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Ich schreibe in mein Tagebuch. – Wie es in Wiborg aussieht. – Ein idyllisches Schlößchen. – Johannes taucht wieder auf. – Das Meer im Lande: der Ladogasee. – Wir fahren zu den Inselmönchen nach Walamo. – Eine bunte Reisegesellschaft. – Wie man ein Kloster begründet. – Der schweigsame Rübenesser. – Die nächtliche Messe in der Klosterkirche.
Terijoki am Finnischen Meerbusen, im Juli.
Den Schreibblock auf dem Knie sitze ich in einer reizenden Glasveranda. Sie bildet den nach Süden, nach der Meeresküste hin vorgebauten Lugaus eines gemütlichen Sommerhauses. Durch die großen Wandscheiben blicke ich in eine wundersame grüne Wildnis. Über einen weißblauen Blumenteppich nicken Stauden und Büsche im leichten Mittagswind. Darüber wipfeln breitkronige Linden, Ebereschen, Birken und Ulmen. Und über diesem Laubwirrsal stehen steif und stolz, wie Kirchtürme zum Himmel gereckt, alte Tannen, eine Ehrenwache würdiger Baumrecken. Unter ihnen her führt der Weg zum nahen Seestrand.
Fühlbar nahe ist hier das ewige Leben der See. Durch die geöffnete Verandatür braust mir der Meersang ins Ohr, wie eine tieftönige Urmelodie zu dem Vaterlandslied der Finnländer.
Hier im innersten Winkel des Finnischen Meerbusens, aus der Ferne begrüßt von den Türmen Kronstadts, das in etwa vierzig Kilometer Luftlinie drüben an der russischen Küste liegt, ständig begleitet von dem dumpfen Knall seiner zielübenden Festungskanonen, ist mir Berliner Sommer, kontinentale Hitze, ja selbst das fröhlich bunte Treiben in und um Helsingfors fast wie eine verklungene Legende.
Was habe ich nicht inzwischen schon alles gesehen und erlebt?
*
Gleich die Fahrt aus der finnischen Hauptstadt bis hierher in den äußersten Südostwinkel des Landes, nur noch wenige Kilometer entfernt von der russischen Grenze, war ein Erlebnis eigener Art!
Es gibt ein deutsches Lied, das erzählt, wie gemütlich es auf den schwäbischen Eisenbahnen zu fahren sei. Hätte der Verfasser dieses Liedes die finnischen Eisenbahnen gekannt, so würde er sicher auch auf diese seinen fröhlichen Lobgesang angestimmt haben! Denn auch die finnischen Schnellzüge haben nichts an sich von der Hast der mitteleuropäischen D-Züge.
Um die Strecke von Helsingfors bis Wiborg zurückzulegen, etwas über dreihundert Kilometer, fährt man im Schnellzug mehr als sechs Stunden, während der Personenzug gar neun beansprucht. Dafür aber kann man gemächlich links und rechts Ausschau halten auf das Land, auf endlose Waldstrecken, unterbrochen von glitzernden Seespiegeln; manchmal ziehen dreißig und mehr Kilometer vorüber, bis wieder eine menschliche Siedlung auftaucht.
Die Lokomotiven werden meistens mit Holz gespeist, nicht mit Kohle, wie bei uns, und es gibt mancherlei Aufenthalte, wenn auf längeren Strecken dem Dampfroß neue Nahrung zugeführt wird. Die Fahrgäste benutzen die willkommene Gelegenheit, um den lecker bereiteten Frühstücks- oder Mittagstisch in den Bahnhofswirtschaften zu stürmen. Da gibt's allerhand nahrhafte Dinge, als Getränk aber, außer Kaffee und Mineralwasser, nur süße Milch, saure Milch, Buttermilch – eine wahre Hochflut dieser Gabe der finnischen Kühe. Denn in Finnland herrscht ein allgemeines Alkoholverbot.
