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Im Paragraph 392 meiner Theodizee habe ich das Verlangen ausgesprochen, die von Herrn Bayle angeführten Beweise zu Gesicht zu bekommen, die im fünften und sechsten der 1703 in Trevoux gedruckten Briefe enthalten sind. Wir müssen bezüglich des Inhalts dieser kleinen Abhandlung auf die Theodizee selbst verweisen, namentlich auf die Anmerkungen 110 und 111 des ersten Bandes. Über François Lami, den Verfasser der hier in Rede stehenden Lettres philosophiques, ist das Nötige bereits in Anm. 58 bemerkt worden. Der ehrwürdige Pater Desbosses hat mir nun diesen Brief mitgeteilt. Man versucht darin nach geometrischer Methode zu beweisen, daß Gott die einzige wahre Ursache alles Wirklichen ist, und die Lektüre des Briefes hat mich in der Ansicht bestärkt, die ich schon am gedachten Orte ausgesprochen habe, daß nämlich diese Behauptung in einem sehr guten Sinne wahr sein könne, da Gott die alleinige Ursache der reinen und unbedingten Wirklichkeiten oder der Vollkommenheiten ist, daß man aber, wenn man unter den Wirklichkeiten die Beschränkungen oder Beraubungen versteht, sagen kann, die zweiten Ursachen tragen zur Hervorbringung des Beschränkten bei, und daß sonst Gott die Ursache, und sogar die einzige Ursache der Sünde sein würde. Ich bin auch geneigt, zu glauben, daß der tüchtige Verfasser des Briefes nicht sehr von meiner Ansicht entfernt ist, obgleich er unter den Wirklichkeiten, deren Ursache Gott allein sein soll, alle Beschaffenheiten zu verstehen scheint, denn ich glaube, im Grunde genommen wird er nicht annehmen, daß Gott die Ursache und der Urheber der Sünde sei. Er drückt sich sogar in einer Weise aus, die seine These umzustoßen und den Geschöpfen eine wahrhafte Tätigkeit zuzugestehen scheint, denn in der Bekräftigung des achten Folgesatzes aus dem zweiten Hauptsatze heißt es: »Die natürliche Bewegung der Seele ist, obgleich an sich bestimmt, doch nicht-bestimmt in bezug auf die Dinge, denn sie ist die Liebe zum Guten überhaupt. Durch die Vorstellungen von dem Guten, das an den besondern Dingen zum Vorschein kommt, wird diese Bewegung eine besondere und in bezug auf diese Dinge bestimmt, und wie der Geist die Macht hat, seine Vorstellungen auf mannigfache Art zu verändern, so kann er auch die Bestimmungen seiner Liebe verändern. Er braucht deshalb nicht der Macht Gottes zu erliegen oder sich der Tätigkeit desselben zu widersetzen. Diese Bestimmungen der Bewegungen nach jenen besondern Dingen hin sind nicht unüberwindlich, und eben infolge dieser Nicht-Unüberwindlichkeit ist der Geist frei und imstande, sie zu verändern; bei alledem aber bewirkt er diese Veränderungen nur durch die Bewegung, die Gott ihm gibt und ihn ihm erhält.«
Nach meiner Art, mich auszudrücken, würde ich gesagt haben, daß die Vollkommenheit in der Tätigkeit des Geschöpfes von Gott kommt, daß die Beschränkungen aber, die sich darin finden, eine Folge der ursprünglichen Begrenzung und der zum Geschöpfe hinzugetretenen frühern Begrenzungen sind und daß dies nicht bloß bei den Geistern, sondern auch bei allen übrigen Substanzen der Fall sei, die infolgedessen Ursachen sind, welche zu der Veränderung mitwirkten, die an ihnen selbst geschieht. Denn jene Bestimmung, von welcher der Verfasser spricht, ist nichts anders als eine Beschränkung.
Wenn man nun daraufhin alle Beweise und Folgesätze seines Briefes durchgeht, so wird man je nach der Auslegung, die man davon machen kann, die meisten seiner Behauptungen zugeben oder verwerfen können. Denn wenn man unter der Wirklichkeit nur Vollkommenheiten oder positive Wirklichkeiten versteht, so ist Gott die wahre einzige Ursache derselben. Wenn aber unter den Wirklichkeiten das mit einbegriffen ist, was Beschränkungen enthält, so wird man einen guten Teil der Thesen leugnen, und der Verfasser selbst hat uns das Beispiel dazu gegeben.
Um die Sache begreiflicher zu machen, habe ich mich in der Theodizee des Beispiels eines beladenen Bootes bedient, das der Strom um so langsamer fortführt, je mehr es belastet ist. Man ersieht daraus klar und deutlich, daß der Strom die Ursache des Positiven in der Bewegung, der Vollkommenheit, der Kraft, der Geschwindigkeit des Schiffes ist, während die Last die Ursache der Beschränkung dieser Kraft ist und die Verzögerung hervorbringt. Das Beispiel des beladenen Bootes findet sich in der Theodizee B. § 30 entwickelt. Wir sind in der Anm. 110 zum ersten Bande der Theodizee näher darauf eingegangen.
