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Zwölftes Kapitel.
Mit dem Eismeer-Dampfer rund um die Lappmark.

Heimkehr auf dem ungeradesten Wege. – Der ewige Dorschgeruch. – Ein schmuckes Hospitalschiff. – Das Nordkap steigt vor uns auf. – In Tromsö gibt es ein Kino. – Schaukelnder Empfang in Narvik. – Mit der elektrischen Vollbahn hinauf ins Gebirge. – Letztes Zusammentreffen mit Berglappen. – Renntierhirten fahren Eisenbahn und Auto – Haparanda, gibt es das? – Willem und Fritze tauchen wieder auf. – Wir nehmen Abschied von Finnland. – »Leben Sie wohl! – Auf Wiedersehen!«


Wenn bei uns in Deutschland einer von Berlin nach München fährt, dann kann er, um sich eine Abwechslung zu schaffen, etwa über Leipzig und Hof sich nach der bayerischen Hauptstadt begeben und über Nürnberg und Jena zurückkehren. Die Entfernung bleibt ungefähr dieselbe.

An diesem Beispiel gemessen, war unser Heimweg geradezu abenteuerlich!

Nur zwei unserer Wandergenossen schlugen sich etwas weiter östlich in das den Finnländern neugewonnene Petsamo-Gebiet, hatten dort zwar auch allerlei Überraschungen zu erleben, mußten sogar einmal vierundzwanzig Stunden hungern, weil sie sich bei der Wanderung verirrt hatten, kamen aber dann doch schließlich, nachdem sie wieder die einzige Automobilfahrstraße erreicht hatten, glücklich auf dem alten Wege über Rovaniemi nach Helsingfors zurück.

Wir vier anderen hatten keine Lust noch einmal die Kriegsbemalung mit Pechöl vorzunehmen, noch einmal die Maskerade des Mückennetzes über uns ergehen zu lassen.

Darum stiegen wir in Kirkenes, dem Endpunkt der großen, die endlose Norwegenküste befahrende Dampferlinie aufs Schiff, – nicht etwa um schon endgültigen Abschied zu nehmen von den Gefilden der Lappen, sondern um sie zu guter Letzt noch einmal vollkommen zu umkreisen. Auf tausend und mehr Kilometer kam es uns dabei wirklich nicht an!

Da uns nämlich unsere Linie zunächst östlich vom Nordkap, dann an diesem vorbei, das norwegische Nordland entlang, bis zu der Inselgruppe der Lofoten und dann bis zu dem norwegischen Erzausfuhrhafen Narvik führte, von da ab wieder auf der Lapplandbahn, oben herüber, quer durch Norwegen und Schweden, bis an die Küste des Bottnischen Meerbusens, von wo aus ich dann noch über Haparanda zurück nach Finnland ging, – so schlugen wir also einen ganz gewaltigen Bogen, um das hochnördliche Dreiländergebiet, auf dessen Winter- und Sommerweiden sich das Renntier sein Moos sucht, und der Wanderlappe sein Leben fristet.

Wenn ich heute an diesen Rückweg im großen, ja im allergrößten Bogen denke, so sage ich mir, daß das eine richtige Feinschmeckerei war!

Wochenlang waren wir durch Moor und Steppe gekommen, wochenlang harten wir die Fluß- und Waldstimmung von Nord-Finnland ausgekostet, und nun ging es plötzlich aus der großartigen Eintönigkeit der moosbedeckten Hügel und der langlinigen Berge über in den felsigen Charakter der norwegischen Fjords, dieser tief ins Land eingeschnittenen Meereszipfel, deren Wasserspiegel rings umgeben ist von tausend Meter hohen steilen Felswänden!

Aber noch mehr: die Hitze des festländischen Sommers wird abgelöst von der Frische des Küstenklimas, und alle Eindrücke werden übergipfelt von der gewaltigen Wirkung der Dünungen des Eismeers, der Gletscherzungen und der Schneefelder des Nordlands, die zum Meer herüberwinken.

Hatten wir das Wesen von Finnisch-Lappland erkannt in der gewaltigen, fast niederdrückenden Eintönigkeit der Landschaft, so tat sich uns das Geheimnis Norwegens kund in dem schroffen Nebeneinander des Ewig-Starren und des Ewig-Bewegten, der schneebedeckten Berge und des rauschenden Meeres.