Es war ein glücklicher Einfall, daß ich auf meiner Fahrt unterwegs in Wiborg (finnisch: Wiipuri) ausstieg. Kein Deutscher, der in diesen Teil Finnlands kommt, sollte versäumen, die schöne alte Stadt zu besuchen.
Es gibt ein Sprichwort: »Die Wiborger gehen vierbeinig durch die Welt.« Es wird darauf angespielt, daß hier bei dem Zusammenstrom von vier Nationen auch vier Sprachen in den Straßen Wiborgs zu hören sind – finnisch und schwedisch, russisch und deutsch.
Ja, es gab eine Zeit im Mittelalter, da waren hier die deutschen Kaufleute aus den Hansestädten die unbestrittenen Herren. Dieser starke Einfluß deutschen Wesens hat sich auch noch bis in die neuere Zeit erhalten. Jetzt, da in Wiborg weder die Schweden noch die Russen etwas zu sagen haben, und mit ganz Finnland auch Wiborg frei und selbständig geworden ist, hat natürlich das finnische Element auch sprachlich einen Siegeszug angetreten, der noch nicht abgeschlossen ist.
Die Stadt selbst, die im Laufe der Jahrhunderte mehrfach von schweren Feuersbrünsten heimgesucht wurde, wirkt fast neuzeitlich. Das gilt schon für den Bahnhof, den wie in Helsingfors, Meister Saarinen gebaut hat. Das gilt auch von der stattlichen Kaufhalle und den hübschen Anlagen der Hauptverkehrsstraße. Aber als Wahrzeichen der alten Zeit grüßt auf dem Marktplatz noch ein großer runder Turm und grüßt vor allem das trutzige Wiborger Schloß, ein gewaltiger Bau, den ein fünfzig Meter hoher Turm überragt.
Vielerlei Schicksale haben sich hier abgespielt. Jetzt ist das Schloß, das zur russischen Zeit ziemlich verfallen war, wieder aufgefrischt worden. In seinen Gängen und Stuben tummeln sich die jugendlichen Gestalten des finnischen Militärs, dem ein Teil des Schlosses als Kaserne dient.
Wie sehr die Natur diese Stadt für Handel und Ausfuhr bestimmt hat, erkennt man deutlich, wenn man von einem nahegelegenen Hügel die Umgebung überblickt. Er trägt den stolzen Namen Papula-Berg, aber wenn er auch mit seiner geringen Erhebung durchaus nicht höher ist als die übrigen »Berge« Finnlands, so hat man doch von seinem Aussichtsturm einen weiten Blick auf Land und Meer. Und man wird sich leicht darüber klar, daß es nicht die Eisenbahn ist, welche in Finnland den Hauptanteil am Frachtverkehr hat, sondern die natürlichen und künstlichen Wasserstraßen, dieses unübersehbare Geflecht von Seeflächen und Flußläufen, das die Beförderung namentlich des kostbarsten Ausfuhrartikels, des Holzes, übernimmt.
Wiborg hat trotz seiner etwa neunzig Fabriken und seiner lebhaften Industrie nur wenig vom Charakter ähnlicher deutscher Städte. Hier ist noch alles friedlich und freundlich, eine elektrische Bahn fährt gemütlich durch die Hauptstraßen, und ein altväterischer, langsam dahinschaukelnder Omnibus führt aus der Stadt hinaus nach dem berühmten Park des Schlosses »Mon Repos«.
Was ist das doch für eine herrliche Anlage!
An einer stillen Meerbucht gelegen, wächst sie hügelig empor und wird durch eine steile Felswand abgeschlossen. Mit ihren prachtvollen Baumkulissen und den saftigen Rasenplätzen erinnert sie an die Parkanlagen englischer Schlösser. Dagegen wecken allerlei im Grün versteckte Tempel, Obelisken, merkwürdige Denkmäler, ja eine Toteninsel mit Kapelle im Burgenstil starke Erinnerung an französischen Geschmack, wie er den früheren russischen Besitzern eigen war.