Es ist lobenswert, wenn man die Methode der Geometer auf die metaphysischen Gegenstände anzuwenden sucht: aber man muß gestehen, daß man bis jetzt selten Glück damit gehabt hat. Selbst Herr Descartes hat bei all der großen Geschicklichkeit, die ihm nicht abgesprochen werden kann, vielleicht nie weniger Erfolg gehabt, als da er sie in einer seiner Antworten auf die ihm gemachten Einwürfe anwandte. Nämlich in dem bereits in Anm. 137 erwähnten Anhang zu den Meditationes de prima philosophia. In der Mathematik nämlich kann man seinen Zweck leichter erreichen, weil die Zahlen, Figuren und Rechnungen die in den Worten versteckten Unvollkommenheiten ausgleichen; in der Metaphysik aber, wo man (wenigstens bei dem gewöhnlichen Folgerungsverfahren) dieser Hilfe beraubt ist, müßte die auf die Form des Schlusses und bei den genauen Definitionen der Ausdrücke angewandte Schärfe und Genauigkeit diesen Mangel ersetzen – dies ist jedoch durchaus nicht geschehen. Leibniz hat mit diesem Tadel der geometrischen Methode in der Philosophie nicht ganz das Richtige getroffen: Nicht der Mangel an Schärfe und Genauigkeit, sondern die ermüdende Langweiligkeit macht diese Methode, die namentlich von Spinoza in die Philosophie eingeführt wurde, für diese Wissenschaft unbrauchbar. In der Geometrie wird diese Langweiligkeit durch die Hilfskonstruktionen aufgehoben, die hier den Fortschritt der Erkenntnis vermitteln, indem mittelst ihrer anschaulich dargelegt wird, daß ein Allgemeines in einem Konkreten enthalten ist und daß daher die Gesetze für jenes auch für dieses gelten; in der Philosophie aber ist eine solche anschauliche Darstellung oder Zerlegung des Inhalts eines Konkreten nicht möglich, der Schwerpunkt ruht hier vielmehr auf den Axiomen und Definitionen (bei denen daher Leibniz mit Recht die größte Genauigkeit und Schärfe verlangt), und das ganze Folgerungsverfahren bewegt sich in rein selbstverständlichen Identitäten und sinkt demgemäß zum leeren Formalismus herab.
Der Verfasser des Briefes, der ohne Zweifel viel Feuer und viel Scharfsinn verrät, geht bisweilen ein wenig zu schnell vorwärts, wie z. B., wenn er zu beweisen unternimmt, daß in der Ruhe ebensoviel Wirklichkeit und Kraft enthalten sei wie in der Bewegung. Er führt im fünften Folgesatze des fünften Hauptsatzes an, daß der Wille in der Ruhe nicht weniger positiv und nicht weniger unüberwindlich ist wie in der Bewegung. Das mag sein – aber folgt daraus, daß in der einen ebensoviel Wirklichkeit und Kraft enthalten ist wie in der andern? Ich vermag diese Folgerung nicht einzusehen, und man könnte ja auf diesem Wege auch beweisen, daß ebensoviel Kraft in einer schwachen Bewegung wie in einer starken enthalten sei. Denn wenn Gott die Ruhe will, will er, daß der Körper an dem Orte A sei, wo er sich unmittelbar zuvor befand, und dazu genügt, daß kein Grund vorhanden ist, der Gott zur Veränderung bestimmt; will Gott aber, daß der Körper nachgehends am Orte B sei, so muß ein neuer Grund vorhanden sein, der Gott bestimmt, zu wollen, daß der Körper in B und nicht in C oder an sonst einem andern Orte sei und daß er mehr oder weniger schnell dort sei, und eben diesen Gründen des göttlichen Willens ist die Abschätzung für die Kraft und die Wirklichkeit zu entnehmen, die sich in den Dingen findet. Der Verfasser spricht jedoch in diesem Briefe kaum von den Gründen, die Gott zum Wollen bewegen und von denen alles abhängt – diese Gründe sind aber den Gegenständen entnommen.
Zum zweiten Folgesatze des ersten Hauptsatzes bemerke ich noch, daß er allerdings wahr, aber kaum richtig bewiesen ist. Es wird behauptet, Gott brauche nur aufzuhören, zu wollen, daß ein Wesen sei, und es würde nicht mehr sein, und man beweist dies Wort für Wort also: » Beweis: was nur durch den Willen Gottes existiert, existiert nicht mehr, sobald dieser Wille nicht mehr ist«, (aber eben dies soll bewiesen werden; man versucht dies durch den Zusatz:) » Nehmt die Ursache weg, und ihr beseitigt die Wirkung.« (Diese Maxime hätte unter den zu Eingang aufgestellten Axiomen aufgeführt werden müssen, unglücklicherweise aber läßt sie sich zu den philosophischen Regeln rechnen, die zahlreichen Ausnahmen unterliegen.) Nach dem vorhergehenden Hauptsatze und seinem ersten Folgesatze existiert nun aber jedes Wesen nur durch den Willen Gottes, also usw.
In diesem Ausdrucke: alles existiert nur durch den Willen Gottes, liegt eine Zweideutigkeit. Will man damit sagen, daß die Dinge nur durch diesen Willen zu existieren beginnen, so beruft man sich mit Recht auf die frühern Hauptsätze. Will man aber damit sagen, daß das Dasein der Dinge immer eine Folge des göttlichen Willens sei, so setzt man ungefähr gerade das voraus, was in Frage steht. Es müßte also vorher bewiesen werden, daß das Dasein der Dinge vom Willen Gottes abhängt und nicht bloß eine einfache Wirkung, sondern auch, nach dem Maße der Vollkommenheit, die es enthält, ein Abhängiges desselben ist. Dies angenommen, hängen die Dinge ebensogut nachgehends wie im Anfang vom Willen Gottes ab, und in diesem Sinne habe ich die Sache in meiner Theodizee aufgefaßt.
Indessen anerkenne ich, daß der in Rede stehende Brief vortrefflich und der Lektüre wert ist und daß er schöne und wahre Anschauungen enthält, wenn man ihn nur in dem von mir angegebenen Sinne nimmt; diese Art der logischen Betrachtung kann aber als Einleitung zu etwas weiter gehenden Betrachtungen dienen.