Aber auch hier, wenigstens in jenem Gebiete des Eismeeres, das sich östlich des Nordkap erstreckt, herrscht noch tiefe weltentlegene Einsamkeit, die nur dann und wann unterbrochen wird von Städtchen, wie Vadsö und Vardö und späterhin von einigen kleineren Ansiedelungen.

Vadsö und Vardö sind die Mittelpunkte der Finnmarkenfischerei. Die unerschöpflichen Fanggründe dieser Meeresbreiten locken im Frühjahr oft gegen fünfundzwanzigtausend Fischer hierher, deren Beute viele Millionen beträgt.

Jetzt im Sommer war es still, und nur der ewige, durchdringende Dorschgeruch, die ewige Wiederkehr der hölzernen Trockengestelle verrieten uns, was die Menschen bewogen hat, sich hier um den einundsiebzigsten Breitegrad herum niederzulassen. Uns verwöhnten Mitteleuropäern erscheint ein solches Leben kaum erträglich.

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Lappenzeichnung: Kirchplatz mit Holzhütten

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Lappenzeichnung: Lagerplatz im Herbst

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Lappenzeichnung: See mit Zu- und Abflüssen

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Boris Gleb: Alte Kapelle

Endlos lang dauert der nur vom zuckenden Nordlicht überblitzte, von rasenden Stürmen erfüllte Winter. Und der Lohn dafür sind ein paar kurze, oft auch nicht immer freundliche Sommerwochen. Freilich, in diesem Juli und August der Sonnengnade, die uns für unsere Fahrt beschert war, glänzten auch diese Gestade der Einsamkeit in lächelndem Schimmer. Und der Anblick war doppelt rührend, da in diesem verschwenderischen Sonnenglanz das dürftige Grün-Grau von Moos und Gras, löcherig über den Felsgrund gebreitet, in seiner ganzen bescheidenen Armut zu Tage trat.

Aber gerade darum werde ich den langen hellen Sonntag nicht vergessen, den ich da oben auf der Fahrt zum Nordkap erlebte. Unser wackeres blitzsauberes Schiff »Haakon VII«, fuhr immer angesichts der dreihundert bis sechshundert Meter hohen Küste vorüber an den verschiedenen Njargas (Njarga lappisch = Nase) jenen reichgegliederten Halbinseln, welche durch die Einschnitte des Tana-, Laxe- und Porsanger-Fjords gebildet werden.

*

Wir glitten, sacht gewiegt, durch eine ungeheure Stille. Nur selten einmal sichteten wir ein einsames Fischerboot. Aber ein ewig-blauer Himmel und die sanfte Dünung des Meeres verlieh allem den trügerischen Anhauch des Südens. Nur wenn wir dann auf kurze Zeit an den Fischerorten anlegten, die sich irgendwo als kleine Menschennester zwischen die schützenden Felsklippen eingeklemmt haben, dann eröffnete der kurze Blick in die Nähe und in die Wirklichkeit unerbittlich die Kargheit und den Verzicht eines Daseins in diesen hochnördlichen Gegenden.

Einmal an der Süd-Ostküste der Insel Magerö, deren Nordspitze das Nordkap bildet, in dem Orte Honningsvaag stiegen wir für eine Stunde ans Land. Auch hier steht alles unter der Herrschaft des Fisches. Aber selbst wir hatten uns allmählich an diese unvermeidliche Atmosphäre gewöhnt. Wir schlenderten durch die einzige größere Straße des Ortes mit ihren bescheidenen Kaufbuden und erlebten schließlich eine ganz eigentümliche Überraschung.

In dem kleinen Hafen lag, blütenweiß angestrichen, auf hellem Schornstein weithin leuchtend das rote Kreuz, ein ehemaliges Kriegsfahrzeug verankert. Jetzt dient es als Hospitalschiff für den Ort selbst und die ganze Umgebung. Unter freundlicher Führung einer Krankenschwester durchwanderten wir die Räume, die äußerst zweckmäßig ihrem häuslichen Berufe angepaßt sind. Überall peinliche Sauberkeit, ein Zusammenklang von Helligkeit und Sommerlicht –: so grüßte uns das friedlich gewordene Schiff mit dem stolzen Namen »Wiking«.

Es war dies eine eigentümliche Kriegserinnerung, wie sie mir übrigens später noch einmal in ähnlicher Weise begegnete. Das war in Tromsö, wo heute, auf dem kleinen Schmuckplatz bei der Kirche, auf steinernem Sockel eine entladene Mine ruht. Ihr runder Bauch dient jetzt als öffentliche Almosenkasse für Seemannswohlfahrt. Eine entsprechende Inschrift weist in Versen darauf hin, dieses schwarze Ding, einst »des Seemanns Schreck«, diene jetzt »zu edlerem Zweck«.

