Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Hundertachtzehntes Kapitel

General Barrow, dessen Truppen jetzt verpflegt und ausgeruht waren, mußte sich auf den Weg machen zu der befohlenen Vereinigung mit General Chauvel, kurz vor Damaskus; beide Heeresteile sollten gemeinsam in die Stadt einziehen. Er bat mich, mit den arabischen Streitkräften die rechte Flanke zu übernehmen. Das entsprach meinen Wünschen: längs der Hedschas-Bahn ging bereits Nasir vor in engster Fühlung mit der Hauptmasse der weichenden türkischen Heertrümmer und zerrieb sie vollends durch ununterbrochene Angriffe bei Tag und Nacht. Ich persönlich hatte noch mancherlei zu tun und blieb daher noch einen weiteren Tag in Dera, froh der Ruhe in der Stadt nach dem Abzug der Truppen. Denn Dera lag am Rande der offenen Wüste, und die Masse Inder hatten mich gestört, weil sie nicht hierher paßten. Zur Wüste gehört der einzelne, schweigende Mann, der Sohn der Einsamkeit, abgeschieden von der Welt, wie im Grabe. Diese Soldaten, in Trupps wie Schafe, schienen dieser Wüste unwürdig.

Überhaupt empfand ich etwas Kümmerliches und Beengtes an der indischen Soldateska; ein Bewußtsein eigener Minderwertigkeit, eine wohlbedachte Unterwürfigkeit, grundverschieden von dem unbefangenen Freimut der Beduinen. Die Art, wie die britischen Offiziere mit ihren Leuten umgingen, entsetzte meine Leibgarde, der persönliche Ungleichheit ein fremder Begriff war.

Zur Nacht lagerte ich mit meinen Leuten auf dem einstigen Flugplatz. Bei den halb niedergebrannten Schuppen lärmten sie und stritten sich nach Herzenslust, veränderlich und leicht erregbar wie der Spiegel des Meeres. Abdulla brachte mir – zum letzten Male – den nach seiner Art gekochten Reis in der silbernen Schale. Nachdem ich gegessen hatte, versuchte ich, meine Gedanken in die Leere der Zukunft zu richten; aber mein Geist war ebenso leer, meine Träume verloschen wie Kerzen im Sturmwind des Erfolges. Vor mir lag unser Ziel, schon zu nahe, um noch ein Ziel zu sein; doch hinter mir lag das Werk zweier langer Jahre, und alle Mühsal war vergessen oder verklärt. Namen klangen mir durch den Sinn, alle herrlich in der Erinnerung: Rumm das Erhabene, Petra das Strahlende, Asrak das Stille, Batra das sehr Reine. Aber die Menschen waren anders geworden. Der Tod hatte die Besten und Edelsten hinweggerafft; und die neue hochmütige Gespreiztheit derer, die übriggeblieben waren, verletzte mich.

Schlaf wollte nicht kommen. Noch vor Tag weckte ich daher Stirling und meine Fahrer; wir stiegen in unsern Rolls, genannt »der blaue Dunst«, und machten uns nach Damaskus auf. Die weiche, schmutzige Straße war anfangs tief ausgefahren, dann mehr und mehr verstopft durch die vorrückenden Kolonnen und die Nachhut der Division Barrow. Wir bogen seitlich ab und fuhren querfeldein zu der einst von den Franzosen gebauten Bahnlinie, deren alte Schotterung uns einen zwar etwas holprigen, aber freien Weg gab; und wir ließen den Wagen laufen. Gegen Mittag sahen wir den Wimpel Barrows am Ufer des Flusses, wo seine Pferde getränkt wurden. Meine Leibgarde war schon nahe heran, und so bestieg ich mein Kamel und ritt zu ihm hinüber. Wie alle auf Pferde eingeschworenen Reiter, dachte er über Kamele etwas verächtlich; in Dera hatte er geäußert, wir auf unsern Kamelen würden wohl kaum mit seiner Kavallerie Schritt halten, die Damaskus in drei starken Tagemärschen erreichen könnte.

Als er mich daher so frisch heranreiten sah, zeigte er sich etwas erstaunt und fragte, wann wir in Dera aufgebrochen wären. »Heute Morgen«, erwiderte ich. Seine Miene zog sich in die Länge. »Und wo gedenken Sie heute zur Nacht haltzumachen?« »In Damaskus«, rief ich vergnügt und ritt davon. Ich hatte mir wiederum einen Feind gemacht.

