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XIII.

Leonie hatte sich gleich nach der Vorstellung in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Noch Stunden lang hatte sie, Unerfreuliches brütend, auf der Ottomane zu Füßen ihres Bettes gesessen und sich erst gegen drei Uhr Morgens niedergelegt. Die vierte Morgenstunde war längst vorüber, als sie endlich aus ihrem unerquicklichen halbwachen Zustande erlöst wurde und in festen Schlaf verfiel. Um zehn Uhr drückte sie den Knopf der elektrischen Klingel an ihrem Bett. Germaine eilte herbei, wünschte der Herrin Guten Morgen und brachte ihr außer dem Morgenblatte, das Leonie der Theaternotizen wegen schon im Bette zu durchblättern pflegte, einen kleinen Brief von wohlbekannter Hand. Leonie betrachtete das winzige Couvert eine Weile, unschlüssig, ob sie es jetzt oder erst nach dem Bade und Frühstück öffnen solle. Nach einigem Besinnen riß sie es auf. Es enthielt nur die Karte mit dem Namen: »Hugo Hall«, dem die Worte beigefügt waren: »bittet höflichst und innigst um die Gunst einer Unterredung.«

»Es wird auf Antwort gewartet,« berichtete Germaine.

»So?« fragte Leonie erstaunt. »Ist der Bote schon lange da?«

»Ein Stündchen etwa, gnädige Frau!«

»So sagen Sie ihm, er möge gegen Mittag wiederkommen.«

Leonie wußte in der That nicht, was sie Hugo antworten sollte. Es war ihr überaus peinlich, jetzt mit ihm zusammenzutreffen. Sie wußte, daß es zu einem unliebsamen, vielleicht sehr heftigen Auftritte kommen würde, und sie fürchtete sich davor. Aber sie erkannte zugleich, daß sie Hugo die erbetene Unterredung nicht versagen dürfe.

Die tiefe Verstimmung, die sich gestern durch die erlittene Demüthigung ihrer bemächtigt und die sich in den traurigen Stunden der nächtlichen Einsamkeit noch befestigt hatte, war durch den kurzen Schlaf nicht verscheucht worden, und in jener blöden Ungerechtigkeit, deren nur das Schuldbewußtsein fähig ist, war sie geneigt, Hugo für Alles verantwortlich zu machen, was sie selbst gesündigt, und was Vallini ihr Kränkendes zugefügt hatte. Sie dachte jetzt kaum noch an die Persönlichkeit des albernen Menschen, der ihr von seinen Erfolgen renommirte, während sie nach einem beruhigenden Worte lechzte. Zu ihrem wahren Entsetzen hatte sie sich davon überzeugt, daß sie jeden Versuch einer seelischen Verständigung mit ihm aufgeben müsse. Er verstand sie ja nicht einmal, wenn sie sich vertheidigen, ihre Handlung beschönigen wollte. Durch Hugo war sie verwöhnt. Er erfaßte die leiseste Andeutung, er las ihr die Gedanken von den Blicken ab; es war ihr sogar oft unangenehm gewesen, wie er ihre verborgensten Regungen durchschaut hatte. An ihn konnte sie sich halten, ihm konnte sie zürnen – Vallini hätte nicht gewußt, was er mit ihrem Zorn anfangen sollte –, und alle Reue, alle Enttäuschung, alle Beschämung, die sie fühlte, floß zusammen in heftigen Unwillen, ja in ein Gefühl der Empörung über Hugo.

Was wollte er nur von ihr? Wozu die Begegnung, die er begehrte, und die für beide Theile nur peinigend und aufregend sein konnte? Hatte sie nicht ohnehin schon genug gelitten? So dankte er ihr nun für Alles, was sie für ihn gethan hatte! Wenn er sie wirklich je geliebt, dann mußte er wissen, daß er sie jetzt zu schonen habe …

Jetzt mochte, jetzt konnte sie ihn nicht sehen.

Sie trat an den kleinen Schreibtisch, der in der Fensternische ihres Schlafzimmers stand, nahm eine Visitenkarte und setzte unter den Namen: »Frau Leonie Welsheim« die Worte: »wird morgen Nachmittag um zwei Uhr zu Hause sein«. Sie verschloß die Karte in ein stark parfümirtes Couvert und gab sie Germaine.

