava!« und klatschte schallend in die Hände. Dies war Rosas, und er gab damit das Signal zum ziemlich allgemeinen Beifall. Jetzt wird das Zischen stärker, bewirkt aber, daß sich der Beifall zu vollständiger Macht sammelt und den Sieg davonträgt.
»Auch gut,« sagte Zech.
»Schon unter Kampf,« erwiderte Lauriston.
Dritter Akt Trauung in Dublin. Wortbrüchiger Überfall Donegals, Hilfe durch Roses Glockenläuten – Flucht.
Totenstille im Publikum bei diesen gefährlichen Szenen. Sichtbare Spannung, als Louison, welche flüchten soll, kraftlos zusammenbricht – die einst nur lustige Louison! – und, von Rose unterstützt, mühsam die Tür gewinnt. Nochmals zusammenknickend und einen schweren Seufzer ausstoßend, überschreitet sie die Tür, der Vorhang fällt, und im Publikum erhebt sich augenblicklich ein Sturm des Beifalls und ein heftiges Zischen der Opposition. Mitten aus dem Lärm hört man eine donnernde Stimme: »Sie kann's! sie kann's!« Natürlich des Signor Rosas Stimme. Und unter seiner leidenschaftlichen Anführung wird der Beifall so ungestüm und massenhaft, daß die Opposition geradezu niedergedonnert wird.
»Sieg!« spricht Zech.
»Durch sie, durch sie allein!« antwortete Lauriston.
Ganz gegen Lauristons Erwarten entwickelt sich der vierte Akt in seinem Stillleben ungemein günstig. Die gebrochene Louison, welche nur allmählich durch den echten Liebhaber Anatole, durch sein geistreiches Gespräch, durch Erlernen des Versevortrags und künstlerischer Grundsätze langsam aufgerichtet wird, Louison mit der innerlichen Kraft ihres Talentes trägt den ganzen Akt. Man findet die bei ihr unerwarteten Seelentöne zauberhaft, die einzelnen leisen Bravorufe, die einzelnen halblauten Stimmen »Vortrefflich! vortrefflich!« 212verbreiten eine so allgemeine Rührung und sympathische Stimmung durch das ganze Haus, daß der Akt ohne Widerspruch unter enthusiastischem Beifall schließt.
»Rührend,« sagte Zech.
»Überwältigend,« erwiderte Lauriston. Er selbst war überwältigt. In ihrer ganzen Macht des Talentes hatte er jetzt Louison gesehen, und urplötzlich stand es sonnenklar vor ihm: Alle Opfer der Welt bringst du für ihren Besitz.
Das ist die Macht der Schauspielerin auf die Männerwelt, daß ihre schönen Eigenschaften verklärt erscheinen vom Schimmer dramatischer Poesie.
Auch unten, wo Rosas und die schwarze Dame saßen, war die Wirkung die tiefste. Der brave Clown, welcher das Tragische als das Unangenehme bezeichnet hatte, war gerührt wie ein Kind und weinte heiße Tränen. Schluchzend sagte er zur schwarzen Dame: »Sehen Sie, Sie weinen auch, weinen rechtschaffen. Nun haben Sie's erlebt, daß sie ein Engel ist, ein Engel vom Himmel. Ich aber war ein Esel, als ich sie vor dem Sentimentalwerden warnte. Entschuldigen Sie, daß ich Ihre Rührung störe! Weinen Sie zu, weinen Sie zu, das tut ganz gut, ich hätt's nicht gedacht.«
Der letzte Akt hatte nun leichtes Spiel. Die Bestrafung Donegals, die Enthüllung der falschen Ehezeremonie waren jedermann erwünscht, und als nun in der Schlußszene Louison die Befreiung angekündigt wurde und ihr ganzes reiches Naturell in enthusiastischen Jubel, in jubelvolles Lachen ausbrach, da war auch die Wirkung ein voller Sieg. Dies Lachen war ja die richtige Steigerung der früheren fröhlichen Louison. Jetzt war ihre Fröhlichkeit noch viel stärker, weil sie aus vollem Inhalte entsprang und frei wurde – der Beifall wollte kein Ende nehmen, und der Regisseur konnte lange nicht zu Worte kommen, um den Namen Lauristons als den Namen des Autors zu nennen.
Lauriston stürzte dann auf die Bühne und umarmte 213Louison vor aller Welt. Und Louison umarmte ihn wieder mit voller, glücklichster Hingebung.
Lauriston und Zech brachten sie nach Hause, wo Rambert sie erwartete. Er war ebenfalls tief gerührt und schloß seinen Pflegling mit den Worten in die Arme: »Mein liebes Kind, das war der schönste Abend meines Lebens.«
»Dir dank ich ihn, und du dankst ihn dir. Der Güte dankst du ihn, welche du Guter mir unerschöpflich angetan« – sagte sie leise und innig.
Was bleibt übrig als das banale Herkommen: man setzt sich zur Tafel, und der Champagner knallt wie Freudenruf.
So auch hier. Aber hier kamen doch noch Überraschungen. Eine Nachtmusik vor dem Hause drang herauf, und Rosas, welcher sie herbeigeführt, öffnete die Zimmertür.
Er ließ die schwarze Dame eintreten.
»Meine Mutter!« rief Lauriston und flog ihr entgegen.
»Deine überzeugte Mutter, Alfred. Ich kam als Störenfried und kam glücklicherweise zu spät. Die Theaterzettel mit dem Titel deines Stückes ließen mir nichts mehr übrig als zuzusehen und zuzuhören.«
Und nun ging sie zu Louison, schloß sie in ihre Arme, küßte sie auf die Stirn und sagte: »Der Himmel selbst hat Sie meinem Sohn geschenkt, ich danke dem Himmel, denn ein besseres Wesen konnte ihm nicht geschenkt werden.«
Rosas an der Türschwelle heulte.
Was ist weiter zu sagen? Die echte Trauung folgte in kurzer Zeit, und gleichzeitig wurden Zech und Rose getraut.
Zech und Rose waren ein kerngesundes Paar, und ihre Ehe wurde mit Kindern gesegnet.
Das war leider Louison versagt: sie ist kinderlos verblieben.