Es wurmte mich etwas, daß ich ihm einen Streich spielen sollte, denn er war meinen Wünschen großzügig entgegengekommen. Aber der Einsatz war hoch, weit höher als er ahnen konnte; und es war mir gleich, was er über mich dachte. So gewannen wir denn auch das Spiel.

Ich kehrte zu Stirling zurück, und wir fuhren weiter. In jedem Dorf ließen wir für den englischen Vortrab Nachricht zurück, wo und wie weit vom Feinde wir wären. Stirling und ich fanden die Vorsicht, mit der Barrow sich vorwärts bewegte, denn doch stark übertrieben: jedes völlig einzusehende Tal wurde von Patrouillen abgesucht, jede verlassene Höhe von vorgeschobenen Abteilungen besetzt; und das alles bei einem Marsch durch befreundetes Land. Man sah daran so recht den Unterschied zwischen den raschen und sicheren Bewegungen unserer arabischen Irregulären und den behutsamen Methoden normaler Kriegführung.

Bis nach Kiswe, hart südlich Damaskus, war Ernstliches nicht zu befürchten. Und dort trafen wir mit der von Südwesten kommenden Division Chauvel zusammen; außerdem näherte sich dort die Hedschas-Bahn unserer Straße. Längs der Bahnlinie aber befanden sich Nasir, Nuri Schaalan und Auda, mit den Stämmen, in Verfolgung jener feindlichen Kolonne von viertausend Mann (in Wirklichkeit waren es nahezu siebentausend), die von unseren Fliegern vor drei Tagen bei Scheik Saad gemeldet worden war. Die Stämme hatten die ganzen drei Tage ununterbrochen mit dieser Kolonne im Kampf gelegen.

Als wir näher kamen, sah man hinter dem Höhenrücken rechts, hinter dem die Bahn lag, Schrapnells aufsteigen. Bald darauf zeigte sich eine türkische Kolonne, etwa zweitausend Mann stark, die sich, in einzelne ungeordnete Gruppen zerteilt, nordwärts bewegte und von Zeit zu Zeit anhielt, um ihre Gebirgsgeschütze abzufeuern. Wir fuhren rasch weiter, um die Verfolger einzuholen; unser großer blauer Rolls war weithin sichtbar auf der Straße. Bald erschienen auch von der türkischen Kolonne her einige arabische Reiter und galoppierten auf uns zu, dabei mit elegantem Sprung die zahlreichen Bewässerungsgräben nehmend. Wir erkannten Nasir auf seinem hellbraunen Hengst, dem herrlichen Tier, nach hundert Meilen Gefechtsritt noch voller Feuer; ferner den alten Nuri Schaalan und etwa vierzig Mann ihres Gefolges. Sie berichteten, daß die dort sichtbare türkische Kolonne der ganze Rest der Siebentausend wäre. Die Rualla hingen mit zäher Hartnäckigkeit an ihren beiden Flanken. Auda abu Taji wäre über den Dschebel Mania geritten; er wollte die Wuld Ali, seine Freunde, sammeln und sich dort in den Hinterhalt legen, um die feindliche Kolonne abzufangen. Sie hofften, die Türken von hier aus in die Berge ihm in die Falle zu treiben. Ob mein Erscheinen endlich das Eintreffen baldiger Hilfe bedeute?

Ich berichtete ihnen, daß starke englische Kräfte dicht hinter mir im Anmarsch wären. Wenn sie den Feind nur noch eine Stunde aufhalten könnten … Nasir sah sich nordwärts um und entdeckte einen ummauerten und mit Baumgruppen umstandenen Pachthof, der das Tal, durch das die Türken zogen, sperrte. Er gab Nuri Schaalan Bescheid, und sie eilten dorthin, um die Türken aufzuhalten.