In einer kleinen Sommerwirtschaft, die, hochgelegen, den Blick über die Baumwipfel auf die Meeresbucht freigibt, erfuhr ich, der Schöpfer des Parks sei ein Baron von Nikolay gewesen, dessen Vater das Gut »Monrepos« einst vom Zaren geschenkt erhalten habe. Jetzt sei die ganze Anlage durch eine letztwillige Verfügung der Öffentlichkeit als Volkspark überlassen worden. Man versicherte mir, auch in anderen finnischen Städten seien ähnliche großartige Schenkungen gemacht worden.
Man hört oft sagen, wer in Rom gewesen sei, müsse unbedingt den Papst gesehen haben. Wer aber in Wiborg gewesen, muß unbedingt die Wiborger Kringel versucht haben, ein brezelartiges Gebäck, auf welches man dortzulande sehr stolz ist, und von dem ich mir für meine Weiterfahrt etwas mit auf den Weg genommen habe. Sie schmecken tatsächlich recht gut und knusperig, und ein Stück einheimischen Käses als Zukost ergab eine schmackhafte Wegzehrung auf der Reise nach meinem jetzigen Aufenthalt.
Und nun sitze ich hier fast wie in einem Dornröschenschloß in stiller Einsamkeit, und rüste mich für die Fahrten der kommenden Wochen ...
*
Soweit war ich in meinen Tagebuchaufzeichnungen gekommen, als ich plötzlich draußen im Garten lebhaft sprechen hörte. Täuschte mich nicht mein Ohr? Der älteste Sohn meiner Gastfreunde befand sich in eifriger Unterhaltung mit einem jungen Herrn, dessen Gang und Haltung mir merkwürdig bekannt vorkamen. Und nun auch die Stimme!
Nein, es war kein Zweifel mehr möglich! Das war Johannes, wie er leibte und lebte.
Ich stürzte hinaus, begrüßte ihn freudig überrascht und erfuhr, daß er einige Tage Urlaub, die er unerwartet bekommen hatte, in rührender Freundschaft dazu benützen wollte, mich hier abzuholen und auf einem Ausflug zu begleiten, der für die nächsten Tage angesetzt war.
»Die Sache ist ganz einfach, guter Freund,« meinte er, »Sie wollen zu den Inselmönchen nach Kloster Walamo, aber Sie haben gar nicht bedacht, daß Sie nur das halbe Vergnügen haben werden, weil Sie weder finnisch noch russisch können. Denn diese Klostersiedlung im Ladogasee ist noch das letzte Restchen russischen Wesens, das wir Finnländer behalten haben und als eine Art Freiluftmuseum noch gelten lassen. Da ich nun außer meiner Muttersprache auch noch russisch verstehe, so ist es die natürlichste Sache von der Welt, daß ich Ihren Begleiter und Führer spiele, Sie können sich dabei an mich gewöhnen und sich ausmalen, wie es später mit uns in Lappland bestellt sein wird.«
Wer war froher als ich! Wenn ich auch die Reize des Alleinwanderns zu schätzen weiß, so geht sich's doch netter mit einem guten Kameraden, namentlich wenn dieser besser Bescheid weiß als man selber.
*
Und so befanden wir uns bereits am nächsten Tage im behaglichen Schnellzug, der uns über Wiborg in nordöstlicher Richtung zum Nordzipfel des gewaltigen Ladogasees führte. Hier liegt die reizende finnische Kleinstadt Sortavala, der Ausgangspunkt für die Dampferfahrt nach dem Inselgebiet von Walamo.
Der Ladogasee war für mich eine ungeheure Überraschung. Wir kennen ihn meist nur aus den kleinen Karten unserer Atlanten, und dann entdecken wir plötzlich, daß dieser See, der eine Fläche von über 18 000 Quadratkilometern einnimmt, geradezu ein Meer mitten im Lande ist. In seiner nördlichen Hälfte erreicht er manchmal eine Tiefe von mehr als 200 Metern. Der Küste sind stellenweise bewaldete Inseln vorgelagert, zwischen deren Grün malerische Felsen aufsteigen.
