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An Joel Paul Kaltenhofer

Osnabrück, den 12ten Octobris 1772

Wertester Freund!

Sowie ich Ihren angenehmen Brief gelesen hatte, bekam ich eine ganz eigne Begierde, nämlich eine Abhandlung über die Frage zu schreiben, ob wohl ein Mensch des Morgends die Flinte eher ausziehen konnte ehe er seine Hosen anzieht. Sie sehen aus dem Fall, der sich in Ihrer Gasse zugetragen hat, daß die Frage wichtig ist. Ich glaube, sie muß mit Ja beantwortet werden, denn da nicht leicht jemand ums Leben kommt, wenn man seine Hosen ausläßt, hingegen, wenn die Flinte geladen bleibt, so etwas stattfinden kann, zumal wenn Herr Burkenstein (so hieß der Mensch) willens war, sich wieder zu legen, und dem Vorwitz des Mädchens vielleicht vorbeugen wollte, die leicht an die Flinte hätte greifen können während als er da lag, so stund er auf und zog die Flinte aus, ohne die Beinkleider anzulegen; wäre das Mädchen auch hereingekommen, so hätte er ja die Flinte wenigstens in der Hand, er mögte nun schon mit dem Ausziehen fertig gewesen sein oder nicht, und wo auch nun das Mädchen die Hand hingelegt hätte, so erhellt, daß keine Lebensgefahr mehr stattgefunden hätte. Es ist also ein großes Übergewicht von der Seite, die Herr Burkenstein gewählt hat, und es ist billig, daß ein Mensch, dem im Bette einfällt, daß er eine geladene Flinte in der Stube hängen habe, in einer Stadt nämlich, wo die Leute mehr aus Mutwillen zugreifen als aus der Absicht zu stehlen, oder kürzer, mehr neugierige als räuberische Finger haben, so ist es seine Pflicht sogleich aufzustehen und ohne etwas anders zu tun besagte Flinte zu entladen und alles andere Unglück das passieren könnte, wenn er im Hemd dastünde, als null anzusehen. Da ich nunmehr die Sache, wie mich dünkt, juristisch gewendet und gedreht habe, daß ich selbst nicht mehr weiß wo ich bin, und die Wörter Flinte und Hosen wohl 6mal geschrieben habe, so muß sie billig für entschieden geachtet werden.

Mein Observatorium ist fertig, und ich observiere schon 6 Tage, auch die Mondfinsternis habe astronomisch gesehen.

Ehe ich mich nach den Sternen wendete, so sah ich erst wo ich stund, das ist, ich beobachtete die Menschen mit denen ich zu tun hatte. Sie können nicht glauben, was die gemeinen Leute (denn die vornehmen taugen überall nicht viel in der Welt) für gute Häute und Seelen sind. Was für gute Bildungen, gesunde Farben und treuherzige Gemüter habe ich hier nicht gesehen! Die Bauernmädchen sind fast alle schön, sie gucken alle so grad und unverfälscht aus den Augen, daß sie bei Tage wenigstens jeden mutwilligen Gedanken wieder niederschlagen wenn er aufwill, bei Leuten versteht sich, die, wie ich, die Mienen etwas buchstabieren gelernt haben. Ihre Sprache ist sehr reich und naiv. Sie sollen 44 Redensarten haben zu sagen, der Kerl hat die Flucht ergriffen. Für den Schlitz in einem Mädchen-Rock haben sie 3 Wörter, worunter mir eines vorzüglich gefällt, das mich meine Aufwärterin gelehrt hat, doch mit so vieler Unschuld als ein Schul-Rektor von 60 Jahren seine Schüler das Wort penis. Lurklock sagen sie, auch Lurkholl (hole heißt noch im Englischen ein Loch) und Schröerholl, das letzte kann ich nicht analysieren, das erste hat mich deswegen sehr gefreut, weil im Englischen lurk so viel heißt als lauern, und würde man also lurklock durch Lauerloch übersetzen müssen. Denn das Göttingische Lork ist es wohl nicht. Wicht heißt ein Mädchen wenn es ganz allein steht, in der Zusammensetzung auch überhaupt eine junge Person, unser Bösewicht kommt wohl daher. En Grummel heißt ein Donnerwetter, et is en Grummel in der Lucht heißt, es ist ein Gewitter in der Luft, das ft verwandelt sich öfter in ch, achter heißt hinter und ist das englische After, die Holländer sagen ebenso.

