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Die Großstadtschwalbe

Neun Monate lang war es still in den Lüften; nun aber ist die Luft voller Lärm.

Neun Monate lang war der Himmel einfarbig blau oder grau oder mit Wolken abgetönt; nun aber ist eine neue Farbe in ihm, ein fremdes Muster; schwarze Halbkreuzchen verzieren ihn, kleine dunkle Anker schwimmen da, düstere Pfeile sausen dort hin.

Am letzten April tauchten sie am Himmel auf; drei Monate lang werden wir sie dort sehen vom frühen Morgen bis in den späten Abend hinein, aber am Ende des Juli oder zu Anfang des August werden sie auf einmal verschwunden sein, bis der letzte Apriltag oder der erste Mai sie wiederbringt, die Mauersegler, die Turmschwalben, die düster gefärbten, schrill rufenden, jäh dahinfahrenden Großstadtschwalben.

»Die Schwalben sind wieder da!« ruft der Großstädter, wenn mit einem Male die stille Luft laut und der eintönig blaue Himmel bunt geworden ist. Aber es sind keine Schwalben. Die gibt es kaum mehr in der großen Stadt. Die rotkehlige, gabelschwänzige, stahlblau schimmernde Rauchschwalbe, die weißbürzelige Hausschwalbe, in wenigen Paaren brüten sie noch im Weichbilde Hannovers, wo sie einst häufig waren. Ihre Stelle nahm der Segler ein.

Mit den Schwalben ist er nicht verwandt, der Name Hirundo kommt ihm nicht zu, denn er ist ein Apus, ein Verwandter der Kolibris, unter denen es auch große, düster gefärbte Gestalten gibt. Die gebogenen Schwingen und sein schwirrender, spitzer Schrei trennen ihn auf den ersten Blick von den Schwalben, und nur äußerlich ähnelt er ihnen, wie der Walfisch den Fischen, die Blindschleiche den Schlangen. Die Salangane, die aus ihrem Speichel eßbare Nistnäpfe formt, die Zwergsegler Indiens, die Baumsegler von Südostasien, das ist die Sippe, der er angehört, nicht das liebe, lustige Volk der Schwalben.

Von Rechts wegen hat er nichts bei uns zu suchen, der düstere Geselle. Die Klippen des Mittelmeerbeckens, Vorderasiens Gebirge, Nordafrikas Felsen, die sind seine Heimat. Von da hat er sich – den kein Raubvogel hindert, sich über die Maßen zu vermehren, denn selbst der schnellste Falke schlägt ihn nur selten – nach allen vier Winden verbreitet, und hoch im skandinavischen Norden mischt er seinen schrillen Schrei in das Gekicher der Möwen, wie er am Himalaja das Gekreische der grellschnäbeligen Felsendohlen übertönt.

Ob Tiefland oder Gebirge, ob Küste oder Binnenland, ob Marsch oder Geest, alles ist ihm recht, wenn er nur Klippen findet, hohe, steile Klippen, wie er sie gewohnt ist. Vor grauen Zeiten gaben ihm die im Flachlande nur die Kirchen, Klöster und Burgen, und nur dort mag er anfangs bei uns gebrütet haben. Als dann aber die Städte ihm hohe Steinklippen in ihren Mauern und Häusern boten, da vermehrte er sich immer mehr, und je mehr auf dem Lande das steinerne Stockwerkhaus sich einbürgert, um so mehr siedelt sich auch der Segler dort an. Aber heute noch fehlt er überall dort, wo das niedrige Bauernhaus vorherrscht, und höchstens am Kirchturm wohnt ein Paar und mischt sein Geschrille in das Geschwätz und Geplauder der Schwalben, die ihm scheu ausweichen.

Denn es ist ein unholder Geselle, der rußbraune, unheimlich schimmernde Vogel. So frech der Spatz und so dreist der Star ist, ihm müssen sie weichen. Mit den schwachen, aber scharf bewehrten Klauen zerrt er ihre Eier und Jungen aus dem Nest, und wollen die Alten ihm zu Leibe, so weicht er mit jähem Schwunge aus. Halten sie aber stand, so stürzt er sich auf sie, krallt sich an ihnen fest, zerrt sie aus ihrem Loche, reißt sie aus ihrer Mauerspalte und stürzt sie kopfüber hinab. Und selbst wenn er ein eigenes Nestloch fand, so ist er doch zu bequem, nach fliegenden Halmen und schwebenden Federn lange zu suchen; er bricht bei Spatz und Star, Rotschwanz und Fliegenschnäpper ein, wirft Eier und Junge hinaus, zerreißt das Nest und schleppt die Reste in seine Räuberburg.

