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1891.


Im ersten Semester des Jahres 1891 durchfuhr ich die Vereinigten Staaten die Kreuz und Quer: vom Atlantischen zum Stillen Ocean und von der canadischen Grenze bis zum Golf von Mexico. Ich war der Einladung meines Freundes Henry Villard gefolgt, des Vollenders und obersten Leiters der Northern Pacific-Bahn: mein amerikanischer Gastfreund hatte mir für die ganze Dauer meiner Fahrt für mich und die Meinigen einen eigenen Salonwagen, ein rollendes Hotel mit Salon, Speisezimmer, Schlafstuben, Küche u. s. w., zur Verfügung gestellt, das uns fünf Monate lang im Norden und Süden, im Osten und Westen freundlich beherbergte.

Dem Schnee und der Kälte New-Yorks waren wir schnell entronnen und hatten in Florida in den ersten Tagen des Februar die goldigste Sonne, warme Sommertage und unter blauem Himmel Palmen in üppiger Pracht, reife Bananen und Orangen gefunden. Auf dem Wege von St. Augustine nach New-Orleans stieß unserem Wagen eilt geringfügiger Unfall zu, von dem wir kaum etwas gewerkt haben würden, wenn mir nicht der Betriebsbeamte, der sich auf unserem Zuge befand, mit jener eisernen Bestimmtheit, an der jeder Widerspruch zerschellen mußte, erklärt hätte: er werde unseren Wagen in diesem beschädigten Zustande nicht weiter über die Bahn gehen, ihn vielmehr an der nächsten Station abhängen und dort auf einen todten Strang schieben lassen. Von der nächstliegenden größeren Station wolle er wir einige Leute mit nächster Gelegenheit schicken, die würden den Schaden bald repariren, und ich könnte dann morgen mit dem gleichen Zuge, also mit einem Zeitverlust von vierundzwanzig Stunden, meine Reise nach New-Orleans fortsetzen. »Good bye, Sir!«

So geschah es denn auch.

»Cypreß« hieß die Haltestelle, über deren Berechtigung und Zweckmäßigkeit ich mir noch heute im Unklaren geblieben bin. Denn rings in der Runde gab es weder Städte noch Dörfer, weder Weiler noch vereinzelte Gehöfte; außer einigen wenigen elenden Negerbaracken, die in großen Abständen von einander entfernt lagen und zum Theil verlassen zu sein schienen, hatte ich – wenn ich von den Stationen der Bahn absehe – seit Stunden überhaupt keine Spuren einigermassen ansehnlicher und menschenwürdiger Behausungen gesehen.

Die Landschaft Nord-Floridas, die die Bahn durchschneidet, war mir durch ihre grandiose Häßlichkeit und Unerfreulichkeit ausgefallen. Nichts als Sümpfe mit laufigem, gelblich lehmigem Wasser, aus dem gelbe und mattgrüne Stoppeln aufschießen, der Wald in schauerlichstem Zustande, meistens armseliges Nadelholz, aus dem undurchdringlichen Gebüsch des kümmerlichen Unterholzes aufragend; und Alles, so weit das Auge reichte, durch die ruchlosen Waldmordbrenner vernichtet: stehende oder umgestürzte verkohlten Stange, die schwarzgeräucherten, allen Schmuckes beraubten Zweige wie erstarrte Gliedmaßen von sich streckend, Baumleichen überall, gelber Boden, Morast, Unkraut und stinkendes Wasser.

So sah das Land aus, das wir seit langen Stunden durchfuhren, und der »Cypreß« getaufte Punkt, an dem unser Wagen abgehängt worden war, unterschied sich in nichts von der reizlosen Umgebung. Da hatten wir nun also vierundzwanzig Stunden unfreiwillig zu rasten. Und der Tag war noch lang! Es war etwa zehn Uhr Vormittags, als wir in Cypreß festgelegt wurden.