Doch zurück zu unserer unvergleichlich schönen Sommertagsfahrt!

*

Ihr Glanz- und Gipfelpunkt war gegen Abend des zweiten Tages die Ankunft vor dem Nordkap. Vorher hatten wir schon Europas eigentliche festländische Nordspitze umschifft, die stolzen Felsburgen des Vorgebirges Nordkyn. Jetzt ankerten wir eine geraume Weile in der Nord-Ostbucht, von der aus man dies berühmte, so oft beschriebene Inselkap zu besteigen pflegt.

Endlich nach langer Fahrt ein Gruß des Lebens: vor uns hatte sich hier schon ein Dampfer der Woermannlinie eingefunden, die »Usambara«. Ihre Sommertouristen kletterten eben alle über die sumpfigen Grashänge zum Gipfel des Kaps hinauf, wie ich es selbst auch einmal, etwa eineinhalb Jahrzehnte früher, mit eifrigem Bemühen getan hatte.

Unsere eigene Schiffsgesellschaft (sie bestand außer uns vier deutschen Lapplandwanderern nur aus Norwegern und Engländern) gab sich indessen einer bequemeren Beschäftigung hin. Mit den über Bord geworfenen Angelschnüren griff man dreist hinein in den wimmelnden Reichtum dieser Fischgründe. Man erntete so in erstaunlicher Kürze den Ruhm, ein erfolgreicher Sportsmann zu sein! Denn die glitzernde Beute, die jämmerlich auf den Schiffsplanken verendete, zählte für jeden bald nach Dutzenden.

Also auch in diesen erhabenen Erdenwinkel trägt der Mensch seine Spielereien! Er nimmt ein Stündchen lang als Zeitvertreib, was den Männern des Berufs monatelang zum Einsatz des Lebens wird.

Mich gelüstete nicht nach dieser Unterhaltung, die am Nordkap zum guten Ton zu gehören scheint.

Ich versenkte mich mit einigen Gleichgesinnten vom obersten Deck des Schiffes aus in den Anblick des ungeheueren Schieferfelsens, der über dreihundert Meter hoch, steil und dunkel aus den weißen Schaumkränzen der Brandung aufsteigt. Vom Osten oder Westen aus gesehen, erscheint er tatsächlich wie ein »scharfer Keil«, oder eine gewaltige, ins Meer vorgestreckte Pranke! Von Norden aber, bei der Weiterfahrt um das Kap herum, in der wachsenden Verbreiterung, wird der Anblick geradezu erschütternd.

Man sieht vor sich eine von tiefen Rissen durchzogene Felswand, das von namenlosen Furchen des Grams durchpflügte Steinantlitz der Greisin Europa.

Die Stimmung erhabener Größe, die uns hier endlich einmal mit einer selten erlebten Kraft anpackte, fand ihr leuchtendes Gegenspiel in den rotgoldenen Feuergluten der Sonne. Langsam in elfter Nachtstunde sinkend, ruhte der nordwärts gleitende lodernde Ball auf fernen westlichen Gewässern. Immer wieder gebar er aus sich heraus mit einer königlichen Verschwendung den glitzernden und funkelnden Gruß des Abschieds! Unter dieser Gloriole schlug unser Schiff den Süd-Westkurs nach Norwegens nördlichstem Städtchen Hammerfest ein. Nach Wochen ging unser Weg zum erstenmal zum Süden!

*

Nach Süden – das bedeutete nicht etwa Rückkehr zur Wärme, – denn diese hatten wir ja gründlich genossen, und noch am Nordkap stellten wir achtzehn Grad Celsius fest, – aber es bedeutete allmähliche Rückkehr zu Städten und Menschen, zu Straßen und Steinhäusern und nicht zuletzt auch zu Bäumen und Blumen.

Freilich noch stärker ist der Zauber dieses Wechsels, wenn man, wie ich selbst einmal vor Jahren, aus der Eis- und Gletscherwelt von Island und Spitzbergen zurückkehrt! Die erste Rast ist dann gewöhnlich das Städtchen Hammerfest, dessen fettiger Tranduft nicht jedermanns Geschmack ist. Aber in welchen Rausch des Entzückens gerät man doch, wenn dann der Dampfer in den schmalen Lyngenfjord einfährt!

