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Im Reiche der Stromschnellen. – Der stürmende Imatra. – Ein behagliches Dampfbootchen. – Der böse Traum. – Eine nordische Trutzburg. – Das freundliche Städtchen Nyslott. – Was ist Punkaharju?
Nach unserer Heimkehr von den Inselmönchen war Johannes noch einen Tag in der Gesellschaft meiner finnischen Gastfreunde geblieben. Dann fuhr er wieder nach der Hauptstadt zurück, und ich gab ihm das Geleit bis Wiborg. Von hier aus sollte nun meine eigene Wanderschaft durch Finnland beginnen, quer vom Südosten nach dem Nordwesten, vom Finnischen bis zum Bottnischen Meerbusen, wo ich mit den anderen Lapplandfahrern zusammentreffen würde.
Nun erst überfiel mich ein geradezu unbändiges Gefühl der Wanderfreude und Unternehmungslust. Ganz allein sollte und wollte ich mich jetzt zu Wasser und zu Lande durchschlagen, losgelöst von jedem Begleiter. Es ist ja sehr bequem, einen guten Freund zur Seite zu haben, der einem alles Notwendige abnimmt; aber daß man Land und Leute besser kennen lernt, wenn man auf sich selbst gestellt ist, daran ist auch nicht zu zweifeln.
Und so fuhr ich denn los von Wiborg aus nordwärts mit der Eisenbahn, entgegen der großen Sehenswürdigkeit des Landes, dem Imatra! Links und rechts von der Bahn sanfte wellige Linien, lachende Wiesen, auf denen das eben gemähte Gras in Bündeln trocknet, waldige, besiedelte Höhen, dunkle Seen, freundliche rot angestrichene Häuschen und wieder und immer wieder die riesigen Holzstapel, diese Zeichen des größten Reichtums, den Finnland besitzt.
Und dann allmählich wird das Auge gefesselt von dem Blick auf einen der gewaltigsten Ströme Finnlands. Das ist der Wuoksen.
Im Saimasee, dem wir entgegenfahren, ist er, zusammengeströmt aus unzähligen Rinnsalen, vereinigt worden zu einer gewaltigen Wasserfläche, an deren Südostecke er wieder austritt. Alsdann zwängt er sich in allerlei Stromschnellen über Landrücken hinweg, die sich ihm entgegenstellen, sammelt sich noch einmal zum ruhigen Strom, bis wieder links und rechts die Felswände des granitnen Urgesteins ihn bedrängen.
Schließlich ist nur noch eine Rinne von neunzehn Metern Breite, und nun soll die ungeheuere Wassermasse sich hindurchfinden durch diese natürliche Schlucht! Sie vollbringt es mit einem ungeheuren Aufwand an Kraft, und was sich da begibt, dieses gewaltige Naturschauspiel entfesselter Urkräfte, das ist der sogenannte Imatrafall.
Wer aber an einen Wasserfall denkt, der wird etwas enttäuscht sein!
Es ist kein »Fall«, wie ihn unsere Phantasie sich etwa vorstellt, sondern die ungeheuerlichste Stromschnelle, die man sich denken kann.
Von einem Wasserfall erwartet man Absturz aus der Höhe: hier aber beträgt das Gefälle kaum neunzehn Meter auf etwa einen Kilometer. Was aber den Beschauer in staunende Bewunderung versetzt, das ist der unvergleichliche Anprall der Wogen. Beinahe fünfhunderttausend Liter Wasser stürzen sich in der Sekunde durch die Felsenschlucht, und die Gewalt, die in diesen Wassern gebändigt ist, hat man auf rund einhundertachtzehntausend Pferdekräfte berechnet.
Wer dieses Naturschauspiel genießen will, muß allerdings bald nach Finnland kommen, denn viel wird ihm von seinem Zauber geraubt werden, wenn die finnische Regierung diese Wasserkräfte erst dazu ausgenutzt hat, den finnischen Eisenbahnen die elektrische Kraft zu geben. Dann wird die Industrie wieder einmal über die Natur gesiegt haben, und das Landschaftsbild, das heute, gesehen vom Balkon des großen Staatshotels, noch so urwüchsig ist, wird ganz anders geworden sein!
Wie glücklich war ich, den Imatra noch zu sehen, ungebändigt durch Menschenhand! Stundenlang kann man hineinblicken in den schäumenden Gischt der wirbelnden Wasser, kann hineinhören in das endlose Brausen des Flusses, aus dessen Brandung es manchmal stählern herausklingt wie Waffengeklirr.
Vielerlei erzählen die Einheimischen von den Stimmen des Wassers, wenn der Wind darüber hinstreicht, der Regen klatscht oder der Sturm heult. Bald glauben sie Jauchzen zu hören, bald wieder Wimmern, bald Locken und Singen und bald wieder wilde Schreie.