Während meine Kinder in der Nähe der kleinen Bretterbude, die als Stationsgebäude diente, herumspielten, hatte ich ein wenig Umschau gehalten. Ohne das geringste Ergebniß. Ich hatte keine Hütte, kein lebendes Wesen erspähen können, nicht einmal so etwas, was einem Wege ähnlich sähe. Wohl eine Stunde war ich in der Wildniß unter den verkohlten Stämmen herumgestiefelt und öfter bis an die Knöchel in den nachgiebigen Matsch des sumpfigen Bodens eingesunken. Es blieb mir nichts Anderes übrig, als den Rückweg anzutreten und den Wagen wieder aufzusuchen, um die durchnäßte Fußbekleidung zu wechseln. Alsdann wollte ich zu arbeiten versuchen, obwohl ich recht wenig Lust dazu hatte, denn das Wetter war wundervoll, warm, ohne heiß zu sein, und unter dem unermeßlich hohen Gewölbe des tiefblauen Himmels segelten in herrlichem Fluge, ohne Flügelschlag sanft aufsteigend und sich senkend, die mächtigen Geier. Und wie ich es vorhergesehen hatte, so kam es denn auch. Nachdem ich trockenes Schuhwerk angelegt und mich an den Schreibtisch gesetzt hatte, wurde mir die schwüle und drückende Luft im Wagen unerträglich, und ich kletterte wieder hinab, um eine neue Wanderung anzutreten.

Vor der Eisenbahnbude stand der Bahnbeamte, ein ganz junger blonder Mensch von etwa fünfundzwanzig Jahren, hager, mit vorspringenden Backenknochen und einem mächtigen Kinn, der sich an dem übermüthigen Spiel meiner Kinder zu belustigen schien.

Ich trat auf ihn zu und begrüßte ihn.

»Uebertrieben lebhaft scheint es hier in Cypreß nicht zu sein?« begann ich die Unterhaltung. »Sind Sie hier denn ganz allein?«

»Es sind noch einige Gentlemen hier, die an der Bahn arbeiten. Nicht viel. Und weiter westwärts nach Mariana zu wohnen noch einige farbige Herren. Tallahassee ist ja auch nicht weit, und Tallahassee ist ein feiner Platz, der eine große Zukunft hat.«

»Aber hier in Cypreß sind Sie mit Ihren paar Bahnarbeitern allein?«

»Beinahe allein! Etwa zwei englische Meilen von hier, nordöstlich im Walde steht noch ein Blockhaus. Da wohnt der Deutsche – › the German‹ –«

»Der Deutsche?« wiederholte ich erstaunt. »Was für ein Deutscher? Wie kommt denn der hierher?«

»Das weiß ich nicht! Er ist schon lange im Lande, der älteste Ansiedler hier in der Gegend. Es mögen wohl an die zwanzig Jahre sein, daß er hier seine Hütte gebaut hat. Wie er heißt, weiß ich auch nicht. Mein Vorgänger nannte ihn ›den Deutschen‹, und so nennen wir ihn auch.«

»Und was treibt denn der hier in dieser Wildniß und Oede?«

»Er schießt Alligatoren.«

»Davon kann man doch aber nicht leben!«

» Well! Er hat, was er braucht. Ich sagte Ihnen schon: er ist früh in's Land gekommen, er hat noch zur guten Zeit in Jacksonville Grundstücke gekauft, die er nachher wieder verkauft hat, mit bedeutendem Gewinn! Er hat viel Geld auf der Bank von Jacksonville. Er hat, was er braucht, mehr, als er braucht!«

Der Sonderling interessirte mich. Und nun hatte ich doch ein Ziel für meine Wanderung.

»Wo findet man denn den Deutschen?« fragte ich.

»Sie können nicht fehl gehen. Sehen Sie da … wo der Waldbrand aufhört und der dichte Cypressenwald anfängt … sehen Sie da die beiden sehr hohen Bäume?«

»Jawohl!«

»Darauf gehen Sie gerade zu! Sie behalten die Bäume immer vor Augen, etwa hundert Schritt rechts von dem höchsten, gerade am Saume des noch erhaltenen Waldes, finden Sie einen Weg, oder wenigstens eine Lichtung, da sind die Stämme niedergehauen, nicht niedergebrannt. Den Weg nehmen Sie, er führt Sie in fünf Minuten gerade auf das Blockhaus des Deutschen. Vor Jahren stand die Hütte mitten im Walde, und wie sich der Deutsche damals verproviantirt hat, verstehe ich nicht. Jetzt hat die Bahn den halben Wald niedergebrannt und hat's ihm bequem gemacht. Wir könnten sogar täglich frisches Fleisch haben. Aber der Deutsche lebt meist von Conserven. Die Gewohnheit! … Also gerade auf die beiden hohen Erpressen los, dann rechts halten, bis die Lichtung kommt. Das ist der Weg!«

