Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.
Helsingfors, die Pforte Finnlands.

Ob mich die Mücken fressen werden? – Sommertag auf der Ostsee. – Man lernt und man genießt. – Sprechen Sie finnisch? – Suomi's Sang. – Willem und Fritze. – Helsingfors steigt aus dem Meer. – Johannes begrüßt mich. – Ich habe 24 Kinder. – Helle Nächte, frohe Tage. – Straßenbummel und Wasserfahrten. – Abschied von Helsingfors.


Ein paar Stunden lang hatten wir an jenem denkwürdigen Geburtstagsabend noch hin und her geredet, um den Plan, mit dem uns Johannes überrumpelt hatte, durchzusprechen. Bücher wurden hervorgeholt, aus denen man sich Rat holen konnte, Atlanten wurden gewälzt, und schließlich war eine Übereinkunft zustande gekommen.

Eduard beschloß, mit einem der langsam fahrenden Erzdampfer, die den Verkehr zwischen Stettin und dem nordschwedischen Erzgebiet aufrecht erhalten, behaglich nordwärts zu gondeln und dann sozusagen »oben herum« über Haparanda nach Nordfinnland zum verabredeten Stelldichein zu kommen. Ich selber aber, gründlich, wie wir Deutschen nun einmal sind, sagte mir: der Weg zu den finnischen Lappenhöfen führt am zweckmäßigsten durch Finnland selbst, und es wird ganz gut sein, zunächst einmal sich im Lande einzugewöhnen und die frische Luft des Nordens durch einige Sommerwochen einzuatmen, ehe man sich in die Hitze des allerhöchsten Nordens begibt.

Hitze des allerhöchsten Nordens? Nein, es ist kein Schreibfehler! Denn die Teile von Finnisch-Lappland, die weit ab vom Meere liegen, bringen es im Sommer unter den Strahlen der kaum untergehenden Sonne zu recht ansehnlichen Wärmegraden. Schließlich wäre es ja auch einerlei, ob man sich in Nordafrika oder in Lappland von der Sonne braten läßt, aber die Sache hatte noch einen anderen Haken.

Als ich laut werden ließ, daß ich mit einigen Kameraden diese Sommerfahrt in den hohen Norden machen wollte, erzählte mir einer, der seine Weisheit natürlich nur aus Büchern hatte, es sei für einen zivilisierten Menschen einfach unmöglich, dort oben durchzukommen, weil er überhaupt vorher schon von den Mücken aufgefressen würde. Das war für mich nun durchaus keine neue Weisheit. Aber, so sagte ich mir, wenn es die Einheimischen aushalten, warum sollten wir es nicht auch können?

Natürlich, eins war sicher: Mit einer Sommerreise im Vergnügungsdampfer oder im Privatautomobil war unser Unternehmen nicht zu vergleichen und an Strapazen würde es gewiß nicht fehlen.

Um so richtiger war es also, sich ein paar Wochen vorher auszuruhen und abzuhärten, und bei dieser Gelegenheit zugleich im Frieden des Sommers Finnland kennen zu lernen.

Eine besondere Lockung für mich war zudem die Möglichkeit, in einem Badeort am Finnischen Meerbusen bei Verwandten in einem Landhaus zu wohnen und von dort aus meine Streifzüge zu unternehmen.

*

Und so geschah es auch. Es war gerade hochsommerliche Zeit, Johannistag und Sonnenwende, als ich an einem Sonnabendnachmittag den schönen weißen Dampfer »Rügen« bestieg, der die Strecke zwischen Stettin und der finnischen Hauptstadt in etwa achtundvierzig Stunden zurücklegt.

Glück muß der Mensch haben! Die Ostsee war spiegelglatt, und so wurde die Seefahrt zu einem wirklichen Sonntagsvergnügen.

Langsam ging es hinaus auf dem breiten Oderfluß, vorbei an den stolzen Ufergebäuden der pommerschen Hafenstadt, vorbei an Fabriken und Werften auf das Haff und dann durch die schmale Kaiserfahrt bei Swinemünde am Leuchtturm vorüber hinein in die Ostsee!

Wie es auf deutschen Schiffen zugeht, das braucht man ja nicht zu erzählen! Alles ist blitzblank und sauber, die Bedienung freundlich und zuvorkommend, das Essen so nahrhaft und reichlich, daß man immerfort Spaziergänge ums Schiff herum machen muß, um den Ansprüchen der nächsten Mahlzeit einigermaßen zu genügen.

