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Eine leere Hütte und fröhliche Gäste. – Ich schreibe wieder einmal Tagebuch. – Die Lappen sind keine Zigeuner. – Das allmächtige Renntier. – Sind sie Christen, sind sie Heiden? – Etwas von Göttern und Unholden. – Die neue Zeit in der Lappenhütte: Nähmaschine, Bücher, Zeitschriften. – Das Vaterunser in lappischer Sprache.
Uusi autiotupa, zwischen Thule und Utsjoki.
Um es gleich zu sagen: mit »Auto« hat »autiotupa« auch nicht das mindeste zu tun!
Autiotupa ist ein finnisches Wort und heißt soviel wie »Leerhütte«, unbewirtschaftete Hütte. Es ist im Ödland der Lapplandtundra, auf einer Berghöhe von etwa vierhundert Metern, eines jener Blockhäuser mit Herd und Pritschen, Tisch und Stuhl, die dem Wanderer von und nach dem nördlichen Eismeer in Sommerhitze und Winterfrost den nötigen Unterschlupf bieten. Sie erinnern an ähnliche Hütten unseres Deutsch-Österreichischen Alpenvereins, die man da und dort in den Hochalpen findet. Dem echten Bergsteiger sagen sie viel mehr zu, als jene Hütten, die sich zu großen Gasthäusern, ja beinahe schon zu Hotels »mit allem Komfort« ausgewachsen haben!
Am frühen Morgen sitze ich auf dem Grasboden vor der Hütte, zwischen Zwergbirken und Renntierflechten, umschwirrt von den unvermeidlichen Mücken, die nur der frische Morgenwind von allzu frechen Angriffen auf meine genügend zerstochene Leiblichkeit abhält.
Meine Blicke schweifen rundum in die endlose Welt der Hügelwellen bis hinüber zum Nordwesten. Dort, bereits auf norwegischem Boden, zaubern die zackigen Umrisse des dem Lappen heiligen Berges Rastegaissa und seiner Schneeflanken dem hitzebedrängten Gemüt eine Fata morgana erquicklicher Kühle vors Auge.
In dieser ruhigen Stimmung, in diesem seelischen Gleichgewicht, nach einer auf harter Unterlage prachtvoll durchschlafenen Nacht, überdenke ich in Ruhe die bunte Reihe der Erlebnisse, die meinen Wandergenossen und mir diese nördliche Sommerfahrt bereits nach Verlauf einer einzigen Woche beschert hat.
Vor allem drängt sich mir die Tatsache auf, daß wir uns in diesem nördlichsten Teile Finnlands, ebenso, wie es in den gleichen Breitengraden Schwedens und Norwegens der Fall wäre, noch auf europäischem Boden befinden und doch inmitten eines Volkes, welches uns frühe Urzustände der Hirten- und Jägervölker vorzuzaubern scheint ...
*
In der Tat, die nur noch vielleicht zwanzigtausend Seelen zählenden Reste lappischer Bevölkerung sind ein letztes Überbleibsel uralter Nomadenzeit. Es wäre gewiß schade, wenn auch dieser Rest der Völkerromantik dadurch aus der Welt geschafft würde, daß man die Lappen insgesamt seßhaft machte, und sie aus wandernden Hirten und Jägern in Fischer und Handwerker verwandelte. Sie würden sich dann kaum mehr unterscheiden von der übrigen einheimischen Bevölkerung jener Landgebiete am nördlichen Eismeer. Wahrscheinlich würde dann auch ihre eigene Sprache allmählich untergehen.
Wer die Lappen etwa nur kennen gelernt hat, wenn er auf einer der sommerlichen Vergnügungsfahrten zum Nordkap bei kurzen Hafenaufenthalten ein Lappenlager besuchte, nimmt eine vollkommen unrichtige Vorstellung mit sich nach Hause. Denn diese durch den Fremdenverkehr verdorbenen Lappen sind eigentlich nichts anderes als zigeunerhaft zurechtgemachte Schauobjekte eines Freiluftmuseums. Die Lappen dieser Art bestrafen die Neugier des Fremden damit, daß sie ihn als recht geriebene Geschäftsleute beim Verkauf irgendeiner minderwertigen Habseligkeit, von der sie sich nur schwer zu trennen scheinen, ganz gehörig über das Ohr hauen.
Nein, die Dinge liegen doch ganz anders!
Der Lappe ist kein Zigeuner, er ist, soweit er überhaupt noch Wanderlappe geblieben ist, nur deshalb unseßhaft, weil ihn sein Ein und Alles, das er beherrscht und dem er dient, das Renntier, dazu zwingt. Lappe im alten Sinn ist eigentlich nur noch dieser Berg- oder Wanderlappe, dessen Leben zwischen Winter- und Sommerweide sich hin- und herbewegt, und dem für geraume Zeit des Jahres das primitive Wanderzelt ein bescheidenes Obdach bietet.