Ich empfahl mich mit bestem Dank. Die Wanderung war um diese heißeste Stunde des Tages – die Sonne stand jetzt im Zenith – beschwerlicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Oft wurde mir der Weg durch den Wall des struppigen Unterholzes verlegt, ein paarmal stolperte ich über die umgestürzten Stämme der verkohlten Bäume, dann sank ich wieder in den: sumpfigen Boden tief ein, aber schließlich fand ich doch die mir bezeichnete Lichtung und gelangte nun in der That in wenigen Minuten nach der aus roh behauenen, vom Alter schwarzgrau gewordenen Stämmen gefügten Hütte, in der »der Deutsche« hauste.

Es traf sich gut. Er saß auf der Schwelle und rauchte.

Auf den ersten Blick merkte ich übrigens, daß ich dem Landsmanne Unrecht gethan, wenn ich aus der Wahl seines Wohnsitzes in dieser unerfreulichen Landschaft, wie ich sie von der Bahn aus hatte sehen können, geschlossen hatte, daß ihm jeder Sinn für Naturschönheit abgehen müsse. Hatte man einmal die Unbequemlichkeiten des Weges überwunden, so mußte man zugeben, daß dieser verlassene Fleck Erde, auf dem der Deutsche seine Hütte gebaut hatte, eine merkwürdige Größe und Feierlichkeit besaß.

Vor dem Blockhause hatte sich der Deutsche einen freien Platz geschaffen. Die Bäume waren gefällt, in der nächsten Umgebung der Hütte war der Boden ausgerodet. Ringsumher ragten die gewaltigen Cypressen zu kolossaler Höhe neben immergrünen Rieseneichen auf. Immergrün! Die herrlichen stolzen Bäume führten hier diesen Namen mit Unrecht. Von dem saftigen Grün der Eichenblätter war eben so wenig zu sehen, wie von dem schwermüthigen Tiefgrün der Cypresse. All diese Baumkolosse waren in lang herabwallende, wundersame graue Schleier gehüllt, und in dieser phantastisch schönen Verhüllung wirkte der ganze Wald wie ein gewaltiges Trauergefolge hinter dem Sarge der geschändeten Natur; es war, als ob hier die vom Feuer verschont gebliebenen Bäume die von der menschlichen Brutalität hingemordeten Brüder betrauerten.

An alle Zweige hatte sich das hängende Moos – hier » Southern moss« geheißen, » Tillandsia usneoides« ist der botanische Name –, die namentlich im Süden der Vereinigten Staaten und in Mexico heimische Schlingpflanze, in langen Strähnen angesetzt. Das verwirbelte, mattresedagraugrüne Moos, das hier unbelästigt wuchern durfte, hatte mit der Zeit eine solche Fülle und Dichtigkeit gewonnen, daß unter seinen grauen Flechten, die sich rote zu einem mächtigen Bahrtuche vereinigten und ineinander übergingen, das Leben der des Lichts und der Luft beraubten starken Stämme dahingesiecht und schließlich erstickt war. So waren es denn Todte, die die Todten begruben.

Aber welch ein herrlicher ergreifender Anblick! Diese ungeheuren, stolzen Stämme, diese knorrigen Aeste und Zweige, allesammt grau verschleiert, wie in der Gewandung der Schicksalsweiber!

Und jetzt hob sich ein leichter Wind, und die wunder sam wallenden Mäntel setzten sich in eine lautlose langsam schwingende Bewegung, so daß die Täuschung, daß der Wald in feierlich ernstem Zuge dahinwandle, auf den ersten Blick eine vollkommene war. Und über den grau verhüllten Häuptern der Bäume schwebte unter dem unermeßlichen Azur würdevoll in gemessener Schönheit, auf den unbeweglichen ausgebreiteten Schwingen sich wiegend, ein starker Geier.