Wer auf der Brücke steht und den heranstürmenden Wogen entgegenblickt, die, übersprüht von weißen Kämmen, sich jagen und überschlagen, der kann es verstehen, daß eine magnetische Kraft vom Imatra ausgeht.
Was bekommt man da nicht alles zu hören von den Opfern, welche diese Wasser schon verschlungen haben! Von dem alten Fischer mit seiner Frau, die so fröhlich abgefahren waren, und deren Boot dann, in den Strudel geraten, am Felsen zerschellte ... Von den beiden Bauerntöchtern, die, gekränkt von übler Nachrede, sich in die rasenden Wogen stürzten und in Sekundenschnelle ihr Leben verloren ... Von dem jungen Mädchen, licht und schlank, festlich gekleidet wie eine Braut, die zu nahe ans Ufer trat und urplötzlich in dem weißen Strudel verschwand. Wie eine Heilige schwebte sie noch dahin, ihr grüner Schleier wehte zwei- oder dreimal, und dann war sie versunken ...
Alles Menschliche, das dem Strome zu nahe kommt, ist unrettbar verloren. Nur die schweren Baumstämme, die man weit oben in den Saimasee hineinwirft, sind stärker als der Mensch. Sie tanzen, hingerissen von unbeschreiblicher Gewalt, wie durch eine Hölle, und finden sich dann doch unversehrt viele Kilometer weiter unten im Flusse wieder, um dort von den Wächtern aufgesammelt und zu Flößen zusammengebunden zu werden.
*
Was ist der Imatra eigentlich anderes für den, der von hier aus ins Innere Finnlands vordringt, als die gewaltige Ouvertüre zu dem Wasserschauspiel des Binnenlandes!
Nur zehn Minuten fährt man von der Bahnstation des Imatra nach Wuoksenniska. Dort liegt bereits der kleine Dampfer, der einen über die Saimagewässer hinüber bringen soll nach einem der schönsten Punkte Finnlands, nach dem von Gewässern rings umrauschten kleinen Städtchen Nyslott (finnisch: Savolinna).
Hier also zum erstenmal lernt man etwas kennen, was nur die nordische Sommernacht auf finnischem Boden zu schenken vermag: die behaglich-stille Fahrt in einem Zwergdampferchen von einem Nachmittag bis zum nächsten Morgen.
Langsam schlängelt sich das Dampfboot bald durch breitere Gewässer, bald durch engere Fahrstraßen zwischen Felsen und Wald dahin, von Zeit zu Zeit anlegend an kleinen Ufersiegen und Landebrücken, wo sich dann mitten in der Nacht das fröhliche Bild aussteigender und einsteigender Fahrgäste so und so oft wiederholt.
Wer aber müde ist und einen gesunden Schlaf dem Zauber der Sommernacht vorzieht, der begibt sich in sein Kabinchen, das in finnischer Sprache so traulich anheimelnd »Hytti« heißt.
Freilich darf er da nicht das Pech haben, grade ein »Hytti« zu erwischen, das unmittelbar neben der surrenden Schiffsschraube liegt und nun – nach den Gesetzen der Natur – als Resonanzraum unablässig mit Dröhnen und Geräusch erfüllt wird! Dieses Geräusch verfolgte mich in meine Träume, wurde da zum Sturmgeheul eines rasenden Orkans, in dem ich wie eine ruhelose Seele, wie die Verdammten in Dantes Hölle, einem willenlosen Kreisel vergleichbar, umher getrieben wurde.
Schweißgebadet wachte ich auf und freute mich, nicht in der Hölle zu sein, sondern durch die weiße Scheibengardine hinauszublicken auf die im Sonnenschein blitzenden Saimagewässer und auf die freundlichen Birken und dunklen Tannen der Inseln, die da und dort aus dem Wasserspiegel auftauchten.
*
Und so kam ich denn an einem wundervollen Sommermorgen in dem Städtchen Nyslott an, das jedem Finnlandfahrer unvergeßlich ist durch die hohen Mauern und gewaltige runden Ecktürme des Wahrzeichens der Stadt, der alten Olofsburg.
Natürlich galt ihr mein erster Gang, nachdem ich mich in dem sauberen Gasthof, wieder einmal einer »Seurahuone«, erfrischt hatte.
Im reißenden Wasserwirbel des Kyrönsalmi, eines der Flußarme des vielhundertgliederigen Saimagebiets, steht sie trotzig und breit da, mit den Rundtürmen und den vorgestreckten eckigen Bastionen, die alte Schwedentrutzburg Olavinlinna, die St. Olofsburg.
Axel Eriksson Tott, der Hauptmann des Wiborger Schlosses, hat die Burg Ende des 15. Jahrhunderts zuerst in Holz, dann in Stein als Grenzburg gegen die Russen errichtet. Kein Wunder, daß diese von Osten her gegen die Schweden andrängenden Feinde diesen Schlüssel der Landschaft in ihre Hand bekommen wollten.