Wir fuhren die Straße drei Meilen zurück bis zu den Indern im Vortrab der Division Barrow und unterrichteten ihren alten, mürrischen Oberst davon, was die Araber unternommen hätten, um uns den letzten Rest des Feindes in die Hand zu liefern. Er schien wenig geneigt, sich die schöne Marschordnung seiner Kolonne durcheinanderbringen zu lassen; aber zuletzt ließ er doch eine Schwadron seitlich herausschwenken und sie mit aller Vorsicht über die Ebene hin gegen die Türken vorgehen, die ihre kleinen Gebirgsgeschütze ihr entgegenrichteten. Ein oder zwei Schrapnells krepierten in der Nähe der Schwadron, woraufhin der Oberst – zu unserm Entsetzen, denn Nasir hatte sich in Erwartung sicherer Hilfe stark exponiert – den Rückzug befahl und seine Kolonne rasch wieder auf der Straße zusammenzog. Wir eilten hin – das Auto in tollen Sprüngen querfeldein – und baten ihn, doch vor diesen kleinen Gebirgsgeschützen keine Bange zu haben, gegen seine leichten Maschinengewehre könnten sie kaum ankommen. Aber weder freundliches Zureden noch Drohungen vermochten den alten Mann zu bewegen, fernerhin auch nur einen Zoll breit vom Wege abzuweichen. Wir fuhren schleunigst die Straße zurück, um den höheren Vorgesetzten ausfindig zu machen.

Ein Adjutant, den wir unterwegs trafen, sagte uns, daß die Inder dem General Gregory unterständen. Mit Hilfe unseres Freundes fanden wir denn auch den General und liehen ihm unsern Wagen, damit er der Brigade-Kavallerie rasche Befehle zukommen lassen könnte. Eine Ordonnanz galoppierte zurück, um die reitende Artillerie vorzuziehen. Sie eröffnete denn auch bald ein wirksames Feuer, indes das Middlesex-Kavallerieregiment vorging und, sich in die Araber einschiebend, über die türkische Nachhut herfiel. Als die Nacht herabsank, löste sich der Feind völlig auf; und, Geschütze, Gepäck und Ausrüstung zurücklassend, strömten die Reste in eiliger Flucht in die Berge, den beiden Gipfeln von Mania zu, in der Meinung, sie kämen dort in sicheres Gelände.

In dem sicheren Gelände jedoch stand Auda mit seinen Arabern bereit; und in dieser seiner letzten Nacht des Kampfes tötete der alte Mann, was er nur töten konnte, fing, raubte, plünderte, bis ihm der dämmernde Tag zeigte, daß es nichts mehr für ihn zu tun gab. Das war das Ende der vierten türkischen Armee, die uns zwei Jahre lang den Weg gesperrt hatte.

Dank Gregorys glücklichem Einschreiten konnten wir Nasir jetzt gerechtfertigt gegenübertreten. Wir fuhren nach Kiswe, wo wir, der Verabredung gemäß, um Mitternacht mit ihm zusammentreffen wollten. Hinter uns strömten die indischen Truppen in den Ort. Wir suchten nach einem einsamen Fleckchen, aber schon wimmelte es überall von Tausenden von Soldaten.

Das Gelärm und Gewühl so vieler Menschen trieb mich umher, machte mich selbst ruhelos. In der Dunkelheit blieben meine Abzeichen unerkannt, und ich konnte nach Belieben umherstreifen, ein unbeachteter Araber; und so, mitten unter Menschen meiner Rasse und dennoch abgeschieden von ihnen, kam ich mir wunderlich einsam vor. Die Mannschaften unserer Panzerwagen waren mir zu individuellen Persönlichkeiten geworden, weil es ja nur wenige waren und mir durch lange Kameradschaft verbunden; auch hatten diese Monate schutzloser Preisgegebenheit an flammende Sonne und tobenden Wind sie wirklich zu ausgeprägteren und erfreulicheren Persönlichkeiten gemacht. Inmitten dieser Soldateska von Neulingen, Engländern, Australiern, Indern, gingen sie so fremd und scheu umher wie ich selbst, gekennzeichnet durch ihr unansehnliches Äußere; denn in wochenlangem, ununterbrochenem Tragen hatten sich ihre Kleider durch Schweiß und Gebrauch allmählich nach ihrem Körper geformt und waren mehr zu einer Art zweiter Haut geworden.