Ich war von der einzigen Schönheit dieser Einsamkeit im Urwalde so betroffen, daß ich einige Augenblicke stehen blieb und in wahrer Ergriffenheit zu den vom hängenden Moos umfangenen Baumleichen und zu dem kornblumenblauen Aether darüber aufblickte. Während meiner beschwerlichen Wanderung hatte ich mich um die Umgebung wenig gekümmert, und erst jetzt, da ein freier Platz vor mir lag, konnte ich die volle Pracht dieser merkwürdigen Natur erfassen.

Nun erst blickte ich zu meinem Deutschen hinüber der mich seinerseits, ohne sich von seiner Schwelle zu erheben, und ohne die kurze Pfeife aus dem Munde zu nehmen, scheinbar ruhig und ohne besondere Theilnahme, jedenfalls ohne Verwunderung, musterte.

Ich trat auf ihn zu.

»Sind Sie der Deutsche?« redete ich ihn in unserer Muttersprache an.

»Ja!« antwortete er. »Setzen Sie sich!« Er reichte mir die Hand und rückte ein wenig bei Seite, so daß ich bequem auf der Schwelle neben ihm Platz nehmen konnte.

Ich sah mir jetzt den Landsmann genauer an. Es schien ein alter Mann zu sein. Er sah so aus, als ob er den Siebzigen näher wäre als den Sechzigen. Man konnte sich mühelos denken, daß er in seinen jungen Jahren den Weibern hätte gefährlich sein können. Er war noch schön, vielleicht sogar noch schöner, als in der holden Jugendzeit. Freilich war der Ausdruck von den Schicksalsschlägen festgehämmert worden. Die Züge des verwitterten, tief durchfurchten Gesichts waren hart und starr, der in den Nacken gedrückte breitkrämpige graue Schlapphut bedeckte die Glatze nur zur Hälfte; der Schädel war von Haaren fast ganz entblößt. Desto üppiger war der graue, von weißen Strähnen durchzogene Vollbart gewachsen, der bis auf die Brust reichte. Das Profil war edel geschnitten, das große Auge blickte ruhig in gleichmäßigem Ernste. Der Mann trug weder Rock noch Weste. Um den Kragen des blauen Wollenhemds war ein Tuch lose geschlungen. Die staubgrauen Beinkleider aus geripptem, halbsammetartigem Stoff, dem sogenannten Corduroy, staken in den Schäften seiner hohen, dicksohligen Stiefel. Aus der rechten Hüftentasche sah der metallbeschlagene Griff des Revolvers ein wenig hervor.

»Sie haben sich nicht das häßlichste Stückchen Erde für Ihr Haus ausgesucht,« begann ich die Unterhaltung. »Das muß ich sagen! Es ist wirklich wundervoll hier!«

»Ja, ja! Es ist sehr schön!«

»Mir wär's nur ein bischen zu einsam auf die Dauer!«

»So, so! Ja, ja! Einsam ist es! Das stimmt!«

»Sie sind schon lange hier, hat man mir gesagt?«

»Ja, ja! Sehr lange!«

»Aber Sie sind doch wohl oft auf Reisen gewesen, haben sich in den größeren Städten längere Zeit aufgehalten?«

»Auf Reisen? Ach nein! Nach Jacksonville komme ich wohl manchmal, so alle Jahre einmal, manchmal wird's auch länger. Aber da bleibe ich immer nur ein paar Tage, bis ich meine Geschäfte gemacht habe. Dann komme ich hierher zurück.«

»Ja, aber was treiben sie denn die ganze Zeit hier, wenn ich fragen darf? Verzeihen sie meine Neugier, aber Sie sind wirklich der erste Einsiedler, dem ich in meinem Leben begegnet bin.«

»Was ich treibe? Ich denke mir mancherlei und verdaue.«

»Und Sie sehen fast nie einen Menschen?«

»Fast nie. Hier ist ja kein Mensch. Mit dem dummen Bennet von der Bahn – dem halbwüchsigen Burschen, der Ihnen wahrscheinlich den Weg gezeigt hat – ist nichts anzufangen. Ich brauche auch keinen Menschen. Ich habe genug Menschen gesehen.«

Ich sah den Sonderling verwundert an. Wie mußte ihm das Geschick mitgespielt haben, um einen solchen Vereinsamungstrieb in ihm großzuziehen! Ich wagte nicht mehr, eine Frage an ihn zu stellen. Wir schwiegen eine Weile. Wir blickten auf die hohen Stämme gegenüber, auf die langsam und lautlos schwingenden Schleier des hängenden Mooses.