Und dann gibt's wieder zur Abwechslung von Scherz und Spiel jene köstlichen Faulenzerstunden, wo man sich auf dem Liegestuhl ausstreckt, dem Rauschen der Bugwelle zuhört, in den blauen Himmel hinaufträumt oder den unermüdlichen Möwen zuschaut, wie sie sich, ewig schreiend und krächzend, um die hinausgeworfenen Brotstückchen zanken.

Es gibt Menschen, die sich auf einer Reise gleich eine ganze Bibliothek mitnehmen, weil sie glauben, daß sie unterwegs endlich die Zeit finden würden, die Bücher zu lesen, für die sie zu Hause nicht zu haben sind. Meistens aber ist auch auf der Reise der Geist willig und das Fleisch schwach. Darum ist es schon besser, man nimmt nur ein paar handliche Bücher mit, die sich leicht unterbringen lassen, und am zweckmäßigsten ist es, sich solche auszuwählen, durch die man sich über Land und Leute unterrichten kann.

Ich wenigstens halte es so und habe gerade auf Schiffsreisen immer wieder die Zeit dazu gefunden, auf dem Liegestuhl ausgestreckt, mich über Dinge zu belehren, die mir noch nicht vertraut waren. Jedenfalls hätte ich mich geschämt, wenn es mir ebenso gegangen wäre, wie jener Dame, die auf einer meiner früheren Reisen nach dem weltentlegenen Island zur allgemeinen Heiterkeit der herumstehenden Schiffspassagiere ihren Mann fragte, »ob denn in Island Eskimos wohnten?« Sie hatte natürlich Island mit Grönland verwechselt! Solch ein Hereinfall sollte mir nicht passieren.

Darum vertiefte ich mich, während wir im herrlichen Sonnenschein des Mittsommers die Ostsee durchquerten, in ein kleines, aber inhaltreiches Buch über Finnland. Der Zufall wollte es, daß ich einen nach seiner Heimat zurückkehrenden finnischen Gelehrten kennen lernte, einen Naturwissenschaftler, der aber auch auf allen anderen Gebieten gründlich Bescheid wußte.

Hatte ich noch wenige Wochen vorher mir nur ein unklares Bild von Land und Leuten machen können, so stand jetzt schon alles so fest umrissen vor mir, als ob ich nicht zum erstenmal nach Finnland käme.

Also so groß ungefähr wie Preußen und Württemberg zusammen ist Finnland. Aber es wohnen nicht mehr als dreieinhalb Millionen Einwohner dort, noch nicht einmal so viel wie in Berlin mit seinen Vororten! Außer der Hauptstadt selbst mit ihren rund zweihunderttausend Einwohnern gibt es nur noch wenige mittelgroße Städte, wie z. B. Abo, Wiborg, Wasa am Bottnischen Meerbusen und das industriereiche Tammerfors. Je weiter man aber ins Innere des Landes kommt, um so weniger Menschen findet man, und in der Lappmark hat man manchmal fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer zurückzulegen, bis man wieder auf eine Siedlung stößt. Wer also die Einsamkeit liebt, ist da am rechten Orte.

»Wie werde ich aber durch das Land kommen,« fragte ich meinen gut unterrichteten Gewährsmann, »wenn ich Ihre Sprache nicht verstehe? Sie können nicht gut erwarten, daß ich Finnisch lerne, eine Sprache, von der man mir gesagt hat, daß es in ihr für die Hauptwörter statt unserer vier deutschen ›Kasus‹ nicht weniger als fünfzehn gibt? Und dann die bösen unregelmäßigen Verba?«