Gibt es wohl ein finnisches Städtchen, dessen bester Gasthof nicht »Seurahuone« heißt? Seurahuone, ein finnisches Wort, schwedisch Societetshus, bedeutet soviel wie »Gesellschaftshaus«. Meist enthält solch ein Gasthof den einzigen größeren Saal am Orte, in welchem sich die Einheimischen zu ihren Festen und Bällen zusammenfinden. Man ist hier also immer gut aufgehoben.
So war es auch diesmal. Und am nächsten Morgen begaben wir uns frisch und munter zur Dampferlände und bestiegen das grünbordige alte Klosterdämpferchen »Sergej«, das den Verkehr zwischen dem Festland und dem geweihten Inselbezirk vermittelt. Am Heck des Dampfers flattert selbstverständlich die weiß-blaue Flagge Finnlands; aber wie merkwürdig berührt es, dienende Klosterbrüder in ihren schwarzen Kutten mit den hohen schwarzen Filzmützen den Dampfer betreuen zu sehen!
Schon auf den Planken des Schiffes fühlt man sich aus dem protestantischen Finnland mit einem Schlag in eine andere Welt versetzt.
Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man nach etwa zweistündiger Fahrt sich den Inseln nähert. Auf der größten von ihnen erhebt sich, mit funkelnden Goldzwiebeln über blauen und grünen Kuppeln, die große Preobrashensky-Kirche dieses uralten russischen Mönchsklosters.
Kommt man an, so wird man wieder von freundlichen dienenden Brüdern empfangen und nach dem großen unmittelbar neben dem Kloster gelegenen Pilgergasthof geleitet, wo man einfache Unterkunft findet.
Das Zimmer, das ich mit Johannes teilte, war von spartanischer Einfachheit. Vom Tisch aus, an dem ich meine Aufzeichnungen niederschrieb, fiel mein Blick auf eine sichtlich steinharte Pritsche, über der, als einziger Schmuck der weißgekalkten Wände, ein segnender Christus hing.
Wohl an zweihundert Stuben gibt es in dieser Herberge der frommen Väter. Man ist wie verzaubert: von den endlosen Gängen herein tönt der schlürfende Schritt der hochbetagten, langbärtigen Schwarzkutten. Wenn sich aber einmal die Türe öffnet, so schwebt verstohlen der brandige Geruch verkohlter Birkenklötzchen herein. Wenn etwas die russische Luft ausmacht, so ist es dieser anheimelnde Holzbrand, der den von den Mönchen im Hause herumgetragenen Samowaren dient. Auf diesen russischen Teekesseln wird für die bescheidene Gästekantine im Erdgeschoß, aber auch für den Zimmerbedarf der Besucher der unvergleichliche goldgelbe Tee zubereitet.
Eine bunte Gesellschaft war es, die sich hier zusammengefunden hatte! Außer einheimischen Bauern und Bäuerinnen Angehörige der russisch-orthodoxen Kirche, außer finnischen Sommergästen Fremde aller möglichen Nationen. Unsere unmittelbaren Zimmernachbarn waren ein dänischer Oberlehrer und ein aus Prag stammender junger Sportsmann, der neben seiner tschechischen Muttersprache auch sehr gut Deutsch verstand und sich als ein drolliger Kumpan entpuppte. Bepackt mit Rucksack, Photographenapparat und Zeltleinwand wanderte und fuhr er durch Finnland. In seiner praktischen Turneruniform erinnerte er an die amerikanischen »Cowboys«, aber neben Turnen und Photographieren hatte er noch eine andere Leidenschaft. Er war begeisterter Anhänger der Weltsprache »Esperanto« und streifte im Lande umher, um überall esperantistische Gesinnungsgenossen aufzufinden, die ihn natürlich besonders gastlich aufnahmen. Ob sie sich immer mit Esperanto verständigt haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich glaube fast, es ist dann und wann mit Deutsch besser gegangen.