Endlich fragte er mich, wie ich dazu gekommen sei, in Cypreß auszusteigen. Außer ihm selbst hätte wohl kaum noch ein anderer Weißer die Station je benutzt. Ich erzählte ihm die Veranlassung zu meinem unfreiwilligen Aufenthalte.

»Sie sind Norddeutscher, Ihrer Sprache nach zu schließen. Woher kommen Sie denn?«

»Aus Berlin!«

»So, so! Ja, ja! Ich hab's mir gleich gedacht. Aus Berlin! … Auch eine schöne Stadt!« fügte er hinzu, und zum ersten Mal schien sich die starre Ausdrucksgleichheit seines Gesichts etwas zu schmeidigen, und ein flüchtiges kaum wahrnehmbares Lächeln umhuschte seine Mundwinkel.

»Sie kennen Berlin?«

»Ja, ja, ich kenne es. Ich habe vor Jahren da gelebt. Vor achtzehn Jahren, meine ich … ja, vor achtzehn Jahren!«

»Seitdem hat es sich sehr verändert. Es sind ganz neue, sehr schöne Viertel entstanden; und alle Fremden, die jetzt nach Berlin kommen, finden die Stadt mit ihren breiten Straßen und schönen Häusern überraschend großartig.«

»Ja, ja! Das kann ich mir schon denken. Schöne Häuser! Ja, ja! Aber manchmal sitzen die häßlichsten Vögel in goldenen Bauern … Also Sie wohnen in Berlin? So, so! Ich habe lange keinen Berliner gesprochen. Es wird wohl auch beinahe achtzehn Jahre her sein … Wohnten Sie denn vor achtzehn Jahren auch schon in Berlin?«

»Jawohl!«

»So, so! … Dann haben wir gewiß auch gemeinsame Bekannte.«

»Jedenfalls! Und wenn Sie sich für Diesen oder Jenen besonders interessiren, bitte, fragen Sie nur! Ich will Ihnen gern Bescheid geben, wenn ich's vermag.«

»Besonders interessiren? Nein! Ich interessire mich für keinen Menschen besonders. Nicht mehr, schon lange nicht mehr. Das kommt Ihnen seltsam vor? Ich habe eben die Einsamkeit ausgesucht, weil mich nichts mehr lockte, nichts mehr befriedigte, weil ich von den Menschen nichts mehr wissen mochte. Sie kennen die Geschichte von dem kleinen Mädchen, dem eine hübsche Puppe zu Weihnachten aufgebaut wird, und das die Puppe an: anderen Tage ins Feuer wirft. ›Weshalb hast Du das gethan?‹ fragte die Mutter. Das Kind erwiderte: ›Ich habe der Puppe gesagt, daß ich sie lieb habe, und sie hat mir nicht geantwortet.‹ So ähnlich ist es mir auch ergangen.«

»Und Sie fühlen sich wohl in Ihrer Loslösung von der Geselligkeit?«

»Wunschlos. Ich habe kaum eine rechte Freude, aber auch keinen Schmerz.«

»Ehrlich gesagt, ich beneide Sie nicht!«

»Ich bin auch nicht beneidenswerth, aber Sie brauchen mich auch nicht zu beklagen. Ich habe das, was ich brauche, und ich lebe so, wie ich will.« Er erhob sich. »Wollen Sie einen Trunk mit mir nehmen? Dann treten Sie ein!«