Am Sonntage vor 8 Tagen haben wir das Jubiläum gefeiert. Es wurden, stellen Sie sich vor, 5 Kanonen auf den Markt nur etwa 30 Schritte von meinem Fenster hingepflanzt, die des Morgends um 8, des Nachmittags um 3 und des Abends um 7 gelöst wurden, zu gleicher Zeit wurden alle Kanonen um den Wall gelöset, wozu meine 5 das Signal waren. Die Katholiken hingegen hatten vor der großen Kirche 12 hingepflanzt, aus denen sie beinah den ganzen Tag feuerten, so daß ich an diesem Tage (es war just der Tag, da Sie den Brief an mich auf Ihrer Sommerstube schrieben) recht gesättigt worden bin. Auf dem Markt wurde den Leuten, und darunter auch mir, angedeutet die Fenster zu öffnen, zu meiner großen Freude, wie Sie sich vorstellen können. Kurz vor 8 Uhr legte ich mich mit einer Pfeife ans Fenster in der größten Erwartung, auf einmal, just da ich nach der andern Seite hinsah, ging die erste los. Sie können mir auf mein Wort glauben, die erste Empfindung, die ich davon hatte, äußerte sich gar nicht wie ein Knall, sondern just wie eine Ohrfeige. Ich glaube, ich habe mich in meinem Leben noch nicht so geschwind umgeguckt. Jetzo guckte ich hübsch immer auf die Zündlöcher, und dieses minderte den Schrecken etwas. Am Abend war es außerordentlich schön, als diejenige gelöset wurde, die zunächst an der Marktkirche stund, so kam ein Teil eines Kirchenfenster herausgeflogen, welches mit einem allgemeinen Jubelgeschrei aufgenommen wurde. An diesem Tage war ich etwas ausgelassen, welches ich fast immer bei Kanonaden bin, am Abend trank ich unsrer Gartengesellschaft in Göttingen Gesundheit während des Grummels von den Kanonen, welches unbeschreiblich angenehm war, ich hätte mir eine von meinen Locken drum abgeschnitten, wenn Sie und Herr Professor Meister hätten bei mir sein können. So oft eine Kanone auf dem Wall gelöset wurde, wurde allemal der Turm der Marktkirche gegen mir über wie vom Blitz erleuchtet, und dann kam der Schlag. Ich glaube, ich habe Ihnen schon gesagt, daß man das Fest feierte, weil vor 1000 Jahren Karl der Große die christliche Religion eingeführet hat, des Abends ging es in manchen Straßen her, als wenn man sie ihm zu Ehren wieder abstellen wollte.

Gestern wollte ein Brunnenmeister die Röhre in einen 24 Fuß tiefen Brunnen einsetzen, und was das künstlichste war, so wollte er sie einsetzen ob er gleich so besoffen war, daß er auf kein Bein stehen konnte. Der Eigentümer der Pumpe fand ihn gegen seinen Rausch arbeitend, ohne daß der Mann nur einen Zoll seinem Zweck näher gekommen wäre. Guter Freund, sagte der Bürger, laßt es heute, es geht nicht, es hat auch keine Eile. Ei, sagte der Pumpenmeister, so soll die Röhre auch hinein und wenn – – Da gab ihm der Tod einen so entsetzlichen Hieb, daß er nicht einmal das auch, das vermutlich folgen sollte, aussprechen konnte. Er fiel nämlich zwischen der Röhre und der Wand des Brunnens hinunter und wurde mit ganz zerschellertem Kopf herausgezogen. Mein Barbier, der dabei stund und ihm noch nachgriff, hat mir dieses erzählt.

Was dieses für ein Brief ist, ich schäme mich fast ihn wegzuschicken. Aber ich weiß, Sie halten es mir zugut. Ich habe heute noch 8 zu schreiben, da können Sie denken. Grüßen Sie alle gute Bekannten und behalten Sie mich lieb.

G. C. Lichtenberg

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