*
Während wir es uns in unserm Zimmer heimisch machten, erzählte mir Johannes allerlei von der merkwürdigen Geschichte dieses Klosters.
Zwei Mönche vom Berge Athos sollen es in ganz früher Zeit gegründet haben, indem sie einige Eremiten um sich versammelten. Erst im Laufe der Jahrhunderte entstand daraus ein großes Kloster, dessen Insassen es sich zur Pflicht machten, die umwohnenden Bewohner des östlichen Finnlands, die sogenannten Karelen, zum Christentum zu bekehren. Allmählich gewann das Kloster an Macht und Reichtum, denn die bald herbeiströmenden Pilger aus Rußland und Finnland brachten Gaben mit, und dazu fanden sich auch wohlhabende Gönner, die allerlei stifteten, sogar Kirchen und Kapellen auf den nahegelegenen kleineren Inseln. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts aber hatte das Kloster einen besonders tatkräftigen Prior (in russischer Sprache »Igumen« genannt). Er hieß Damaskin. Er verstand es, Walamo nicht nur zu einem Wallfahrtsort größten Stiles auszubauen, sondern darin auch allerlei handwerkliche und landwirtschaftliche Betriebe zu entwickeln, welche musterhaft verwaltet wurden.
»Sehen Sie einmal hier durch unser Fenster«, meinte Johannes, »all diese großen Obst- und Gemüsegärten, die Kartoffel- und Getreidefelder, das weit ausgedehnte Weideland und dahinter, die Klosterwaldungen! Wenn wir nachher umhergehen, werden Sie auch sehen, daß man hier Fischzucht betreibt, daß es eine Gerberei und einen Teerofen gibt, daß man dem Kunsthandwerk obliegt, schnitzt und malt, kurzum daß man neben aller Frömmigkeit auch das tätige Leben nicht vergißt. Es ist ja auch ganz gut, daß die Mönche dies alles verstehen, denn Sie können sich denken, daß jetzt, wo Walamo finnisch geworden ist, keine Wallfahrer mehr aus Rußland kommen.«
»Wissen Sie, woran mich das alles erinnert?« erwiderte ich, »an die klugen und geschickten Brüder auf der Insel Reichenau in unserm Bodensee und drüben in St. Gallen, wie sie uns Scheffel in seinem ›Ekkehard‹ schildert.«
»Da haben Sie ganz recht, und genau wie dort hat es auch hier an sonderlichen und seltsamen Käuzen nicht gefehlt. Wir machen nachher einen Spaziergang nach dem Friedhof des Klosters, – da finden Sie neben der schönen Kapelle, in welcher Damaskin begraben liegt, die kleine dunkle, halb in die Erde gesunkene Hütte des Eremiten Nikolai. Er hatte den Beinamen »der Schweiger«, denn er schwieg sein ganzes Leben lang, gab sich frommen Betrachtungen hin und lebte von Rüben. Als der Zar Alexander I. im Jahre 1819 das Kloster besuchte, stattete er auch diesem Sonderling einen Besuch ab, und es wird berichtet, daß er liebenswürdigerweise sogar seine Rübenmahlzeit gekostet habe. Ob der Selbstherrscher aller Reußen besondern Geschmack daran fand, das hat uns die Überlieferung freilich nicht hinterlassen.«
Nun hätte ich eigentlich in dem langgestreckten Speisesaal der Mönche dasselbe tun können, was der russische Zar beim Schweiger Nikolai tat, – ich hätte, da ich eine Empfehlung an den Prior in der Tasche trug, mit den Mönchen Mittag essen können. Aber, es schien mir nicht passend zu sein, als Fremder mich in den Kreis der frommen Brüder einzudrängen.
Wenn ich aber ganz ehrlich sein soll, so hatte mein Bedenken noch einen andern Grund. Es lockte mich nicht so recht, aus eisernen Suppenschüsseln zu essen und alles, was es da gab (im übrigen nur Pflanzenkost!) mit dem Löffel zu essen. Messer und Gabel fehlten auf dem blankgescheuerten Tisch.