Durch das schmale verglaste Loch und durch die halb offene Thür drang nur wenig Licht in das Innere des Blockhauses. Im Gegensatze zur Helligkeit des leuchtenden Mittags wirkte der Raum so dunkel, daß ich im ersten Augenblicke nur den grobgezimmerten Tisch in der Mitte, der von dem durch die Thür dringenden Lichte beleuchtet war, und den Schemel, der davorstand, deutlich erkennen konnte. Allmählich gewöhnte sich mein Auge an die Dunkelheit, und ich sah nun in der einen Ecke linker Hand einen Herd mit Rauchfang, daneben standen am Boden hoch aufgeschichtet blecherne Conservenbüchsen und eine Batterie Flaschen. In der anderen Ecke links lagen Orangen, deren starkes Aroma den ganzen Raum in einer mich belästigenden Weise erfüllte. In die Stämme der der Thür gegenüberliegenden Wand waren starke Haken eingetrieben, an denen Flinten und Büchsen verschiedener Art hingen. Auf dem Brettchen am Fenster hatte ich schon die Kistchen mit den Patronen gesehen. Außerdem standen noch gelehnt an die unbedeckten Baumstämme, die die Wände bildeten, oder lagen auf dem nackten Boden Werkzeuge aller Art: eine schwere Axt, kleinere Beile, Säge, Hammer, Zange u. s. w. und einiges Geschirr.

Während der Deutsche bedächtig und mit Ernst aus verschiedenen Flaschen den kunstvollen Trank mischte und mit ein paar aus Orangeschaalen gepreßten Tropfen durchwürzte, fragte ich ihn: »Wo ist denn eigentlich Ihr Lager?«

Ohne sich umzusehen und sich in der Zubereitung stören zu lassen, sagte er mir: »Gleich rechts von der Thür.«

Richtig, da in der dunkelsten Ecke lag auf der Erde etwa einen Fuß hoch vom Umfange einer schmalen Matratze eine Schicht des grauen, wirren Schlinggewächses, das in den langen schwebenden Flechten so herrlich, in der Nähe aber recht häßlich aussah. Darüber war das Fell eines sehr großen Alligators gebreitet.

»Hängendes Moos!« erklärte der Deutsche, der von dem Glase genippt hatte und mit der Mischung zufrieden zu sein schien. »Es giebt keine bessere Unterlage!«

Ich hörte ihn kaum, denn der Gegenstand, den jetzt mein Auge erblickte, interessirte mich in hohem Grade. Es war der einzige Zimmerschmuck. Gerade über dem Lager war eine seidene Schleife befestigt. Die Farben waren verschossen. Aber die schöne, sorgsam ausgeführte Goldstickerei war vortrefflich erhalten. Ich las die Aufschrift. Auf dem einen Bande stand: »Meinem geliebten Hugo. Martha.« Auf dem anderen: »Herkules und Omphale. 30. September 1873.«

Also Hugo Hall war mein Wirth! Der längst Verschollene, Todtgesagte!

Aber nein! Das war ja kaum möglich! Ich hatte ja Hall zu Anfang der siebziger Jahre mehrfach gesehen, auch am Abende seines ersten, großen und einzigen Erfolgs, als er von der Bühne herab für die Aufnahme seines Schauspiels »Herkules und Omphale« dankte. Ich darf mich eines guten Physiognomiengedächtnisses rühmen. Auch nicht ein Zug im Gesichte des Greises, der jetzt das Glas auf den Tisch stellte, erinnerte an den jungen Dichter, dem damals das volle Haus zugejubelt hatte. Und Hall war ja vier, fünf Jahre jünger als ich, mein Wirth aber war sicherlich mein Senior um mindestens fünfzehn Jahre.

Und doch! Und doch! Als ich ihn jetzt im Halbdunkel der Hütte mit verdoppelter Aufmerksamkeit betrachtete, wollte es mir beinahe gelingen, die gesuchte Aehnlichkeit mit Hall herauszufinden. Die Größe stimmte … Ich mußte mir Gewißheit verschaffen.