Plötzlich sieht man dann zu Füßen einer weißfunkelnden Gletscherpracht das Kirchlein von Lyngseid eingebettet zwischen dem Hellgrau eines Birkenwäldchens. Mit kaum zu löschendem Durst trinkt das Auge diesen ersten Farbengruß des bunten Lebens wieder in sich! Und wie bescheiden sind doch noch diese ersten Bäume unter dem siebzigsten Breitengrad!

Diesmal freilich ließen wir Hammerfest und Lyngenfjord links zur Seite liegen, um erst, – es war am dritten Fahrtag, – für ein paar Stunden in Tromsö anzulegen.

Endlich betraten wir hier, nach langer Abkehr, wieder eine Stadt mit gepflegten Schmuckplätzen und schüchternen Baumreihen, mit Rathaus und Kirchen, mit einem Museum, einem Kaffeehaus europäischen Stils, und richtig auch, – wie könnte es anders sein! – mit einem Kino!

Nach der herrlichen Fahrt, die unmittelbar vorangegangen war, durch eine Schären- und Sundwelt von unerhörter Vielfältigkeit, und schließlich durch die grünen Wiesenufer des Gröndsunds bedeutete Tromsö fröhliche Rast und muntere Erholung.

Bis zu diesem Tage, lange Wochen hindurch, hatte über all unserm Sinnen und Beginnen die wolkenlose Bläue des Sommerhimmels geleuchtet. Nun zum erstenmal wandte sich das Blättchen.

In finsterer Pracht ballten und türmten sich übereinander ungeheure Gewitterwolken. Auf See tanzten die weißen Schaumkronen. An einer Stelle genossen wir sogar das Schauspiel eines in Millionen von weißen Perlen aufschäumenden Wasserwirbels.

Bleich stahl sich das Sonnenlicht zwischen den blauschwarzen Wolkenvorhängen hindurch. Es zauberte blaßgleißende Lichtbänder auf die erdunkelnden Fluten. Dem sonnensatten Auge war dieses Gewittervorspiel Erquickung erwünschtester Art.

Tags darauf in dem freundlichen Städtchen Lödingen verließ unser Professor und ich selbst den gastlichen Dampfer, der uns aus struppigen Landfahrern wieder in Menschen mit weißen Hemden, mit Kragen und Schlips, verwandelt hatte; die zwei anderen Genossen, die noch mit uns waren, fuhren weiter, um noch den Lofot-Inseln einen Besuch abzustatten. Sie haben dann die Tücke des entfesselten Elements noch in ausgiebigem Maße zu kosten bekommen.

Wir zwei letzten Lappenwanderer fuhren mit einem bescheidenen Lokaldampfer über den Ofotenfjord landein nach Narvik. Während dieser Fahrt wiederholte sich uns das Schauspiel der Wolken und Winde in noch gesteigertem Maße.

Hinter uns, hinter den großartigen, abenteuerlich gezackten Umrissen der Lofot-Berge braute die Stimmung eines Weltunterganges. Bald zuckte dort der Blitz durch eine ungeheuere graue Wetterwand, während wir selbst, dem wachsenden Aufruhr der Natur gleichsam seitab entschlüpfend, nur eine kräftige Dusche abbekamen. Immerhin gerieten wir zum erstenmal auf unserer ganzen Fahrt in einen höchst bewegten Schaukelzustand.

Aber schlimm konnte das ja nicht werden! Wohl trieb sich unser kleiner Dampfer windumblasen fast zehn Stunden im Fjord herum. Er kroch in alle Winkel und Buchten, wo nur ein paar Menschen oder Postsäckchen auf ihn warteten, kam dabei auch an dem Orte Balangen vorüber, in welchem der kühne Bärenjäger Dundor-Haikka zu Hause war.

Schließlich aber langten wir mit sinkendem Abend doch im innersten Winkel des Fjords in der Hafenstadt Narvik an. Hier hörten wir als ersten Festlandsgruß den etwas heiseren Pfiff der elektrischen Lokomotive. Sie schleppte eine endlose Reihe großer Kippwagen voll Erz nach dem Umladekai für die Schiffsausfuhr.