»Ja, lieber Herr,« meinte der Gelehrte, »da höre ich wieder einmal das alte Lied, das man von den Ausländern immer zu hören bekommt. Wir Finnländer wissen, daß unsere Sprache nicht ganz leicht ist, obwohl die Schwierigkeiten oft übertrieben werden. Aber wir sind auch gar nicht so eingebildet, von Ihnen zu verlangen, um einer Sommerreise willen sich in die Geheimnisse unserer Grammatik zu vertiefen! Sie wissen ja wohl, daß jetzt etwa neunundachtzig Prozent unserer Bevölkerung finnisch sprechen und nur noch elf Prozent schwedisch? Wenn Sie sich nun in Helsingfors oder sonstwo an der südwestlichen Küste Finnlands aufhalten, dann können Sie ja versuchsweise Ihre schwedischen Sprachkenntnisse hervorholen, von denen Sie mir erzählt haben. Im übrigen aber will ich Ihnen verraten: wir Finnländer lernen auf allen unseren Schulen auch Deutsch. Wenn Sie nun jemand auf der Straße begegnen und ihn auf finnisch, schwedisch oder deutsch gefragt haben, ob er deutsch kann, so wird er in den meisten Fällen zunächst ein bißchen verlegen sein. Wir Finnländer sind nämlich etwas schweigsame Leute und haben auch nicht die Beweglichkeit der Südländer. Aber allmählich wachen auch in uns die Schulerinnerungen auf, und man gibt Ihnen in Ihrer Muttersprache Bescheid. Unsere Gebildeten verstehen natürlich alle deutsch, und selbst an den abgelegensten Plätzen werden Sie immer jemand finden, einen Pfarrer, einen Lehrer oder einen Beamten, der deutsch kann. Außerdem haben viele von uns in Deutschland studiert und beherrschen auch infolgedessen die deutsche Sprache ganz leidlich. Wenn Sie aber in Helsingfors nicht so recht wissen, an wen Sie Ihre Frage richten sollen, dann wenden Sie sich nur an unsere jungen weißbemützten Leute beiderlei Geschlechts! Das sind Studenten und Studentinnen, und bei diesen werden Sie ganz gewiß nicht umsonst anklopfen.«

»Das beruhigt mich außerordentlich,« erwiderte ich, »denn ich habe die Absicht, auch in diesen Kreisen Bekanntschaften anzuknüpfen, weil ich denke, daß man da noch manches hören kann, was lehrreicher ist als alle Bücherweisheit.«

»Da haben Sie recht«, meinte der Finnländer. »Was hilft es Ihnen, wenn Sie aus irgendwelchen Büchern herauslesen, daß unser Land der tausend Seeen in Wirklichkeit über fünfunddreißigtausend Seeen aufweist? Oder, daß dreißig Hundertstel unseres Bodens von Sümpfen und Mooren bedeckt sind? Was sagt es Ihnen, wenn Sie aus unseren naturwissenschaftlichen Werken erfahren, daß wir etwa zweitausend Arten Moose und Flechten besitzen und etwa hundertzehn Arten von Fischen? So etwas ist fürs Examen gut, aber was Sie als Ausländer tun müssen, der unser Land kennen lernen will, das ist von morgens bis abends sehen und hören, immer wieder sehen und hören!«

*

Unter solchen Gesprächen war der Sonntag vergangen. Am Montag in der grauen Morgenfrühe sahen wir in der Ferne zur Rechten die Insel Ösel, wo neben einer kleinen Dorfkirche in einem Waldkomplex der Dichter und Kämpfer Walter Flex begraben liegt.

Noch vor Mittag stiegen die türmereichen Umrisse der alten Handelsstadt Reval am Horizont auf. Je näher wir kamen, um so mehr hatten wir alle den Eindruck, als ob wir uns einer alten deutschen Hansestadt näherten. Nur die Kuppeln einer russischen Kirche bildeten zu den spitzen Türmen der anderen Gotteshäuser einen merkwürdigen Gegensatz. Sie erinnerten daran, daß hier bis vor wenigen Jahren Rußland geherrscht hatte.

Jetzt war das Baltenland zwar von der russischen Herrschaft frei geworden. Aber in den Staaten, die sich da neu gebildet hatten, in Litauen, Lettland und Estland wurde ebenso wie zur russischen Zeit der Kampf gegen diejenigen weitergeführt, denen diese Gebiete überhaupt ihre Kultur zu verdanken hatten, gegen die Balten, deren Vorfahren einst als deutsche Ordensritter hier eingezogen waren. Hatte doch auch Reval, als jetzige Hauptstadt Estlands seinen guten alten Namen opfern müssen und hieß nun Tallinn!

Während ich mit einem deutschen Landsmann, der ebenfalls nach Finnland fuhr, solchen ernsten Gedanken nachhing, ertönte plötzlich vom Ufer aus, als unser Schiff wieder mit nördlichem Kurs den Hafen verließ, ein ernster dreistimmiger Gesang. Er klang wie ein Choral. Der finnische Gelehrte sagte uns, es sei ein finnischer Volksgesang, den einige in Reval ansässige Finnländer ihren in die Heimat zurückkehrenden Landsleuten als Abschiedsgruß mit auf den Weg gäben.