Die andern aber waren regelrechte Soldaten, ein seltener Anblick nach zwei Jahren irregulären Wüstenkrieges. Und wieder kam mir das Geheimnis der Uniform zu Bewußtsein: sie gibt einer Masse Festigkeit, Würde und etwas Überpersönliches, gleichsam die Straffheit eines einzelnen, aufrechten Mannes. Diese Livree des Todes, die ihre Träger vom gewöhnlichen Leben abschied, war das Zeichen dafür, daß sie sich mit Leib und Seele dem Staate verkauft und sich zu einem Dienste verpflichtet hatten, der deshalb nicht weniger verächtlich war, weil er freiwillig übernommen wurde. Einige von ihnen hatten ihrem Hang zur Gesetzlosigkeit nachgegeben; andere trieb der Hunger; andere wieder dürsteten nach dem Glanz, den nach ihrer Meinung das Soldatenleben mit sich brachte. Aber von ihnen allen fühlten nur die sich wirklich wohl, die ihr Selbst auszugeben bereit waren; denn für jeden, der den Frieden liebte, waren sie weniger als Menschen. Nur auf eine gewisse Sorte Weiblichkeit übte die Uniform einen Reiz aus, und die Entlohnung des Soldaten, von der er nicht leben konnte wie der Arbeiter, sondern die für ihn nur ein Taschengeld war, schien am nützlichsten angewandt, wenn man bisweilen durch sie im Trunk Vergessenheit suchte.

Verbrecher mußten Gewalt erdulden. Sklaven konnten, wenn sie es wollten, geistig frei sein. Aber der Soldat übertrug seinem Eigentümer vierundzwanzig Stunden am Tage die Verfügung über seinen Leib, seinen Geist und sein Empfindungsleben. Ein Sträfling hatte die Freiheit, das Gesetz zu hassen, das ihn einsperrte, die ganze Menschheit zu hassen, wenn er am Haß Gefallen fand. Aber der mißmutige Soldat war ein schlechter Soldat oder vielmehr überhaupt kein Soldat. Ihre Affekte mußten nichts als gedungene Figuren auf dem Schachbrett des Königs sein.

Seltsam diese Macht des Krieges, die es uns allen zur Pflicht machte, uns zu entmenschlichen! Die Australier, die mir in ihrer ungezwungenen Art scherzhaft auf die Schulter klopften, hatten mit ihrer bürgerlichen Kleidung auch die Hälfte der Zivilisation abgelegt.

Sie waren vorherrschend in diesem nächtlichen Biwak, zu sicher ihrer selbst, um auf sich acht zu geben. Und trotzdem, wenn sie lässig einherstolzierten mit ihren kurzen, gedrungenen Gestalten – alles Kurven an ihnen, keine geraden Linien, aber mit alten, müden Augen – und trotzdem: sie erschienen seelisch dünn, leer, instinktbeherrscht, immer sprungbereit, mit dem beunruhigend Drohenden einer halbgezückten Klinge. Beunruhigend waren sie, nicht schrecklich.

Die englischen Soldaten waren nicht instinkthaft, noch lässig wie die Australier, sondern zusammengerafft, mit einer trägen, fast einfältigen Achtsamkeit. Sie waren peinlich adrett im Äußeren, zurückhaltend und gingen paarweise für sich. Die Australier standen immer in Gruppen beisammen, gleichsam in einem freundschaftlichen Zölibat, in dem sich die Gleichheit von Reihe und Glied aussprach, die Verbundenheit durch ihre Uniform. »Zusammenhalten« nannten sie das; ein aus dem Kriege geborenes Verlangen, Gedanken, die tief genug waren, um Anstoß zu erregen, keinen dritten hören zu lassen.

Zwischen allen diesen Soldaten nun die Araber, ernst blickende Männer aus einer anderen Welt. Mein verschrobenes Pflichtgefühl hatte mich zwei Jahre lang in ihre Mitte verbannt. In dieser Nacht heute stand ich ihnen näher als den Truppen, und ich empfand das als einigermaßen beschämend. Dieser sich mir aufdrängende Kontrast, gemischt mit Heimweh, schärfte meine gereizten Sinne mehr denn je; ich sah nicht nur die Ungleichheit der Rasse, hörte die Ungleichheit der Sprache, sondern konnte auch ihre Gerüche unterscheiden – die schwere, stockige, geronnene Säuerlichkeit verschwitzter Baumwolle über den arabischen Haufen, und den muffigen Brodem der englischen Soldaten: diesen warmen Pißdunst zusammengepferchter Männer in Wollkleidern, beißend und atemversetzend wie Ammoniak, einen scharfen, gärenden Naphthageruch.


 << zurück weiter >>