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Die Großmutter

Zwischen der Mühle und der Brücke verengt sich das Bachbett so sehr, daß das Wasser dort wilde Stromschnellen bildet.

Zischend, brausend, klatschend und platschend wirbelt es zwischen den zerwaschenen Klippen hindurch, zerstäubt zu silbernem Gischt und stürzt sich in einen Kolk.

Dieser Kolk ist von steilwandigen Felsen eingefaßt, deren Spitzen aus der Flut hervorragen und miteinander kleine Wasserbecken bilden, in denen bei warmem Wetter die Groppen umherkriechen.

Herrlich dunkelgrün ist der Spiegel des Kolkes und so klar, daß man bis auf den Grund sehen kann, der aus zackigen Klippen mit vielen Löchern und Ritzen gebildet ist; nach obenhin ist der Kolk völlig von den Felsen umschlossen, am Grunde aber öffnet sich ein halbrundes Tor, in dem einige grüne Ranken langsam hin und her wedeln.

In diesem Felsentor liegt die Großmutter. So haben die Angler, die hier mit dem Spinner und der künstlichen Fliege die Fischweid auf Forellen und Äschen ausüben, die gewaltige, wohl über sechs Pfund schwere Forelle genannt, deren fester Stand der Kolk ist. Hier liegt sie in dem Felsentore und wartet auf die Beute, die ihr der Bach vor das Maul spült. Alles muß an ihr vorbei, und so wurde sie wählerisch. Um Würmchen und Fliegen kümmert sie sich nicht; aber jede Forelle, jede Äsche und jeder andere Fisch, der an ihr vorbeischwimmt, jede Maus, jeder Jungvogel, jeder Maikäfer, jeder mutende Krebs, sie alle fallen ihr zum Opfer.

Meist liegt sie verborgen in dem Felsentore, so daß kaum ihr breiter, weißschimmernder Kopf zu sehen ist. Wenn aber die Sonne heiß auf den Kolk fällt und ihn bis zum Grunde durchleuchtet, dann kommt sie aus ihrer Räuberhöhle hervor. Langsam und feierlich schwimmt sie dann hin und her, bleibt eine Weile stehen, wendet um, und sowie eine Wolke sich vor die Sonne stellt, taucht sie wieder in ihrem Verstecke unter. Wenn ein sachter Gewitterregen auf den Bach tröpfelt, wenn alle Forellen und Äschen beißlustig nach Fliegen aufgehen und bald hier, bald da ein goldener oder silberner Bauch sichtbar wird und klatschend verschwindet, dann schwimmt sie wohl bis dicht an den Wasserspiegel, aber es fällt ihr nicht ein, nach einer von den vielen Fliegen aufzugehen, die in ganzen Wolken über dem Wasserspiegel tanzen, und selbst wenn ein dicker Käfer oder Abendfalter in den Kolk fällt, so nimmt sie ihn nicht. Sie hat ihre Gründe dazu.

Als sie noch jung und dumm war, sprang sie, wie alle anderen Forellen nach allem, was auf dem Wasserspiegel war, und nahm alles fort, was dort angeschwommen kam, und an manchen Abenden blitzte ihr goldener Bauch unter dem Erlenbusche wohl hundertmal auf. Eines Tages aber ging ein Mann, der genagelte Sandalen und lange Strümpfe anhatte, am Bache entlang, eine aus vielen Gliedern zusammengesetzte Rute in der Hand, an deren Handgriff eine blitzende Rolle war, von der eine Seidenschnur an der Rute entlang durch die Drahtösen bis zu ihrer Spitze lief; am Ende der Schnur war ein langer, glasheller Faden, der einer dicht vor dem Verpuppen getöteten Seidenraupe aus dem Leibe gehaspelt war, und daran hing ein winziger Haken, ganz verborgen in künstlich geordneten Federchen und Haaren, die genau so aussahen wie die Frühlingsfliegenart, die an jenem Abend über dem Bache schwirrte.

Langsam ging der Mann stromaufwärts, ab und zu stehen bleibend und mit einer kurzen, ruhigen Bewegung des Handgelenkes die Schnur so geschickt hier oder da hinwerfend, daß die künstliche Fliege an ihrem Ende so leicht wie eine wirkliche Fliege auf das Wasser fiel; sehr oft sprang dann eine Forelle nach dem tückischen Köder, und ehe sie merkte, daß sie Haare und Federn zwischen den Lippen hatte, gab der Mann der Angel einen Ruck, daß der Haken in die Lippen des Fisches eindrang, faßte die Kurbel, rollte die Schnur auf und landete den Fisch, bis er ihn mit der Hand oder, wenn es ein starker Fisch war, der sich heftig wehrte, mit dem Käscher erreichen konnte. Die kleinen, untermaßigen Fische warf er wieder in den Bach, den guten gab er mit der Ebenholzkeule den Genickfang und tat sie in den Fischkorb, den er auf dem Rücken trug. Es war ein erfahrener Sportangler, der eine ausgezeichnete Leine warf und alle Kniffe der hohen Anglerei kannte. Sein Wahlspruch hieß: »Die Forelle beißt immer, wenn am dicken Ende der Rute ein firmer Angler ist.«