Es waren wohlgeschulte Stimmen, die dieses Lied sangen. Die bewegten Wellen der Revaler Bucht gaben ihm einen Vollklang, als ob drei- bis viermal soviel Sänger sich daran beteiligten. Ergreifend war die Innigkeit und verhaltene Wehmut, die aus dem Liede klang. Ich ließ mir seinen Sinn erklären. Da hieß es unter anderem:

»Hör die hohen Föhren sausen,
Hör die tiefen Ströme brausen,
Das ist Suomis Sang!«

Hier zum erstenmal hörte ich das finnische Wort »Suomi«, die einheimische Bezeichnung für Finnland.

Es war für uns der erste Gruß des Nordens, der in feierlichem Ernst dargeboten wurde. Wie begreiflich ist es, daß gerade das Brausen der Wipfel und der Gesang der Wasser als das ewige Heimatlied Finnlands bezeichnet werden! Dem ernsten Liede aber folgte noch ein fröhlicheres, welches im langsamen Marschtempo gesungen wurde. Das war die eigentliche »Nationalhymne« Finnlands, die mit den Worten beginnt:

»Unser Land, unser Land, unser Vaterland,
Hehrer Klang und teures Wort!«

»Merkwürdig,« sagte ich zu meinem Nachbar, »der Anfang dieser Singweise erinnert mich etwas an das fröhliche deutsche Studentenlied ›Der Papst lebt herrlich in der Welt‹.

»Das ist kein Wunder,« belehrte er mich, »denn der Mann, der uns diese beiden schönen Lieder in Musik gesetzt hat, war ein Deutscher, ein gewisser Pacius, ein geborener Hamburger. Er ist in jungen Jahren zu uns nach Helsingfors gekommen, hat Opern geschrieben, Gesangvereine gegründet, und ist nach segensreichem Wirken 1891 in unserer Hauptstadt gestorben. Es ist ja möglich, daß ihm bei der Vertonung unserer Hymne eine letzte Erinnerung an jenes Lied durch den Kopf ging, welches Sie auf Ihren deutschen Studentenkneipen mit soviel Begeisterung zu singen pflegen.«

*

Wenn uns Erwachsene der tiefe Ernst des ersten Gesanges besonders ergriff, so fand der zweite, kräftig und frisch, wie er war, den lebhaftesten Widerhall bei einer Gruppe eigenartiger Fahrgäste, die wir an Bord hatten, und von denen ich bisher noch nichts erzählt habe.

Das waren etwa zwei Dutzend deutsche Kinder, Buben und Mädel, richtige Bleichgesichter, denen man ansah, daß sie in den vergangenen Kriegsjahren nicht die Nahrung gehabt hatten, die man braucht, um dicke rote Backen zu bekommen. Diese Kinder waren auf der Fahrt nach Finnland, wo finnische Deutschenfreunde für ihre Unterbringung auf Bauernhöfen sorgten. Dort sollten sie sich an der guten finnischen Butter und Milch laben, sollten so richtig auf die grüne Weide geführt werden, um gesund und einige Pfund schwerer wieder in die deutsche Heimat zurückzukehren.

Man kann sich denken, was das schon seit der Abfahrt von Stettin für eine Unruhe und Aufregung war! Alle, wie sie da waren, hatten noch niemals eine richtige Seereise auf einem großen Dampfer gemacht. Und alle Erwartungen, die daran geknüpft waren, wurden noch übertroffen.

Die gefürchtete Seekrankheit hatte keinen einzigen der kleinen Fahrgäste befallen, dafür aber hatte die Schiffsküche für so reichliche Fütterung gesorgt, daß ein dreister kleiner Berliner schon am Sonntagmittag, als die Hauptmahlzeit erledigt war, zu einem Kameraden sagte:

»Mensch, ick muß mir von die Stewardesse die Hosen weiter machen lassen, sonst komm' ick mit meinem Bauch morjen nich mehr rin!«

Ich selber hatte mich gleich zu Anfang mit meinen kleinen Landsleuten angefreundet und half dem zweiten Offizier, der die Oberaufsicht hatte, und der deutschen Dame, welche die Schar aus der Heimat nach Finnland führte, das unruhige Volk zu bevatern und zu bemuttern.

Natürlich hatte ich diesen kleinen Finnlandfahrern versprechen müssen, sie bei der Ankunft in Helsingfors nicht gleich im Stich zu lassen, sondern noch ein paar Stunden mit ihnen zusammen zu bleiben. Das Versprechen habe ich auch gehalten.