Eine Nacht nur rasteten wir in einem Gasthof, dessen Wirt wieder einmal, wie so oft draußen in der Fremde, sich als geborener Deutscher entpuppte. Am folgenden Tage aber ging es weiter auf der unvergleichlich schönen Lapplandbahn, welche den nördlichsten Teil von Norwegen und Schweden überquert, um dann auf schwedischem Boden sich südwärts in langer Fahrt nach Stockholm zu wenden.

Diese Bahn ist für den Erzverkehr der weltberühmten Grubenorte Kiruna und Gellivara gebaut, darf aber gleichzeitig den Anspruch erheben, eine der schönsten Bergbahnen Europas zu sein. Denn sie steigt vom Meeresspiegel in wenigen Stunden noch einmal hinauf in die subalpine Höhenlandschaft jenseits der schwedisch-norwegischen Grenze. Manchmal fährt der Zug durch fest gefügte Holzhallen, deren Zweck es ist, im Winter die Schneelast aufzufangen und vom Bahnkörper fernzuhalten. Aber nicht nur die kühne Technik dieser elektrischen Vollbahn ohne Rauch und Ruß lenkte unsere Aufmerksamkeit auf sich, – noch einmal galt sie auch dem Gegenstande, der uns eigentlich in diese nördlichen Breiten geführt hatte, dem Volke der Lappen. Noch einmal erhielten wir unmittelbare Eindrücke des lappischen Lebens, gute und auch weniger gute.

In Abiskojokk, dem herrliche am Torneträsk, einem See von einundsiebzig Kilometer Länge, einsam gelegenen Berggasthaus des schwedischen Touristenvereins, sahen wir einige jener Lappen, die mit Führerdiensten und Verkauf aller möglichen Gerätschaften ihrem ursprünglichen Dasein schon stark entfremdet sind.

Dann aber wieder stießen wir auf dem Bahnhof von Abisko auf eine prachtvolle Gruppe echter Berglappen. Sie standen da, mit voller Bepackung, die Schirmmütze mit dem roten Pompon auf dem Kopf, mit Rucksäcken aus Renntierleder, die Wurfleine um die Hüften geschlungen. Die Alten waren verwittert und verrunzelt, und nur die überblanken, scharfsichtigen Hirtenaugen blickten jugendlich aus dem braunen Leder des Gesichts. Die Frauen und Mädchen mit den breitknochigen Gesichtern und die jungen Burschen trugen mongolisch-asiatische Züge. Der eine von ihnen sah fast japanisch aus. Eben dieser hatte mich wohl eine geschlagene halbe Stunde mit einer verstohlenen Neugier umkreist. Endlich faßte er Mut und bot mir ein Lappenmesser zum Verkauf an. Aber auch als ich den Kauf ablehnte, behielt er sein freundliches Grinsen bei.

Dann entschwand mir die ganze Gesellschaft, als der Schnellzug heranbrauste, der von Narvik bis nach Stockholm seine guten eintausendfünfhundert Kilometer zurücklegt. In einem Wagen dritter Klasse fuhr die ganze Familie offenbar auf Verwandtenbesuch oder auch in die Nähe ihrer Renntierweide.

Das war denn doch ein ganz eigenartiges Kulturbildchen – die Lappenfamilie in der Eisenbahn! Und der Eindruck war um so merkwürdiger, als ja gerade bei Abisko jene breitgeschwungene Bergsenke zu erblicken ist, die den Namen »Lappenpforte« führt: es ist dies jener uralte breite Paß, auf dem schon seit Jahrhunderten die großen Renntierherden ihre gewohnte Straße von der Winter- zur Sommerweide ziehen.

Andere Zeiten, andere Sitten!

Aber solche Dinge berühren hierzulande schon lange nicht mehr als absonderlich. Wir haben noch manches gesehen in den schwedischen und norwegischen Gebieten, die von Lappen besiedelt sind: wir entdeckten Lappen im Automobil, wir sahen Lappenfrauen an den runden Marmortischen einer Konditorei in Kirkenes, wie sie ganz europäisch, trotz ihrer heimischen Tracht, ihr Kaffeestündchen verschwatzten. Auch unsere lappischen Ruderer in Finnland unterschieden sich in nichts mehr von den Söhnen der höheren Zivilisation, von ihren Gebräuchen und Mißbräuchen. Denn wenn sie mit uns im Abendquartier lagen, so rauchten sie Zigaretten, und unter dem Mückenzelt huldigten sie mit selbstgeschnitzten Würfeln einer Art von Glücksspiel.