»Hier ist die Antwort, die nachher abgeholt wird.«

Sie athmete befriedigt auf, als sie das unangenehme Geschäft erledigt hatte. Nun hatte sie doch wenigstens einen Tag Ruhe vor ihm.

Weshalb hatte er ihr geschrieben? Was wollte er von ihr?

Hugo würde, wenn er sich diese Fragen gestellt, um die Antwort darauf selbst in Verlegenheit gewesen sein. Auch er wußte nicht, was er ihr sagen wollte und sollte; er wußte nur, daß er nicht so von ihr scheiden könne, daß er sie wenigstens noch einmal sehen und sprechen müsse. Noch einmal! War es denn wirklich dahin gekommen? Er vermochte es nicht zu fassen, aber er hatte die bestimmte Empfindung, daß das Band, das Leonie und ihn umschlungen hatte, nicht durch eine wahnsinnige Laune gelockert, sondern daß es wirklich zerrissen war.

Er saß in seinem Zimmer, in dem seine Siebensachen noch immer in Kisten und Kasten verpackt standen, und wartete auf Leonies Bescheid. Er wartete vergeblich. Die ungemüthliche Umgebung erhöhte seine unbehagliche Stimmung.

Endlich gegen elf Uhr klopfte es. Anstatt des erwarteten Briefes von Leonie aber brachte ihm das Mädchen eine Visitenkarte und meldete zugleich, daß der Herr den Herrn Doctor in einer sehr wichtigen Angelegenheit dringend zu sprechen wünsche. Hugo las: »Bernhard Scherfer, Theateragent.«

»Ich lasse den Herrn bitten,« beschied er das Mädchen.

Gleich darauf betrat ein junger Mann im Alter von etwa fünfunddreißig Jahren das Zimmer. Er war sehr anständig gekleidet und sah klug aus. Er verbeugte sich mit fast unterwürfiger Höflichkeit und begann, nachdem er sich auf Hugos Einladung gesetzt hatte, mit klangvoller Stimme und großer Gewandtheit im Ausdruck einen längeren Vortrag.

»Ich habe Sie vergeblich in Ihrer früheren Wohnung gesucht. Ihre Frau Wirthin konnte oder wollte mir Ihre neue Adresse nicht angeben, und wenn wir nicht eine so gut organisirte Meldepolizei hätten, würde ich vielleicht noch Tage lang nach Ihnen gefahndet haben. Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Haben Sie über Ihr neues Schauspiel schon verfügt? Ich meine: haben Sie schon einem Agenten den Debit an andere Bühnen, die Drucklegung des Manuscriptes, die Versendung, Abschließung der Verträge, Einziehung der Tantiemen u. s. w. übertragen?«

»Es haben sich allerdings schon mehrere Herren dazu erboten, aber ich habe noch keine Zeit gehabt, mich darum zu kümmern.«

»Das ist nur lieb zu hören. Dann möchte ich mir erlauben. Ihnen einen Vorschlag zu machen. Ich möchte Ihnen die Mühe abnehmen, sich nur den geschäftlichen Vertrieb des Stückes noch zu kümmern, – und zwar möchte ich das im weitesten Sinne des Wortes. Ich habe Ihr Schauspiel gesehen, ich verspreche mir nicht nur hier, sondern auch in Oesterreich, in München, Dresden u. s. w. und in der Provinz einen nachhaltigen Erfolg. Ich sage Ihnen das, damit Sie mich nicht mit den Leuten verwechseln, die gute Waare entwerthen wollen, um sie billiger an sich zu bringen. Und ich wäre durchaus nicht abgeneigt, Ihr Stück käuflich zu erwerben. Sie würden alle Rechte an mich abtreten – das Recht der Aufführung für alle Länder und auf die ganze gesetzliche Frist –, und ich würde Ihnen dafür achttausend Thaler zahlen. Baar und sofort, bei Unterzeichnung des Vertrags. Ich glaube nicht, daß bis zur Stunde jemals einem jungen Dramatiker in Deutschland ein solches Anerbieten gemacht worden ist. Ich füge hinzu, daß ich trotzdem kein schlechtes Geschäft zu machen glaube und, wenn mich meine Berechnung selbst diesmal im Stich lassen sollte, doch das vollste Vertrauen habe, mit Ihrem nächsten Stücke ein etwaiges Deficit zu decken. Sie würden mir, da Sie mit meiner Geschäftsführung unzweifelhaft zufrieden sein würden, gewiß versprechen, auch Ihre späteren Dramen mir anzuvertrauen.«