Inzwischen kam unser Dampfer der finnischen Küste immer näher. Bald stiegen als dunkle Punkte die ersten Schärenklippen aus dem Meer, sozusagen die äußersten granitenen Vorposten des Landes. Dann kamen links und rechts die größeren bewaldeten Inseln zum Vorschein, die sich zu Hunderten und Tausenden als treue Wacht der eigentlichen Festlandküste vorgelagert haben. Zwischen den Bäumen lugten helle, meist farbig gestrichene Sommerhäuser hervor, allerlei kleine Dampfer und Fischerboote kamen uns entgegen, und endlich tauchten in immer wachsender Größe die Umrisse der Stadt Helsingfors auf.

Als wir in den Hafen einliefen, ging ein Laut freudigen Erstaunens das ganze Schiff entlang, wo Groß und Klein dicht gedrängt an der Reeling stand, um das unvergleichlich schöne Bild in sich aufzunehmen!

*

Da lag sie nun vor uns, die stolze, wenn auch noch junge Hauptstadt des Landes: denn vor etwas mehr als hundert Jahren erst hatte das alte Åbo diese Rolle an Helsingfors (finnisch: Helsinki) abgetreten.

Wer vergäße jemals den ersten Blick auf Helsingfors! Ist es nicht ein schönes Sinnbild, daß am Eingang des Landes gleich die Hauptstadt den Ankommenden begrüßt? So ist Helsingfors wirklich die Pforte Finnlands! Und so gering auch vergleichsweise die Einwohnerzahl der jungen Hauptstadt ist – ihre Lage am Meer, das von der stolzen Nikolaikirche überragte Stadtbild, verleiht ihr einen ebenso stattlichen wie freundlichen Charakter.

Mit immer langsamerer Fahrt glitt unser Schiff in den Hafen ein. Vorüber ging's an den Granitmauern der alten Festung Sveaborg, die jetzt seit der finnischen Selbständigkeit Suomenlinna heißt. Bald waren wir mitten im Herzen der Stadt, da diese mit ihren Häuserreihen an beiden Seiten den Hafen umgibt. Links blickten wir auf zahlreiche Segel- und Motorboote, die vor Anker lagen, sowie auf eine reizende Sommerwirtschaft auf einer felsigen Insel, Klippan geheißen.

»Du, Fritze,« sagte Willem, unser kleiner Berliner, der immer das große Wort führte, zu seinem Kameraden »kiek mal, det is fast wie bei uns in Berlin am Wannsee der schwedische Pavilljon, wo die feinen Leute Mittag essen.«

»Mensch, quatsch doch nich,« war die Erwiderung, »det mußt de doch sehen, daß unser Wannsee gegen die Schose hier 'ne janz kleene Pfütze is.«

Diese vergleichende Geographie fand bald ihr Ende, denn immer neue Eindrücke forderten ihr Recht.

Links am Ufer erhob sich inmitten einer grünen Parkanlage der Observatoriumsberg mit der Sternwarte, während vor uns rechts in fast greifbarer Nähe die Kuppeln einer russischen Kirche im Sonnenschein glitzerten. Das war auch hier wie in Reval die einzige Erinnerung an die Zeit der russischen Herrschaft, deren sich das finnische Volk so tapfer erwehrt hatte.

.

Kapelle in Walamo

.

Mönche auf Walamo

.

Berg Soana mit Touristenhütte

Endlich legte unser Schiff an, die Haltetaue wurden ausgeworfen, der Anker rasselte hinunter, die Laufstege zum Lande wurden angebracht: nach achtundvierzigstündiger Fahrt hatten wir unser Ziel erreicht!

Wie eine schwarze Schlange schob sich das Gewimmel der Fahrgäste ans Land, begrüßt von einer ebenso großen Schar von Freunden und Verwandten, während hinter ausgespannten Seilen eine neugierige Menge stand und die Ankömmlinge gleichfalls munter lachend besichtigte.

Ich selbst sehe in dem bunten Gewimmel jemanden energisch mit dem Hute winken. Wahrhaftig, Johannes hatte es sich nicht nehmen lassen, zu meiner Ankunft zu kommen, und er begrüßte mich in seiner humoristischen Weise im Namen Finnlands.

Er war freilich sehr erstaunt, als ich ihm erzählte, ich könnte mich ihm vorerst noch nicht widmen, denn ich hätte höhere Pflichten, weil ich inzwischen Vater geworden sei.