Prachtvoll durchschlummerten wir die Nacht im bequemen schwedischen Schlafwagen und kamen mittags endlich an der Grenzstation Haparandaan, um von da zum Ausgang unserer langen Fahrt nach Finnland zurückzukehren. Haparanda, – wem klänge dieser Name nicht vertraut ins Ohr! Ja, in der Tat, dieses kleine Städtchen Haparanda, mit seinem übergroßen Grenzbahnhof, es ist nicht nur eine sagenhafte Erfindung der Wettermacher, nicht nur ein Zauberwinkel, in dem die geschwungenen Striche und Linien der in den Zeitungen veröffentlichten Wetterkarten ausgebrütet werden. Es ist eine greifbare Wirklichkeit!

Als unser Zug, der über den Torneå nach Finnland hinüberführt, sich in Bewegung setzte, blickten wir in stillen Gedanken hinüber nach der hölzernen Schicksalsbrücke, von der während des Weltkrieges so viel zu lesen war. Für viele Tausende von Flüchtlingen, für Kranke und verwundete Heimkehrer, war der Gang über diese Brücke die letzte Marter angesichts der im gastlichen neutralen Schweden winkenden Freiheit.

Heute liegt auf dieser Brücke der Schlaf der Vergessenheit, und die Wellen des Torneåflusses bespülen die Gestade freier und friedlicher Länder.

Nun fuhr ich noch einmal in Tag und Nacht den langen Weg zurück, der mich vor Wochen in diese nördlichen Breiten gebracht hatte. In Uleaborg nahm ich Abschied von meinem kundigen Führer, der dort neue Gäste aus Deutschland erwarten wollte, und dann brachte mich die behagliche Schnellzugsgeschwindigkeit finnischer Eisenbahnen zurück nach Helsingfors.

Wieder flutete hier der Sonnenschein durch die hellen Straßen, wieder wehte mir hier auf diesem Vorposten Finnlands die Salzluft des Baltischen Meeres in die Nase.

Wer sollte unter solchen Umständen am Ende einer erlebnisreichen Reise nicht froh und glücklich sein!

Es war, als ob das Schicksal aus meiner Sommerfahrt ein richtiges Kunstwerk mit gutem, harmonischem Abschluß machen wolle. Als ich über die schöne Esplanade schlenderte, wer rief mich da an? Niemand anders als – meine beiden kleinen Berliner, Willem und Fritze. Auch ihre Urlaubszeit war zu Ende gegangen. Ihre blassen Wangen hatten sich gerötet und sahen so pausbäckig aus, wie die Gesichter gesunder Dorfjungen.

Was hatten sie nicht alles zu erzählen von ihrem Umherstreifen in Feld und Wald, von ihren Bootsfahrten und Angelerlebnissen, von Räuber- und Soldatenspiel! Mit ihren neugewonnenen finnischen Freunden hatten sie als treue Bundesbrüder noch einmal den finnischen Befreiungskampf gespielt.

Selbstverständlich war Willem die Rolle zugefallen, den General von der Goltz darzustellen, während ein kleiner Finnländer sich als General Mannerheim höchst würdig gefühlt haben mochte.

Sogar das Berlinern hatten die beiden Bürschlein etwas verlernt! Die wiederholte Mahnung, gutes Deutsch zu sprechen, um den finnischen Freunden ein Beispiel zu geben, war nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen.

Dafür aber hatten die kleinen Spree-Athener etwas Finnisch eingetauscht. Als wir um die Nachmittagsstunde unsere brave »Rügen« wieder bestiegen, gabs natürlich ein großes Abschiednehmen von all den finnischen Freunden, die ihnen das Geleit gaben. Und Willem, diese Blüte der Intelligenz, war stolz darauf, ohne Stottern sagen zu können:

»Voikaa hyvin; näkemiin!«

Das heißt auf deutsch:

»Leben Sie wohl; auf Wiedersehen!«

»Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen!« – so sagte auch ich zu allen denen, die mir die Hand zum Gruße reichten.

Denn das Eine wußte ich, das erste, aber sicher nicht das letzte Mal, war ich in diesem Lande unserer nordischen Freunde gewesen!

Und wieder wie einst in Reval ertönte vom Bord unseres Schiffes das herrliche Vaterlandslied der Finnländer. Diesmal aber klang es aus den Kehlen der Deutschen, die hier im Lande der Schären, der Wälder und der Wasserfälle ein Stück ihres Herzens zurückgelassen hatten!

 


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