Anders die in Finnland angesiedelten Lappen, in deren Leben wir einen Einblick gewinnen konnten.
Auch sie leben noch vom Renntier und für das Renntier, aber sie sind, wie schon erzählt, auch Fischer und Handwerker, ja noch mehr: meistens können sie schreiben und lesen, ihre Kinder erhalten in einer Art Wanderschule Unterricht, sie sprechen außer ihrer lappischen auch die finnische Sprache, wenigstens bruchstückweise, sie kommen von weit her zur Kirche, und daß sie wenigstens äußerlich Christen geworden sind, erkennt man an dem Holzkreuz auf ihren Gräbern.
Auf den Lappenhöfen, die wir besucht haben, stehen die altüberlieferten sogenannten »Gammen«, die Zelte mit ihrer Rauchöffnung, auch noch da, aber der Lappe wohnt nicht mehr darin. Die herkömmlichen Einrichtungen, das offene Herdfeuer oder die Feuerstelle im Freien zwischen Steinen, die tragbare Wiege, die sogenannte »Kumse«, die besondere Lappentracht, Tuch- oder Lederröcke im Sommer, Renntierfelle im Winter mit dem Pelz nach außen, – dies alles ist noch vorhanden.
Wenn man z. B. nach langer Bootfahrt oder Wanderung auf solch einen Lappenhof stößt, eine fast immer am Wasser gelegene Siedelung, dann merkt man wohl an Tracht und Aussehen der Insassen, daß man bei Lappen und nicht bei finnischen Bauern ist. Aber die Kluft, durch die sich der Mensch der Zivilisation von ihnen getrennt fühlt, vermindert sich etwas.
Freilich die Ansichten über Sauberkeit und Körperpflege sind noch recht kümmerlich, und keiner von uns wird wohl je den eigentümlichen Geruch vergessen, der immer im Familienwohnraum herrschte, jene verbrauchte Luft, die wir kurzweg mit dem Worte »Lappenmief« in unseren Sprachschatz aufnahmen.
Aber andererseits waren alle Lappen, die wir getroffen haben, freundlich und gutartig. Ihre vielbeschriene Neugier trat uns nirgends entgegen, sie hielten sich immer zurück, sie waren hilfsbereit und gefällig, sie beobachteten uns zwar mit Interesse, aber sie drückten sich auch stets irgendwo in einem Winkel zusammen, um uns ihren Wohnraum als Schlafstube zu überlassen.
Immer wieder habe ich es bedauert, ihre eigenartige, der finnischen Sprache verwandte mongolische Mundart nicht zu verstehen. Will man ein Volk wirklich kennen lernen, so muß man sich mit ihm unterhalten können. Man bleibt sonst ein Opfer fremder Erzählungen, und man dringt nicht ein in das Wesen dessen, der einem selber mit fragenden, wißbegierigen Augen gegenübersteht.
Wie gerne hätte ich festgestellt, wie stark auch heute noch sich bei ihnen der heidnische Glaube und Aberglaube mit der christlichen Angewöhnung vermischt. Wie gerne hätte ich gewußt, ob auch heute noch Sar-Akka, die Göttin der Familie, oder Uks-Akka, die Türgöttin, die das »Licht ausgeblasen hat«, wenn dieses vom Luftstrom erlischt, eine geheimnisvolle Rolle spielt. Möglich, daß dem so ist, denn mancherlei Bräuche, z. B. beim Tod eines Familienmitgliedes, deuten auf die Erhaltung uralten Herkommens. Dr. Kohl, der deutsche Arzt, von dem ich sprach, weiß zu berichten, daß hinter dem Bekenntnis zum Christentum auch heute noch der alte Lappengott Ibmil lauert und ebenso die Noedi, die Zaubermänner und Vermittler zwischen Geistern und Menschen.
Unterirdische Geister, so meinen sie, stellen Schlimmes an, wenn die Menschen sie nicht zufrieden lassen; sie kommen des Nachts, um Tod und Krankheit zu ihnen zu senden, und wenn man sie freundlich stimmen will, setzt man Renntierfleisch unter die Birkenstämme.
Und dann geht noch eine Sage um von dem Unhold Stallo, der die Menschen im Rücken angreift, und von dem Riesen Gjertanas, der dreiköpfig ist und unter der Erde lebt. Einer der Lappen, von denen sich der deutsche Arzt erzählen ließ, wollte diesen Riesen gesehen haben, als er in der Erde verschwand, und er fragte, ob der Fremdling denn nicht auch den großen Wal erblickt habe, den der Riese mit seinem Lasso aus dem Warangerfjord gezogen habe.