Schon als die Burg gebaut wurde, mußte jedes Fahrzeug, das Stein oder Sand herbeischleppte, von Eriks Geharnischten geschützt werden. Und dann tobte mehr als zwei Jahrhunderte das erbitterte Ringen, bis endlich, im Jahre 1742, die Schweden, die bis dahin Finnland beherrscht hatten, sie den Russen überlassen mußten. Diese errichteten dann die vorgebauten Bastionen. Eine von ihnen, die massig-plumpe Bastion Dick, ist so recht ein Abbild einer fauststarken, breitbeinigen Fremdherrschaft.
Heute rauschen, wie von jeher, die eilig flutenden Saimagewässer rund um Mauern und Türme; aber es ist still und friedlich geworden in der Olofsburg. Staunende Kinder einer andern Zeit wandeln durch die riesigen gewölbten Hallen, kriechen umher in finsteren Gängen und auf steilen Treppen, steigen empor zu Fensterluken und Altanen und blicken hinaus aus der feuchten Kühle in die sonnenüberglänzte lachende Landschaft Savolaks ...
Ja, hier war nicht nur ein Schlüssel zur Macht, hier ist und bleibt ein Kern- und Mittelpunkt des endlosen, immer wieder in Staunen versetzenden Wasserreichs der tausend Seen! Wer ihn einmal von Grund aus kennen lernen will, den Zauber dieser mitten ins Festland hineingepflanzten Schärenwelt mit den Tausenden von Felsklippen und waldigen Eilanden, von weitgedehnten Seeflächen, Sunden, Flüssen und Buchten, mit diesem auf tausende von Quadratkilometern in einander geschlungenen Geflecht fischreicher Binnengewässer, durchfurcht von den mühsam keuchenden Holzdampfern, den fröhlichen Touristenschiffen, den flinken Motorbooten, und den mit Anglern besetzten Kähnen – der muß nach Nyslott kommen!
Das ist einmal eine Kleinstadt, über die der frische Wind weht, und von der aus nach allen Richtungen Bahnen und Schiffslinien ins weite Land hineinzweigen!
Stadt und Burg, eine freundlich in Parkanlagen gebettete Kuranstalt mit einer Sommerwirtschaft, in der man bei den Klängen einer Musikkapelle seinen Kaffee trinkt, das alles schließt sich harmonisch zusammen. Als Hauptsehenswürdigkeit winkt aber in der Umgebung des Städtchens der weltberühmte Berg- und Waldrücken Punkaharju.
*
In Finnland gewesen und nicht zwischen den Wassern auf der schmalen Höhenkante von Punkaharju gewandert sein, das wäre eben so merkwürdig, wie etwa Berlin zu besuchen und Potsdam zu vergessen!
Was ist nun dieses Punkaharju, von dem alle Reisebücher zu erzählen wissen, und alle, die dort gewesen sind, des Lobes kein Ende finden?
Es ist ein etwa sieben Kilometer langer in den Tagen der urzeitlichen Eisschmelze aufgeworfener Geröllrücken, ein steinernes Denkmal der Vorzeit, heute herrlich begrünt mit Tannen und Birken. Wie die Stromschnellen und die Schären, wie die Seen und die Moore ist es ein landschaftliches Kennzeichen der Finnlandnatur.
Umschmeichelt von einer mit Wald- und Wasserhauch gemischten, unsagbar reinen Luft, wandelt man leicht beschwingt dahin, während unmittelbar links und rechts zu Seiten der schmalen durch den Waldstreifen gebahnten Fahrstraße die Saimawellen plätschern.
Das überraschte Auge aber blickt staunend hinaus auf die blinkenden von kleinen Felsinseln unterbrochenen Wasserflächen, oder weiter drüben auf saftiges Wiesengrün, in das sich ein Dörflein eingebettet hat.
Nach einiger Zeit gesellt sich, in gleicher Richtung laufend, zu dem gewaltigen Naturdamm der von Menschenhand aufgeworfene Bahnkörper. Er zieht sich teilweise mit erstaunlicher Kühnheit wie eine schmale Erdbrücke durch die Gewässer, und wenn im Hochsommer in ganz Finnland, wie ich es erlebt habe, gewaltige Hochwasser fluten, dann ist dieser Anblick doppelt merkwürdig. Fast scheinen die gierigen Wellen zu den eisernen Schienen emporzulecken, aber der granitne Steingrund hält fest und spottet der gebändigten Wassergeister.
Eine Wanderung auf Punkaharju, wenn die zauberhaften Spiele des nordischen Sommerabends am Westhimmel erglühen und im Wellenspiegel der schweigenden Gewässer als Farbenecho leuchten, – sie allein schon lohnt eine Reise nach Finnland.