»Ich bin vielleicht indiscret gewesen,« sagte ich. »Dann jedenfalls wider meinen Willen. Ich habe die Aufschrift auf der Schleife gelesen: ›Herkules und Omphale‹. Jetzt begehe ich eine bewußte Indiscretion, wenn ich Sie frage: wie kommen Sie denn zu dieser Trophäe? Um Hugo Hall, den ich auch flüchtig kennen gelernt habe, hat sich nämlich nach dessen spurlosem Verschwinden ein wahrer Sagenkreis gebildet. Die Einen haben ihn in die weite Welt, die Anderen in das enge Kloster geschickt, wieder Andere haben ihn begraben. Deshalb würde es mich interessiren, wenn Sie mir sagen könnten, wie Sie zu der Schleife da gekommen sind?«

»Auf die einfachste Art von der Welt: es ist ein Geschenk meiner verstorbenen Braut,« gab Hall ruhig zur Antwort.

»Dann können wir ja eine langjährige, wenn auch nur lose Bekanntschaft erneuern!« sagte ich, indem ich ihm die Hand reichte. Ich nannte ihm meinen Namen.

Er schlug ein. »Ja, ja! Ich erinnere mich. Wir sind uns wohl auch bei Welsheim begegnet, meine ich.«

»Doch nicht. Mit Welsheims bin ich zufällig nicht näher zusammengekommen, obwohl wir viele gemeinsame Bekannte hatten. Ich hab's übrigens später nicht zu bedauern gehabt, denn das einst so glänzende Haus hat ein recht klägliches Ende genommen.«

»So, so? Ja, ja! Ein klägliches Ende! – Prosit!« Er reichte mir das Glas.

»Prosit!« erwiderte ich, leerte es zur Hälfte und gab es ihm.

Er trank es aus, wischte sich den Bart und wiederholte: »So, so? Ein klägliches Ende? Sehen Sie, da ertappe ich mich doch dabei, daß mich Menschliches mitunter noch interessiren kann. Nicht lebhaft, aber doch ein wenig. Was ist denn aus Frau Leonie Welsheim geworden?«

»Sie hätten zunächst fragen sollen, was aus Herrn Welsheim geworden ist, denn das Schicksal des Mannes hat das der Frau bestimmt. Also: Welsheim, der durch eine ununterbrochene Kette glücklicher Speculationen sehr verwöhnt war und sich gar nicht vorzustellen vermochte, daß es auch einmal schief gehen könnte, hat vor zehn, zwölf Jahren sein ganzes Geld verloren und einen skandalösen Bankerott gemacht. Die Sache machte um so größeres und um so peinlicheres Aufsehen, als fast ausschließlich Private, namentlich die sogenannten ›kleinen Leute‹ die dem glücklichen Börsenmann ihr volles Vertrauen geschenkt hatten, in die Katastrophe mit hineingezogen waren. Welsheim konnte sich in Berlin nicht mehr halten und ist ausgewandert. Ich weiß nicht genau, was aus ihm geworden ist. Er soll sich irgendwo im Osten, in Sofia oder Bukarest, herumtreiben. Er soll es mit allem Möglichen versucht, aber nie wieder zu etwas gebracht haben.«

»So, so!«

»Seine Frau, die einst gefeierte Schönheit, hat sich, tapfer im Unglück, von ihrem Manne getrennt, der mit seinem Gelde das Einzige, was sie an ihn fesselte, verloren hatte. Man sagte, sie sei zu ihren Eltern zurückgekehrt. Ich weiß nicht, ob es richtig ist. Lange hat sie es bei den Ihrigen jedenfalls nicht ausgehalten. Schon ein paar Monate später zeigte sie sich in sehr fragwürdiger Gesellschaft und mit gewollter Auffälligkeit am Strande von Ostende. Sie entfaltete dort und später in Paris den wildesten Luxus, der aus den Taschen diverser vorurtheilsfreier junger Lebemänner bestritten wurde. Das dauerte auch nicht mehr lange. Mit ihren schnell verblühenden Reizen hörte das freie Leben, das Leben voller Wonne von selbst auf. Und kürzlich ist sie tugendhaft geworden. Die verblühte Schöne hat sich mit einem verwelkten Sänger verbunden, – einem gewissen Vallini, dessen Namen Sie früher vielleicht auch einmal gehört haben. Der Mann hat nach einem knappen Jahre unerhörten Triumphes infolge einer schweren Erkrankung seine Stimme verloren, – ein Tenorist ohne Stimme! kennen Sie etwas Traurigeres? – und seitdem krächzt er sich an immer kleineren Provinzialbühnen mühsam durch's Dasein. Ein Bekannter von mir hat ihn im vergangenen Herbste irgendwo getroffen, ich glaube, in Elbing war's, – an einem warmen Septembertage in einem abgetragenen Pelz, der aus besseren Tagen stammte, am Arme seine züchtige Gattin führend, die einst gefeierte Weltdame, jetzt mit verhärmten Zügen, die ihm am frühen Morgen in der Blechmaschine Kaffee kocht und geprügelt wird.«