Die steht da irgendwo unter einer Dachrinne, je höher, je lieber. Liederlich, wie alles Räubervolk, richtet er sie ein. Einige Zeugfetzen, ein paar Halme und Federn, mit seinem zähen Speichel zusammengeklebt und auf der Unterlage festgekittet, das ist die ganze Herrlichkeit. Und darauf sitzt das Weibchen, wehrt sich gegen die Fledermauswanzen und Lausfliegen und läßt sich vom Männchen füttern; denn es heißt, schnell zu brüten, weil die Zeit zu kurz ist für die Aufzucht der Brut. In zwei Monaten geht es wieder fort.

Langsames Bedenken, bedächtiges Abwägen, kühle Ruhe, böhmische Dörfer sind das alles dem Segler. Alles muß schnell bei ihm gehen, so schnell wie möglich. Heute schwebt er noch über den Urwäldern Innerafrikas, morgen saust er über die Berge der Kabylen, übermorgen neckt er am Großglockner seinen großen Vetter, den Alpensegler, und überübermorgen fallen seine Horden in die deutschen Städte ein. ›Eilig, eilig, wir haben keine Zeit!‹ das bedeutet das spitze Schreien, das heisere Schrillen. Schnell kreuz und quer über die Stadt, schnell tausend Fuß in die Wolken, hinab bis auf den Erdboden, vom Walde zur Heide, vom Berg zum Moor, mit der Sonne auf, mit ihr zur Ruh; denn die Zeit ist kurz.

Alles geht mit Dampf. Fressen, lieben, hassen, alles geht schnell, alles spielt sich in der Luft ab. Unaufhörlich klappt der breite Rachen zu, kneift den Mücken, Motten, Fliegen, Käfern Beine und Flügel ab, Hunderten täglich; denn die Maschine muß geheizt werden, sonst gibt sie nicht Kraft genug her zum rasenden Fluge, zum wilden Sturze. Alles, was da oben in der Luft schwirrt und flirrt, sich des Lichtes und der Wärme freut, sich in der lauen Luft wiegt oder vom Winde hinweggeführt wird, das muß sterben; es verschwindet in des Seglers breitem Rachen. Und ist der Himmel tief, ist die Luft arm und leer an winzigem Geziefer, dann saust der schwarze Mörder hinab und rafft alles dahin, was über der Wiese tanzt und am Rande des Waldes sich wiegt, in den Höfen schwirrt und in den Straßen flirrt. Es gibt keine Rettung vor ihm.

Und so ist es auch in der Liebe. Da gibt es kein zartes Schmachten, kein schüchternes Werben. In wildem Fluge wirbt, in jähem Stoße erobert er. Aber nicht ohne Neid und Kampf bleibt sein Werben. Sein Minnespiel winkt die Nebenbuhler herbei, und nun heißt es, das Weibchen nicht zu verlieren während der Schlacht. Erstaunt heben die Städter die Köpfe: ein zehnstimmiges Geschrille kommt hoch über den Dächern dahergetobt, zehn wilde, schwarze Gestalten sausen dahin, überfliegen sich, prallen aufeinander, weichen sich aus, und aus dem Wirbel löst sich ein Knäuel, taumelt herab, fast bis auf das Pflaster, um sich aufzulösen in zwei schwarze, langschwingige Vögel, die mit heiseren Hassesrufen steil emporsteigen und sich über den Dächern weiter befehden.

Unaufhörlich geht das Getobe in der Luft seinen Gang. Sind erst die Tage länger, hat die Sonne in der Frühe schon so viel Kraft, um des Seglers Jagdbeute emporzulocken, dann stürzt er sich schon um drei Uhr früh aus seiner Mauerspalte, saust den ganzen Tag ruhelos umher, sich vollfressend und seiner Brut Atzung zuschleppend; und um die neunte Stunde, wenn der Tag verblutet, fährt er in seine Höhle und ruht, bis die Sonne ihn wieder weckt und er wieder seinen Lärm über die Stadt ausschüttet und sein Geschrille in ihre Straßen streut und sein Gekreisch in den Morgenschlummer der Menschen bohrt.