(Diese letztere Frage hat insofern einen wirklichen Hintergrund, als sich am Ufer des Warangerfjords, wie wir selbst feststellen konnten, Skeletteile von Walen vorfinden. Sie rühren wahrscheinlich von gestrandeten Tieren her, aber die ewig rege Volksphantasie konnte und wollte sich nicht mit dieser einfachsten Erklärung zufriedengeben, sondern führt diese Überreste auf den gewaltigen Erdriesen zurück.)
Aber trotzalledem hat auch die neue Zeit, vor allem natürlich bei den seßhaften Flußlappen, Einzug gehalten. Die Nähmaschine ist da und dort ein Hausgerät geworden, Katechismus und Bibel stehen irgendwo auf einem Wandbrett. Ja, bei dem braven Vater Turiniemi, der uns mit seinem würdevollen Söhnchen im Lappenrock feierlich bis an die Grenze seines Besitztums geleitete, fand ich sogar in einer Ecke ein Drama des großen Schweden Strindberg in finnischer Sprache. Dies Buch war allerdings Besitztum seiner Tochter, die Lehrerin an der Wanderschule ist. Bei einem andern Lappen, kurz vor der norwegischen Grenze, entdeckte ich auch eine religiöse Halbmonatsschrift in lappischer Sprache, sie hieß »Der Stern des Ostens«.
Um wenigstens einen flüchtigen Begriff von der lappischen Sprache zu geben, setze ich einige Proben aus dem Vaterunser hierher, wie ich sie Luthers Katechismus entnehme. Freilich muß ich die Häkchen weglassen, mit denen man im Lappischen die besondere Aussprache gewisser C- und S-Laute bezeichnet. Der Anfang heißt:
»Acce min, don, gutte laek almin. Basotuvvus du namma. Bottus du valddegodde.«
Und der Schlußsatz lautet:
»Dastgo du lae valddegodde ja fabmo ja gudne agalazat. Amen.«
*
Spricht man vom Lappen, so denkt man unweigerlich immer wieder auch an das Renntier.
Da ich kein Baron Münchhausen bin, der seinen Hörern gerne einen Bären aufbindet, sondern nur ehrlich berichte, was wir gesehen und gehört haben, so muß ich gestehen: wir haben um jene Zeit nur wenige Renntiere nahe vor die Augen und – vor die photographische Platte bekommen. Denn in jenen Juliwochen waren sie herdenweise zusammengetrieben auf den sommerlichen Mooswiesen der sogenannten »Tunturits«, jener für Finnisch-Lappland so bezeichnenden baumkahlen Hügelkuppen.
Das Ren ist des Lappen kostbarster Besitz, aber es gibt ihrer nur wenige, namentlich in Schweden und Norwegen, die so große Herden ihr eigen nennen, um als wohlhabend gelten zu dürfen (1000 bis 1500 Stück). Unsere lappischen Gastgeber waren durchweg kleine Leute; sie besaßen vielleicht 50 bis 70 Tiere. Auch unter sich sind die Tiere natürlich verschieden: ein Schlachttier wird vielleicht mit 30 bis 40, ein gut geschultes Zugtier dagegen mit etwa 100 Mark (nach deutschem Geld) bewertet.
Der gegenwärtige Zustand, heute schon nicht mehr vergleichbar dem Leben der Vorväter, wird wohl auf die Dauer auch nicht so bleiben, wie er ist. Die Regierungen der drei Länder, die hier in Betracht kommen, Norwegen, Schweden und Finnland, finden es als moderne Staaten reichlich unbequem, daß auf ihren Gebieten zweimal im Jahre Wanderzüge stattfinden, wie man sie eigentlich nur aus sagenhaften Zeiten kennt. Oft kommt es vor, daß Renntiere auf fremdes Hoheitsgebiet ausbrechen, auch Diebstähle von Tieren sind keine Seltenheit, und hinterher machen dann die Verhandlungen über Schadenersatz oder Einfangprämie allerlei Unbequemlichkeiten.
Der Lappe ist eben im 20. Jahrhundert, mit seiner behördlichen Aufsicht, mit seinen Paragraphen und Gesetzesvorschriften, wie ein Wesen aus anderer Welt, das sich nicht wehr einfügt in unsere Zustände, die von Ordnung und Regel beherrscht werden.
Einst wird der Tag kommen, an dem sich der Lappe, ebenso wie von seinem Renntier, von alten Lebensgewohnheiten wird trennen müssen: er wird aufgehen in den großen Volkskörper seines Wohngebietes. Er wird werden wie alle anderen um ihn herum. Aber dann wird es auch aus sein mit seiner Eigenart, seiner freien Selbständigkeit! Was noch bis in unser Jahrhundert hinein Wirklichkeit war, wird unseren Urenkeln vorkommen, wie eine merkwürdige Sage aus uralten Zeiten ...