»Nanu,« meinte er, »was soll denn das heißen?«

»Jawohl, da staunen Sie! Und Sie staunen noch mehr, wenn ich Ihnen sage, daß ich, seitdem wir uns nicht gesehen haben, nicht weniger als zwölf Buben und zwölf Mädel gekriegt habe!«

»Ach so,« meinte er lachend, »ich verstehe! Sie haben sich Ihrer kleinen Landsleute angenommen.«

Wir verständigten uns, daß wir am späteren Nachmittag einen Spaziergang durch Helsingfors machen wollten, während ich inzwischen meine Vierundzwanzig noch bis in das Haus ihrer ersten Unterkunft begleitete.

*

Wie trefflich hatte der Hilfsausschuß in Helsingfors für alles vorgesorgt! Die schlanke Dame mit dem gütigen Gesicht, welche die Ankömmlinge gleich wie eine Mutter in Empfang genommen hatte, war Fräulein Jenni af Forselles, die seit Jahren ihre Zeit und Kraft diesen Ferienkindern widmete. Und der Herr, der wie ein freundlicher Onkel aussah und der finnischen Dame helfend zur Seite stand, war ein in Helsingfors lebender Deutscher.

Nun schloß ich mich natürlich dem Zuge an, der paarweise gruppiert durch die schönste Straße von Helsingfors, die mit Blumenbeeten und Baumgruppen freundlich geschmückte Esplanade, zu unserm Ziel ging.

»Feine Kiste!« war das Urteil von Jung-Berlin. »Det is hier viel scheener als bei uns unter die Linden. Nanu, ooch noch Musike zu unsern Empfang?«

Wir kamen nämlich nach wenigen Schritten schon an einem Musikpavillon vorbei, in welchem, wie immer an Sommernachmittagen, eine finnische Militärkapelle ihre Weisen ertönen ließ. Was uns da in die Ohren klang war gerade einer der Lieblingsmärsche der Finnländer, der sogenannte Björneborger Marsch, auch er ein Werk unseres deutschen Landsmannes Pacius.

Unser junges Völklein, überall freudig begrüßt, setzte sich jetzt richtig in Haltung und marschierte in festem Tritt und Schritt durch die Menge der Spaziergänger, die links und rechts Spalier bildeten.

Vorbei gings am Denkmal des finnischen Nationaldichters Runeberg, vorbei am Opernhaus, das der Abschluß der Esplanade ist, und so gelangten wir schließlich in die hellen freundlichen Räume einer Haushaltsschule, in der zwei Säle für das erste Nachtlager der kleinen Gäste bereit gehalten waren, während in einem dritten Raum ein langer, sauber gedeckter Tisch hocherfreuliche Erwartungen weckte.

»Fritze,« meinte unser kritischer Zeitgenosse Willem von der Spree, »nu jiebts schon wieder wat zu futtern! Man kommt ja aus die Präpelei jar nicht mehr raus.«

»Ja, ja,« meinte Fritze ganz pomadig, »et jeht einem hier wieder mal viel besser als man's verdient.«

Plötzlich entstand eine gelinde Aufregung: Beim Aufstellen entdeckte man, daß ein Junge fehlte! Er mußte sich während der Wanderung durch die Stadt irgendwie »verkrümelt« haben.

»Och,« meinte unser Berliner, »der wird sich schon wieder einfinden, auf dem Schiff kam er sogar zum Essen zu spät.«

Man brauchte wirklich nicht sehr in Sorge zu sein, denn wenn der Junge sich verlaufen hatte, war er an seinem Abzeichen als deutsches Ferienkind zu erkennen. Es war anzunehmen, daß irgendeine mitleidige Seele ihn anschleppen würde.

So geschah es denn auch. Nach einer halben Stunde war er bereits da. Eine finnische Studentin hatte sich des versprengten Deutschen mütterlich angenommen und brachte ihn, da sie zufällig die Sammelstätte kannte, auch glücklich wieder zu seinen Genossen. Diese empfingen ihn natürlich mit großem Hallo, und während den besorgten Damen und Herren des Empfangsausschusses ein Stein vom Herzen fiel, faßte Jung-Berlin seine Meinung in die Worte:

»Olle Transuse, wenn du een Berliner wärst, hättest du dich nicht verloofen! Wir Berliner passen uff!«

Da nun auch dieser Zwischenfall zu allgemeiner Zufriedenheit erledigt war, und die erste Atzung auf finnischem Boden mit gebührender Gründlichkeit betrieben wurde, konnte ich mich von meinen kleinen Freunden verabschieden. Ich mußte ihnen versprechen, von meiner weiteren Reise und Wanderfahrt nach Lappland wunderschöne Ansichtskarten zu schicken, und sie versprachen dasselbe.