Die kennen ihn alle und kennen ihn doch nicht. Sie kennen ihn, wie man den Mond kennt oder die Sonne. Alle hören ihn Tag für Tag, jeder sieht ihn Stunde um Stunde, sein Kreischen ist untrennbar von dem Geräusche des sommerlichen Stadtlebens, sein Flugbild ist innig mit dem Begriffe des Sommerhimmels verschmolzen; was das aber ist, was da schrillt und schwebt, das wissen nur wenige Leute, solche, die ganz oben in den Häusern wohnen, in Dachwohnungen, über deren Fenstern, unter deren Wasserrinnen er haust.

Eines Morgens weckt sie ein scharfer, bissiger Schrei. Sie stehen auf, öffnen das Fenster, und ein pfeilschnelles schwarzes Ding fährt schreiend unter der Dachrinne hervor, verschwindet, saust wieder heran, schlüpft unter die Dachrinne und ist im Nu wieder fort. Dann, nach einigen Tagen, hängt ein Halm unter der Blechrinne heraus, und ein heiseres Gewisper erklingt von dort. Ein schwarzes Ding huscht fort, ein anderes huscht herbei, einen Halm nach sich ziehend, hängt an der Mauer, nestelt den Halm fest und stiebt grell aufkreischend wieder von dannen.

Der Kopf des Menschen, der dicht bei ihm aus dem Fenster sieht, stört das schwarze Ding nicht. Es weiß ja, wie schnell es ist, und die zum Scherz vorgeschnellte Hand, des weißen Tuches Winken, das kümmert den Segler nicht. Und die Katze, die mit funkelnden Augen aus dem Fenster schleicht, sie macht ihm keine Sorgen. Näher, immer näher schleicht sie, aber der schwarze Vogel klebt gleichgültig an der Mauer und leimt mit seinem Speichel die Halme fest. Die Katze duckt sich, zieht die Schultern hoch, und jetzt fährt ihre Pranke vor, schlägt sie nach dem Vogel. Der hat sich mit einem Schlage seiner langen Fittiche sechs Fuß weit von der Mauer in die Luft geschnellt und ist in kurzem Bogen zurückgekehrt, um seine Feindin zu begleiten auf der schnellen Reise von der Dachrinne in den gepflasterten Hof, wo sie dumpf aufschlagend mitten zwischen den spielenden Kindern liegen bleibt, die sie weinend hochnehmen und streicheln, bis sie langsam wieder zu sich kommt und lendenlahm die Treppen emporschleicht. Der Segler aber hat fortan Ruhe vor ihr, und wenn sie am Fenster sitzt und er ihr dicht an der Nase vorbeifährt und sie mit spitzen Worten verhöhnt, keinen Blick wirft sie ihm zu.

Mensch und Katze sehen täglich, stündlich die schwarzen Vögel aus- und einfliegen, bis der eine immer länger im Neste bleibt, und der andere immer öfter ab- und zufliegt. Und dann fliegen wieder beide hin und wieder, und aus dem Neste kommt ein hungriges Gezirpe, das von Tag zu Tag schärfer, lauter, heiserer wird. Bis dann wieder eines Tages das Nest leer ist und tagsüber verlassen bleibt, um abends von vier schwarzen Gestalten aufgesucht zu werden.

Am Morgen des ersten August aber werden die Leute nicht mehr von dem schrillen Gekreische gestört. Verwundert sehen sie aus dem Fenster. Die Spatzen schilpen im Hofe, auf der Dachrinne hüpft der Rotschwanz umher, aber die Luft ist still, und der Himmel ist kahl; keins der schwarzen, lauten Dinger fährt mehr daran hin und her.

Die Segler sind fort. Sie verschwanden, wie sie kamen, plötzlich und jäh, wie es ihre Art ist. Und während der Mann nach dem leeren Himmel starrt, an dem gestern noch ein schwarzes Gewimmel war, da jagen die vier schwarzen Vögel schon mit vielen ihrer Sippe in jähem Fluge über die Gletscher des Großglockners hin, und abends, wenn der Mann die Lampe anzündet, dann haben sie das Mittelländische Meer schon hinter sich und schlüpfen in die Ritzen einer halbverfallenen Moschee im Lande der Kabylen, um einen Abend später über den Urwäldern der Nilquellen, wie vor wenigen Tagen noch über den Dächern der deutschen Stadt, alles, was an fliegendem Gewürm dort lebt und schwebt, zu verschlingen.


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