Hall war von dem Vorschlage des Agenten auf's Aeußerste überrascht. Er hatte sich bisher kümmerlich durch's Leben geschlagen. Um durch sein Aeußeres, seine Kleidung und Wäsche, den Schein einer besseren und einträglicheren Existenz, als sie ihm in Wahrheit beschieden war, zu erwecken, hatte er sich in allem Uebrigen die größten Entbehrungen auferlegt. Für die Feuilletons und wissenschaftlichen Aufsätze, die er bisher veröffentlicht hatte, hatte er zwar verhältnißmäßig ganz anständige, aber doch nur bescheidene Honorare bezogen, und nur seinem haushälterischen Sinne und seiner Willenskraft, auf alle kostspieligeren Genüsse des Daseins zu verzichten, war es zu danken, daß er sogar vor der Frau Räthin die Täuschung eines auskömmlichen, geldsorgenfreien Lebens hatte aufrechterhalten können. Nun bot ihm unerwartet dieser Herr Scherfer mit einem Schlage eine Summe, die etwa das Zehnfache seines bisherigen Jahreseinkommens darstellte. Er hatte sich über den geschäftlichen Werth seiner erfolgreichen Dichtung bis jetzt nur ganz unklare Vorstellungen gemacht. Daß er das Stück für viele Tausende würde verkaufen können, daran hatte er nie gedacht. Das Anerbieten Scherfers nahm ihn jetzt so vollkommen in Anspruch, daß er alles Andere, was ihn so tief schmerzte und quälte, zeitweilig darüber vergessen konnte.

»Sie sprechen offen mit mir,« sagte er, nachdem Scherfer geendet hatte. »Das verpflichtet mich zu gleicher Offenheit. Ich sage Ihnen also ohne Weiteres, daß ich Ihr Anerbieten mit Vergnügen annehmen würde. Ich bin in allen diesen Dingen unerfahren, und es wäre mir bequem und angenehm, wenn ich mich um das Geschäftliche gar nicht weiter zu kümmern hätte, – ich würde also Ihren Vorschlag annehmen, wenn Sie mir nicht gesagt hätten, daß Sie auch meine zukünftige dramatische Thätigkeit dabei berücksichtigt haben. Da kann ich aber gar kein Versprechen geben, geschweige denn eine Verpflichtung eingehen. Es ist mir sehr zweifelhaft, ob ich überhaupt je noch ein Stück schreiben werde; ich möchte also nur auf der Basis mit Ihnen unterhandeln, daß wir eine Vereinbarung über ›Herkules und Omphale‹ anstreben, ohne alle Rücksicht auf das, was ich etwa noch schreiben werde.«

Scherfer hatte Hugos Worte mit überlegenem Lächeln aufgenommen.

»Schön, schön!« sagte er in verbindlichstem Tone. »Wenn Ihnen damit gedient sein kann, bekümmern wir uns einstweilen also nur um das fertige, um das aufgeführte Stück. Versprechen Sie mir nur das Eine: daß für den Fall, daß Sie ein neues Schauspiel schreiben. Sie wegen des eventuellen geschäftlichen Vertriebes keinen Vertrag abschließen, ohne mit mir verhandelt zu haben.«

»Das kann ich Ihnen mit gutem Gewissen versprechen, aber ich wiederhole Ihnen …«

»Und das genügt mir vollkommen,« fiel Scherfer mit freundlichem Lächeln ein. »Und glauben Sie einem alten Praktikus: Sie werden weiter für die Bühne arbeiten! Sie werden neue und glänzende Erfolge feiern. Sie werden voraussichtlich auch einmal eine Schlappe erleiden und sich hoch und theuer verschwören, kein Stück mehr zu schreiben. Und Sie werden es doch thun! Mit der Bühne ist's eben etwas ganz Eigenes. Wer einmal damit zu thun gehabt, den läßt sie nicht wieder los. Und wer das besondere Talent hat, für die Bühne zu schreiben, der muß dafür schreiben, er mag wollen oder nicht. Wir wollen uns über Jahr und Tag wieder sprechen.«