Ich aber konnte jetzt daran gehen, meiner Verabredung mit Johannes nachzukommen.

*

Wie ich es mir gleich gedacht hatte, blieb es nicht bei dem einen Nachmittag und Abend.

Schon nach dem ersten Rundgang durch Helsingfors und nach der ersten abendlichen Spazierfahrt auf einem der flinken Motorschiffchen, die überall zwischen dem Festland und den Schären hin und her flitzen, hatte sich mir die Sommerherrlichkeit des Nordens so gründlich offenbart, daß ich einige Tage zu bleiben beschloß.

Wir hatten ja keine Eile, unsere Zusammenkunft im Städtchen Rovaniemi sollte erst in vier Wochen stattfinden. Außerdem setzte Johannes seinen Stolz darein, mir seine schöne Vaterstadt und ihre schöne Umgebung so gründlich zu zeigen, als ob er selbst ein Deutscher wäre.

.

Gottesdienst in den Schären (Gemälde von Edelfelt)

.

Floß in der Stromschnelle

.

Stromschnelle Jäniskoski

.

Olofsburg in Nyslott

Wie habe ich die Herrlichkeit des nordischen Sommers mit vollem Behagen genossen!

Wir südlicheren Europäer ahnen ja gar nicht, was für ein unbeschreiblicher Zauber in den hellen nordischen Juninächten liegt! Vor allem, wenn der Glanz der spät untergehenden und der früh erwachenden Sonne sich verbündet mit dem glitzernden Spiel der ewig bewegten, an den Felsklippen schaumig aufbrandenden Wellen des Meeres!

Dazu kommt noch etwas, was den sommerlichen Aufenthalt in diesem wassergesegneten Lande für uns besonders heiter und erfrischend macht. Wenn wir aus den Mauern der Großstadt zur Erholung hinausfahren, drängen wir uns in vollgepferchte elektrische Bahnen und in rußgeschwärzte Vorortzüge.

Hier am Meer setzt man sich in die lustigen Dampferchen und Motorboote, von deren Heck die weiße Finnlandflagge mit dem blauen Kreuz so fröhlich flattert. In dem Augenblick, in dem sich die kleinen gemütlichen Wasseromnibusse von der Ufermauer lösen, beginnt mit dem plätschernden Sang der Wellen, mit dem frischen Anhauch des Salzwassers urplötzlich ein neues Leben! Zwischen den Stadtlärm, den man verläßt, und den Inselfrieden, den man aufsucht, fügt sich das befreiende Zwischenspiel des Meers! Die kantigen Häuserreihen und die engen Straßenschluchten weichen zurück, und schließlich sieht man auf weitem Hintergrund nur noch die traumhaft verdämmernden Umrisse der Stadt.

Und wie lustig ist es auf allen diesen Wasserflächen zwischen den grünbebuschten Inseln! Überall Leben und Bewegung, fester Rudertakt junger Sportsleute, unablässiges Puckern der kreuz und quer fahrenden Motorboote, immer wieder als leuchtende Farbtupfen in dem bunten Bilde die gestrafften Segel und die hellen Wände der Sommerhäuser.

Ist es ein Wunder, daß man in Helsingfors im Sommer, wo so viel Schönes draußen lockt, schon zwischen vier und fünf Uhr nachmittags den Alltag beschließt? Hat man dann doch den köstlichen langen Abend vor sich und helle Mittsommernacht mit dem Märchenzauber ihrer Farbenspiele!

Denke ich an Helsingfors zurück, so gleiten die Erinnerungen immer wieder von den winddurchhauchten Straßen und Plätzen, vom saftigen Grün der öffentlichen Parks und Anlagen hinaus auf das Wasser. Mit den vielgegliederten Hafenplätzen lugt es überall in die Straßen hinein, genau wie etwa in dem bayrischen Städtchen Mittenwald die schneebedeckten Berge.

Unvergeßlich schöne Stunden kann man verleben in der Villenvorstadt Brändö mit ihrem blendend weißen Kasino am Meere, einer sommerlichen Gaststätte, die sich schloßartig am Rande des felsigen Ufers erhebt.