»So, so! Geprügelt wird!« wiederholte Hall, und wieder umspielte ein flüchtiges Lächeln seinen Mund.

Wir waren währenddem wieder ins Freie getreten.

»Ich muß allmählich daran denken, meinen Wagen wieder aufzusuchen,« sagte ich. »Die Meinigen wissen nicht, wo ich bin, und könnten sich beunruhigen, wenn ich zu lange bliebe. Wollen Sie mir eine Freude machen? Dann begleiten Sie mich und speisen Sie mit uns. Unser schwarzer Koch ist gar nicht schlecht.«

»Ach nein,« erwiderte der Alte. »Ach nein! Sie müssen mich entschuldigen! Soviel Menschen auf einmal, – und Kinder! Nein, dazu tauge ich nicht, und es taugt mir auch nicht. Das wollen wir lieber unterlassen. Wenn Sie aber nichts Besseres zu thun wissen, dann kommen Sie doch Nachmittag wieder. Dann erzähle ich Ihnen vielleicht eine Geschichte … von Herrn Vallini und seiner jetzigen Frau. Und jetzt gehen Sie nur zu Ihren Kindern! Mich finden Sie immer hier!«

Und so kehrte ich denn in der dritten Nachmittagsstunde zum Hall'schen Blockhause zurück.

Meine Mittheilungen hatten auf ihn offenbar einen stärkeren Eindruck gemacht, als ich in meiner völligen Unkenntniß der Verhältnisse hatte ahnen können, und als er sich selbst gestehen mochte. Er war ungleich wärmer und menschlicher, als bei unserem ersten Zusammentreffen. Seine Redeweise war zwar gewöhnlich eintönig und schleppend, aber mitunter wurde er doch lebhafter, ja stellenweise sogar erregt. Der Krater war noch immer nicht völlig erloschen.

»Ja, wenn ein Mädel zwei Knaben lieb hat,
Thut wunderselten gut!
Das haben wir Beide erfahren,
Was falsche Liebe thut!«

So begann er, als wir wiederum nebeneinander rauchend auf der Schwelle seines Blockhauses saßen, gegenüber den vorn hängenden Moos umwallten und erstickten Riesenstämmen. Und er erzählte mir die Geschichte seiner Liebe zu Leonie und seines an Martha verübten Treubruchs, die ich frei nacherzählt habe.

»Sehen Sie da das hängende Moos? Es hat sich an die stärksten Stämme gehängt. Es hat ihnen Luft und Licht entzogen. Die Stämme stehen noch, aber das Leben ist dahin. Ich stehe auch noch auf meinen zwei Beinen. Aber ist das ein Leben? Ohne Luft und Licht? … Aber ich bin doch zufrieden damit. Ich bin wenigstens allein! … Leben Sie wohl! Von dem heutigen Tage werde ich noch lange zu zehren, ich werde noch lange an ihm zu verdauen haben! Wahrscheinlich bis an's Ende. Leben Sie wohl!«

Wir drückten und schüttelten uns kräftig die Hand.

Die Sonne stand schon tief und besprengte das Gestrüpp und die Stämme mit willkürlichen goldenen Tupfen. Die wallenden grauen Schleier, die sich im leichten Winde feierlich und unendlich schwermüthig in langsamen Schwingungen hin und her bewegten, schienen jetzt wie von Goldfäden durchwirkt zu sein. Als ich, bevor ich in das Dickicht trat, mich ein letztes Mal nach dem Alten umwandte, grüßte er noch einmal mit der Hand und zeigte dann auf den jetzt wundersam schimmernden, so schönen und so verderblichen Schmuck der Bäume.

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