»Sie könnten sich gleichwohl irren …«

»Das Risico übernehme ich. Würden Sie also bereit sein, ohne sich für die Zukunft irgendwie zu binden, mir Ihr Schauspiel unter den Ihnen bekannten Bedingungen zu verkaufen?«

»Ja!«

Scherfer reichte Hall die Hand, in die dieser einschlug.

»Also abgemacht!« bekräftigte der Agent mit einen: festen Drucke der Hand. »Da ich den uns Beiden gleichermaßen erwünschten Abschluß unserer Verhandlungen vorhergesehen habe, so habe ich mir erlaubt, den Vertrag wie ich ihn mir denke, in zwei Exemplaren gleich mitzubringen. Sie sehen, er ist kurz und einfach.«

Er überreichte dem Dichter das Schriftstück, das er aus seiner Seitentasche hervorgeholt hatte. Es enthielt nur wenige Zeilen: Hall übertrug gegen ein Honorar von achttausend Thalern dem Agenten Bernhard Scherfer alle Rechte an seinem Schauspiel »Herkules und Omphale.« Hugo nickte zustimmend.

»Wenn Sie unterschreiben wollen,« nahm Scherfer wieder das Wort, »können wir die Sache gleich definitiv erledigen.«

Mit diesen Worten zog er seine Brieftasche hervor, in der die Kaufsumme bereits in einem Briefumschlage abgezählt bereit lag. Scherfer reichte ihm das Couvert. Hugo unterschrieb das eine Exemplar und empfing dagegen das zweite Exemplar mit Scherfers Unterschrift. Mit einem abermaligen Händedruck war das Geschäft abgethan. Scherfer empfahl sich, nachdem er für die schnelle Abwicklung noch einige höfliche Dankesworte gesagt hatte, zufrieden lächelnd mit derselben respectvoll tiefen Verbeugung, mit der er sich vorgestellt hatte.

Die ganze Unterhandlung hatte etwa zwanzig Minuten erfordert. Und in dieser knappen Spanne Zeit hatte sich für Hugo eines der wichtigsten Ereignisse seines Daseins erfüllt: er hatte jetzt die wunderbar beruhigende Gewißheit, auf Jahre hinaus von allen Sorgen um das tägliche Brod befreit zu sein. Das Bewußtsein gab ihm eine merkwürdige Ruhe und Kraft. Wiederholt ließ er die Scheine, die er aus dem Couvert genommen hatte, durch die Finger gleiten und zählte sie nach. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er die Freude des Besitzes. Er athmete tief auf, betrachtete wohlgefällig die bunten Scheine und lächelte. Er hatte ein gewisses Gefühl der Beschämung darüber, daß der Zwischenfall wenigstens für den Augenblick seine Stimmung so vollkommen zu ändern vermocht hatte, daß ihm jetzt tausend Gedanken, deren Verwirklichung ihm nun auf einmal ermöglicht worden war, durch den Kopf schossen und ihn weit entfernten von all den nagenden Traurigkeiten, die ihn seit sechsunddreißig langen Stunden so unbarmherzig gepeinigt hatten. Er machte sich geheime Vorwürfe darüber, daß ihn das lumpige Geld einen Treubruch an seinem Schmerze über Leonie begehen lassen konnte. Mit Wehmuth gedachte er auch der armen Martha … aber die Gewißheit, überschnell das Ziel, das er bis zur Stunde in dämmeriger Ferne nur undeutlich vor sich gesehen hatte, mit einem Sprunge erreicht, die Unabhängigkeit, nach der er sich immer gesehnt, errungen, die belastenden Fesseln, die ihn seit Jahren in Berlin zurückhielten, abgestreift zu haben, gewährte ihm ein so starkes Frohgefühl, daß Alles das, was ihn so furchtbar erregt, so sehr bekümmert hatte, ihm nun in einem anderen Lichte erschien. Jetzt war ihm die Möglichkeit geboten, all dem Jammer zu entrinnen. Er konnte reisen, konnte sich, wenn er nach Einsamkeit verlangte, in irgend einen entlegenen Winkel vergraben, konnte, wenn er sich zerstreuen wollte, nach Paris oder London gehen, konnte die gewaltigen Eindrücke der Fremde im Osten oder Westen auf sich wirken lassen, – er war frei, er war sein eigener Herr. Was auch die nächste Zukunft ihm bringen mochte, er konnte ihr nun ruhiger entgegensetzen.