Oder fährt man nach Högholm hinüber mit seinem kleinen Zoologischen Garten, nach Fölisön, einem schattigen Inselpark, auf welchem die Finnländer ein Freilichtmuseum eingerichtet haben, oder man besucht rasch gewonnene Freunde, Deutsche und Finnländer, auf einer der anderen Inseln, auf Wadö oder Degerö (Oe-Insel; vergleiche das niederdeutsche Oie).

Auf Degerö wohnt im Sommer seit langen Jahren unser deutscher Konsul, ein Mann, dessen Namen wir nie vergessen sollten! Er heißt Goldbeck-Löwe, lebt schon lange in Finnland und hat bei Ausbruch des Weltkrieges Hunderten von deutschen Flüchtlingen, unter Einsatz seiner eignen Person, unbeirrt von den Drohungen der russischen Gewalt, den Weg in die deutsche Heimat zurück ermöglicht!

Wie behaglich ist es auf diesem schönen Landsitz! Man glaubt irgendwo in der Heimat zu sein. Man plaudert, man singt deutsche und finnische Lieder, man blickt von einem hochgelegenen Pavillon am Felsufer hinaus in die sommerliche Landschaft. Fährt man dann im Helldunkel der Mitternachtsstunde nach Helsingfors zurück, angesichts der in den mattblauen Himmel hineinblinkenden Lichter von Stadt und Hafen, so glaubt man sich in ein Märchenland versetzt. Im Rauschen der nächtlichen Meeresfluten klingt er wieder, der Sang von den tiefen Strömen und den brausenden Baumwipfeln des Landes Suomi.

*

Am hellen Tage aber wanderte ich mit Johannes, meinem unermüdlichen Führer, durch die Straßen von Helsingfors, besah mir Kirchen und Museen und stand mit ihm auf dem Senatsplatz.

»Was Sie da vor sich sehen,« so erklärte er, »das ist die Nikolaikirche, ein Landsmann von Ihnen, der Architekt Engel, hat sie erbaut. Das Standbild mitten auf dem Platz ist Alexander der Zweite, der sogenannte Zar-Befreier, der auch uns Finnländern freundlich gesinnt war. Das feierliche Gebäude links drüben ist die Universität, dahinter erblicken Sie die Bibliothek und rechts das Staatsratsgebäude.«

Von hier aus gingen wir zusammen durch die stark belebte Alexanderstraße und kamen schließlich auf den großen Bahnhofsplatz.

Da ließ ich mich belehren, daß der trutzige Granitbau des Helsingforser Bahnhofs mit dem als Wahrzeichen emporgereckten Turm von dem Baukünstler errichtet sei, auf den ganz Finnland als seinen genialsten jetzt lebenden Architekten stolz ist, Eliel Saarinen.

Er hat mit klugem Blick erkannt, daß jedes Land seine Bauwerke aus dem Stein herstellen müsse, der in seinem Boden gewachsen ist. Wie die alten Griechen ihre Tempel aus Marmor erbauten, so müßten die Finnländer den Granit benutzen, der wie ein ungeheurer Schild einen großen Teil ihres Landes bedeckt.

»Sie werden es noch oft bemerken,« meinte Johannes, »wenn Sie in unserem Lande herumkommen, daß sich unsere jungen Baukünstler und Bildhauer das hinters Ohr geschrieben haben. Selbst bis in die kleinsten Städtchen hinein finden Sie die aus Granit gemeißelten Heldendenkmäler zur Erinnerung an unsere Befreiung. Mit diesem harten Stein läßt sich kein Unfug treiben, auch an dem Denkmal, das wir Finnländer hier in Helsingfors unseren deutschen Waffenbrüdern errichtet haben, konnten Sie ja sehen, wie sinngemäß und stark solch ein Denkmal unter unseren Eschen und Birken steht, als ob es aus dem Boden gewachsen wäre.«

In eigenem Schauen und in freundlicher Belehrung gingen so die Stunden und Tage wie im Fluge dahin.

Als ich an einem strahlend schönen Junimorgen auf dem Helsingforser Bahnhof von Johannes Abschied nahm, war es mir, als sei ich tags zuvor angekommen. Herzlich schüttelten wir uns die Hände mit der fröhlichen Hoffnung, uns nach nicht ganz vier Wochen hoch oben im Norden wieder zu begrüßen.

Johannes blieb noch in Helsingfors, wo ihn seine berufliche Tätigkeit festhielt. Ich aber, der Feriengast, dampfte voller Erwartung in den Sommermorgen hinaus, um nun zunächst auf eigene Faust Finnland kennen zu lernen.


 << zurück weiter >>