Als er sah, daß an dem Erlenbusche eine Forelle so eifrig aufging, warf er die künstliche Fliege dorthin, und sofort hatte er Biß und ruckte an. Heftig schoß die Forelle hin und her, als sie den Stich im Maule fühlte, aber unwiderstehlich fühlte sie sich nach dem Ufer gezogen und in die Luft gehoben und von irgend etwas fest umfaßt. Sie schlug mit dem Schwanze, aber sie kam nicht los. »Eine ganz nette Viertelpfündige,« sagte der Angler und faßte nach der Keule, besann sich aber, murmelte: »Ich habe genug für das Hotel,« löste ihr den Haken aus dem Maule mit festem, sicherem Griff und setzte sie in das Wasser. Einen Augenblick stand sie, betäubt vor Schreck, noch da, dann schoß sie pfeilschnell nach dem Tief und fuhr unter die Wurzeln ihres Ellernbusches. Dort blieb sie eine ganze Stunde stehen. Die kleine Wunde im Oberkiefer fühlte sie kaum mehr, aber ein dumpfes Gefühl des Grauens verließ sie nicht. Erst als es fast dunkel war, schwamm sie aus ihrem Loche heraus, wagte sich aber nicht an die Oberfläche, sondern jagte am Grunde auf Gewürm.

Die Oberfläche des Baches war ihr seitdem verleidet; sie traute keiner Fliege mehr, die auf das Wasser fiel. Der Angler versuchte spaßeshalber, sie noch einmal zu fangen, aber sie nahm die trockene Fliege nicht, und da fischte er mit der nassen Fliege, indem er das Vorfach der Schnur samt der Fliege durch das Wasser zog. Dreimal schwamm die Fliege vor dem Maule der Forelle her, beim vierten Male schnappte sie zu, fühlte wieder den Stich und die fremde Kraft, die sie nach dem Ufer zog, und war bald darauf in der Hand des Anglers. Der löste ihr den Haken aus dem Maule und wollte sie gerade töten, da mußte er niesen und ließ die Forelle los. Sie fiel auf den Schotter, machte zwei Sprünge und klatschte in das Wasser, und der Angler sah ihr nach, lachte und sagte: »Gute Reise!« Sie aber stand lange hinter den langen, rosenroten, hin und her wedelnden Wasserwurzeln des Erlenbusches wie angenagelt und bewegte die Flossen nur ganz leise. Einen ganzen Tag fraß sie nichts, dann aber fuhr sie zwischen die Ellritzen in der Bucht und unter die jungen Forellen und raubte, bis sie satt war. Fliegen aber waren ihr für immer verekelt.

Tagsüber hielt sie sich meistens verborgen, und erst in der Dämmerung ging sie auf Raub aus. Sie schwamm dann hin und wieder und suchte Flohkrebse, Würmer, Schnecken, Larven und Fischbrut. So wurde sie größer und größer, und als in den Stromschnellen die alte Standforelle sich von den Raubfischern in das Garn treiben ließ, nahm sie deren Platz in dem Felsentore am Grunde des Kolkes ein und verjagte alle anderen Forellen, die ihr die gute Stelle streitig machen wollten. Und es war eine gute Stelle, die beste in dem Bache auf eine Meile hin. Oberhalb der Stromschnellen hingen allerlei Zweige über das Wasser, und alle Augenblicke fiel von dort etwas hinunter, Käfer, Raupen, plumpe Falter, manchmal auch ein halbflügger Vogel oder eine junge Maus. Kam ein starker Gewitterregen, dann brauchte die Forelle nur das Maul aufzumachen, soviel Fraß trieb dann in das Felsentor hinein. Niemand konnte ihr dort etwas anhaben; an die Angel ging sie nicht, ganz gleich, ob eine künstliche Fliege, ein Spinnfisch oder gar ein Wurm daran war; denn die Müllerknechte setzten heimlicherweise Nachtangeln. Sie sah sofort, daß der Wurm nicht richtig schwamm, und dann kümmerte sie sich nicht um ihn, weil sie Tag für Tag Nahrung in Hülle und Fülle hatte. Auch mit der Hand war sie in ihrem Verstecke nicht zu greifen, weil das Wasser dort viel zu tief war. So wurde sie die größte Forelle im Bache.

Alle Angler, die dorthin kamen, kannten sie und gaben sich die größte Mühe, sie zu fangen. Ein Engländer, dessen Angelzeug einen Wert von zweitausend Mark darstellte, und der in der Donau den Huchen, in Norwegen den Lachs, in Kanada den Saibling, auf dem Ozean den Riesenbarsch und den Mondfisch geangelt hatte, bot ihr vierzig verschiedene künstliche Fliegen und ebensoviele künstliche Heuschrecken und Käfer an; denn er hatte mit einem anderen Angler viel Geld verwettet, daß er die Großmutter fangen werde. Eine Woche wollte er daran wenden, drei Wochen blieb er da, fing manchen guten Fisch, aber was er nicht fing, das war die Großmutter.


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