So besorgten wir denn unsere leibliche Stärkung in der großen gedrängt-vollen Kantine des Gasthofs, wo es natürlich auch nur vegetarisches Essen und alkoholfreie Getränke gab.
Den ganzen Nachmittag streiften wir umher, besuchten mit einem kleinen Motorschiff die umliegenden Inseln mit ihren verschiedenen Kapellen und Eremitenhäusern, um endlich abends, zwischen neun und zehn Uhr, den Beginn eines ernsten Schauspiels mitzuerleben, das uns als der Höhepunkt aller Eindrücke geschildert worden war.
*
In der Tat, dieser nächtliche Gottesdienst in der großen Preobrashensky-Kirche ist etwas, das man nicht vergißt. Gesang und Wort, bunte Farben und Formen vereinigen sich zu einer Wirkung, die um so stärker ist, als der Kerzenglanz des von einer Kuppel gekrönten Gotteshauses sich mischt mit den spielenden Sonnenlichtern, die der nordische Sommerabend hereinsendet.
Abwechselnd wurde von den frommen Brüdern aus den Heiligen Schriften vorgelesen, dazwischen ertönte aus dem Hintergrunde eintöniger Gesang. Im ungewissen Halbdämmer, oft zu Gruppen geballt, an Pfeilern und Wänden, standen in schwarzer Unbewegtheit die greisen Brüder. Nur dann und wann, wie der Wind über Halme weht, sanken sie in frommer Verbeugung nieder, und bleiche Hände huschten sich bekreuzend hin und her.
Den Mittelraum der Kirche aber füllte, außer städtischen und ländlichen Gästen, die sich geziemend still verhielten, eine Gruppe der gläubigen Gemeinde, Klostergesinde, russische Flüchtlinge, karelische Bauern und Bäuerinnen. Diese letzteren, in bunten Röcken, mit weißen oder farbigen Kopftüchern, nahmen ihre Pflichten besonders ernst. Bekreuzigungen, Verbeugungen und zuletzt Kniefall und Berührung des Bodens mit der Stirn, bei niedergeworfenem Körper, – all dieses war uns Fremdlingen ein seltsames, eigenartig bezauberndes Schauspiel.
Plötzlich tauchte mir eine Erinnerung auf: mir war fast wie in einem Traum, als hätte ich dies alles schon einmal erlebt! Ein besonders würdiger, vielleicht achtzigjähriger Mönch, mit grauem, wallenden Bart, erinnerte mich an den alten Gralhüter Gurnemanz, wie ich ihn einst in Richard Wagners »Parsifal« bei den Bayreuther Festspielen gesehen hatte.
Und das Nacherleben wurde vollkommen, als zum Schluß bei der Erteilung des Segens die Mönche paarweise den Altar umschritten und sich mit Handdruck den brüderlichen Gruß gaben. Ganz so war es damals auch gewesen, in der ernsten Szene des Graltempels, nur daß hier, auf der Klosterinsel des Ladogasees, alles wirklich und natürlich war, was dort auf der Bühne mit ernstem Eifer nachgebildet wurde.
Als wir uns aus der dämmerigen Kirche durch die stille Sommernacht wieder zu unserem Pilgergasthof zurückbegaben, waren wir recht ernst und nachdenklich geworden.
Wir hatten beide einen Blick in eine uns fremde Welt getan. Und wir fanden es gut, daß wir hier bei den frommen Mönchen im äußersten Südostwinkel Finnlands zuerst gewesen waren. Hier hatten wir noch einmal Ruhe und Sammlung gefunden. Denn was jetzt kommen sollte im hellen Sonnenschein der finnischen Sommertage und der zaubervollen hellen Nächte, das war Bewegung und Freude, Kampf um ein Ziel, kurzum, das bildete so recht einen Gegensatz zu der Klosterstille der Insel Walamo.
Jetzt ging es hinaus in das Land der tausend Seen, hinein in den grünen Dom der finnischen Wälder!