Und das elende Geld, das da vor ihm lag, war es, das diese Wandlung, die er selbst ungläubig und beschämt belächelte, in ihm bewirkt hatte …

In dieser Stimmung befand er sich, als ihm Leonies Antwort überbracht wurde. Sie machte geringen Eindruck auf ihn, sie überraschte ihn kaum; sie bestätigte lediglich, was er erwartet hatte. Er warf einen Blick auf die Kisten und Kasten, die noch immer nicht geöffnet und geleert waren, und sagte halblaut: »Ich glaube kaum, daß ich vorläufig auspacken werde.«

Er sehnte sich fort aus der großen Stadt, die ihm auf einmal so lieblos und häßlich erschien. Der Boden brannte ihm unter den Füßen, und aus der Tiefe seiner Niedergeschlagenheit hob ihn nun das stärkende Bewußtsein empor, die Freiheit seiner Bewegungen gewonnen zu haben …

Leonie hatte sich langsam angekleidet. Die Stunden des Nachmittags währten ihr eine Ewigkeit. Sie fühlte sich matt, und eine fürchterliche Unruhe ängstigte sie. Sie wollte anspannen lassen, spazieren fahren, Besuche machen, – aber der kaum gefaßte Plan wurde sogleich von ihr wieder aufgegeben. Sie mochte keinen gleichgiltigen Menschen sehen. Und vielleicht würde sie den Einen, den sie erwartete, verfehlen. Sie freute sich zwar keineswegs auf den Besuch Vallinis, aber es erschien ihr unumgänglich nothwendig, den Künstler zu sprechen und den Versuch, ihm eine andere Meinung über ihr Wesen und ihren Charakter beizubringen, wieder aufzunehmen. Es war ihr eine Pflicht der ethischen Selbsterhaltung.

Sie ging im Erker auf und ab. Sie setzte sich an den kleinen Schreibtisch, um ein paar unwichtigere Briefe, die längst der Erledigung harrten, zu beantworten. Auch das war ihr nicht möglich. Sie nahm den neuesten französischen Roman, der viel von sich reden machte, zur Hand. Ihre Augen flogen gedankenlos über die Zeilen, sie verstand nicht einmal, was sie las, und legte das Buch bei Seite. Sie öffnete den Steinway. Die ersten Töne, die sie anschlug, thaten ihrem Ohre weh, und sie stand auf. Immer wieder und immer wieder trieb es sie nach dem breiten Erkerfenster, immer wieder blickte sie durch die gestickten Stores die Straße hinab. Der, den sie erwartete, kam nicht. Einen Augenblick bedauerte sie beinahe, daß sie die Begegnung mit Hugo erst auf den folgenden Tag angesetzt hatte. So peinlich es ihr auch gewesen wäre, gerade ihm jetzt gegenüberzutreten, – er hätte sie wenigstens nicht warten lassen.

Nur nicht warten!

Und wenn die unausbleibliche Auseinandersetzung mit ihm auch einen noch so stürmischen Verlauf nehmen würde, jede Aufregung war dieser Marter des unleidlichen Wartens, der zugleich anstachelnden und lähmenden Ungewißheit vorzuziehen. Nur nicht warten!

Sie fühlte sich erleichtert, als Felix von der Börse heimkam und in seiner unbefangenen, etwas derben Weise sie begrüßte. Sie konnte ihm nicht verhehlen, daß sie übel gelaunt war. Felix machte ihr alle denkbaren Vorschläge, um sie zu zerstreuen; sie lehnte alle ab, zog sich gleich nach Tisch auf ihr Zimmer zurück, und beschloß den unbehaglichen Tag mit einem trübseligen Abend.



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