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Als Dr. Lohausen in der Mittagsstunde bei Frau Emilie Breuer vorsprach, in der sicheren Voraussetzung, seiner jugendlichen Patientin die Genehmigung zur sofortigen Abreise ertheilen zu können, wurde er schmerzlich überrascht. Schon die besorgte Miene der Räthin, die durchaus nicht zu den übertrieben ängstlichen Müttern gehörte, weissagte ihm nichts Gutes. Frau Emilie berichtete denn auch dem befreundeten Arzte, daß sich gestern Nachmittag, kurze Zeit, nachdem er sie verlassen, das Fieber mit erneuter Heftigkeit eingestellt und in den vorgerückten Abendstunden einen geradezu beängstigenden Charakter angenommen habe. Allmählich habe es nachgelassen und Martha hatte sich plötzlich merkwürdig frisch gefühlt.
»Sie sah blühend und gesund aus,« fuhr Frau Emilie fort. »Mit ihren leichtgerötheten Wangen, ihren großen lebhaften Augen, die noch mehr als sonst glänzten, machte sie den Eindruck des vollsten Wohlbefindens. Sie war aufgeräumt, beinahe übermüthig, lustiger, als ich sie seit Wochen und Monden gesehen habe. Wir bauten allerhand schöne Pläne für die Zukunft, wir machten schon unsere Tagesordnung für Italien. Auf einmal erregte sie sich wegen eines Nichts – ich glaube, wir sprachen davon, ob wir einen sehr großen oder zwei kleinere Koffer zur Reise kaufen sollten – die Thränen traten ihr in die Augen, und sie verfiel in tiefe Traurigkeit. ›Wir brauchen gar keinen Koffer,‹ schluchzte sie und weinte dabei zum Steinerweichen. ›Ich kann ja doch nicht reisen!‹ Ich suchte sie zu trösten und fragte unvorsichtiger Weise, weshalb sie denn nicht reisen könne. ›Weil ich sterbe!‹ antwortete sie, und die Thränen stürzten ihr unaufhaltsam aus den Augen. Dann kam wieder das alte, böse, trockene Hüsteln, das sie sehr anzustrengen schien, und endlich schlief sie vor Ermattung ein. Seit zehn Uhr wacht sie … wenigstens ungefähr! Sie dämmert so vor sich hin … Nun, Sie werden's ja sehen. Aus unserer schönen Reise wird aber, so fürchte ich, so bald nichts werden.«
»Wollen sehen, wollen sehen,« versetzte der Arzt und trat in die kleine Stube, in der Martha ruhte. Lohausen bedeutete der Räthin durch einen discreten Blick, ihn mit der Patientin allein zu lassen.
»Nun, meine liebe Martha,« begann der Doctor, während er auf dem Stuhle am Bette Platz nahm und die schmale, heiße, trockene Hand des kranken Mädchens mit der seinigen sanft umspannte, »noch immer der böse Husten und das dumme Fieber! Das ist ja gegen alle Verabredung! Gestern hoffte ich das Beste, und nun sagt mir Mama … Haben Sie denn irgend eine Unvorsichtigkeit begangen?«
»Gestern nicht … aber in der Nacht vorher!«
»In der Nacht?« fragte Lohausen erstaunt.
Martha nickte zustimmend.
»Was haben Sie denn da angefangen? Sie wissen, daß Sie mir Ihr volles Vertrauen schenken dürfen.«
»Ich bin in der Nacht heimlich ausgegangen … Ich war eifersüchtig … auf meinen Bräut… auf Doctor Hall … Ich bin ihm nachgegangen … Mama weiß es nicht … Es war sehr kühl, und es regnete stark … da werde ich mich wohl erkältet haben.«
»Aber Kind! Kind!« rief der Arzt ungehalten. Er beruhigte sich aber sogleich und setzte in freundlichem Tone hinzu: »Na, das läßt sich nun nicht mehr ungeschehen machen … Also keine Vorwürfe … Aber Sie unartiges Mädchen haben da etwas Nettes angerichtet! Na, wie gesagt: keine Vorwürfe … Also, wie steht's?«
»Der Husten quält mich recht! Ich habe auf der Brust so ein eigenthümliches Gefühl der Spannung und Schwere … und mir ist, als ob sich das Herz loslöste und nach unten drängte … und an die Rippen …«
»Hm … hm … also immer das alte Leiden?«
»Nur heftiger, lieber Doctor!«
»Nun, ich will Ihnen etwas Beruhigendes verschreiben … wir wollen wenigstens das Fieber zu bekämpfen suchen … aber die Arzenei allein wird's nicht thun. Die Hauptsache liegt bei Ihnen. Sie müssen alle Willenskraft zusammennehmen, um möglichst ruhig zu bleiben, um alle Aufregung zu vermeiden. Wenn Sie von quälenden Gedanken heimgesucht werden, rufen Sie Ihre vortreffliche Mutter, und denken Sie daran, daß Ihnen Ihre beste Freundin zur Seite steht. Denken Sie daran, daß Sie gesund werden und eine schöne Reise machen müssen … Sie sind wirklich zu beklagen,« fuhr er launig fort, indem er die kleine Hand sanft streichelte. »Aus dem feuchten, kalten, unfreundlichen Berlin müssen Sie hinaus, müssen in das schöne Land gehen, wo die Citronen blühen, wo die Leute vergnügt sind. Sie Aermste! … Ich wollte, ich könnte Sie begleiten! … Also, mein liebes Kind, hübsch artig sein, sich ruhig verhalten! Hören Sie? Und wenn die bösen Gedanken kommen, denken Sie daran, daß Alles bald vorübergeht, daß Sie in wenigen Tagen Wärme und Sonnenschein und die herrlichste Natur haben, die der liebe Gott geschaffen hat … Und was Sie mir da von dem dummen Streich gesagt haben, das bleibt unter uns! Morgen komme ich wieder. Adieu, liebe Martha, adieu, mein Kind!«
Als der Doctor das Recept schrieb und die Räthin ihn ängstlich fragend ansah, sagte er: »Na, es könnte besser gehen. Aber ich hoffe, es wird sich machen. Messen Sie heut Abend die Temperatur; und wenn das Thermometer vierzig Grad erreicht oder gar übersteigt, dann lassen Sie mich rufen. Auf Wiedersehen … hoffentlich erst morgen! Auf Wiedersehen, liebe Freundin!« –
Kurz vor Mitternacht wurde Dr. Lohausen noch einmal an das Krankenbett Marthas gerufen. Die Fiebernde hatte gegen einundvierzig Grad. Er blieb über eine Stunde bei der Kranken. Er tröstete die arme Mutter, die am Bette ihres Kindes, das mit geschlossenen Augen und hochgerötheten Wangen dalag und beständig von einem harten trockenen Hüsteln und Athemnoth gequält wurde, heiße Thränen vergoß, ohne ihren Schmerz durch einen Laut zu verrathen.