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Georg Duroy fühlte sich unbehaglich beim Erwachen. Er kleidete sich langsam an und setzte sich dann ans Fenster, um nachzudenken. Seine Glieder waren steif, als hätte er Prügel bekommen.
Endlich scheuchte ihn die Notwendigkeit, Geld aufzutreiben, in die Höhe, und er ging zuerst zu Forestier.
Sein Freund empfing ihn in seinem Zimmer, am Kamin sitzend:
– Nun was willst Du denn so zeitig?
– Was sehr Wichtiges. Ich habe eine Ehrenschuld.
– Jeu?
Er zögerte, dann erklärte er:
– Ja, ich habe gejeut.
– Ist es viel?
– Fünfhundert Franken.
Er war ihr nur zweihundertachtzig schuldig.
Forestier fragte mißtrauisch:
– Wem bist Du denn das schuldig?
Duroy konnte nicht gleich antworten:
– Nun . . . Herrn . . . Herrn . . . Herrn von Carleville.
– Ah . . . wo wohnt er denn?
– In der . . . in der . . .
Forestier fing an zu lachen:
– Auf dem Monde, nicht wahr! Na, weißt Du, den Herrn kenne ich schon. Wenn Du zwanzig Franken haben willst, die stehen Dir noch zur Verfügung, aber mehr nicht!
Duroy nahm das Goldstück an.
Dann ging er von Thür zu Thür, zu allen Bekannten und hatte endlich gegen fünf Uhr achtzig Franken zusammengebettelt.
Da er aber noch zweihundert Franken brauchte, so entschloß er sich, das zu behalten, was er nun einmal zusammen hatte und brummte:
– Ach was, ich werde mir für das Biest kein Bein ausreißen. Ich zahle eben, wenn ich kann.
Vierzehn Tage lang lebte er sparsam, ordentlich und keusch, nach den strengsten Grundsätzen. Dann packte ihn plötzlich eine mächtige Liebeswut und ihm schien, als wären schon Jahre vergangen, seitdem er eine Frau in den Armen gehalten. Und wie ein Matrose, wenn er an Land kommt, einen Koller kriegt, so überlief es ihn bei jeder Schürze, die er begegnete.
Da kehrte er eines Abends in die Folies-Bergère zurück in der Hoffnung, Rahel zu finden. Schon im Eingang sah er sie in der That, denn sie ging fast nie wo anders hin.
Lächelnd trat er auf sie zu und hielt ihr die Hand entgegen, aber sie maß ihn verächtlich vom Kopf bis zum Fuß:
– Was wollen Sie von mir?
Er versuchte zu scherzen:
– Ach was, spiel' Dich man nicht auf!
Sie wandte ihm den Rücken und sagte:
– Ich mag keine Nassauer!
Sie hatte die größte Beleidigung gesucht. Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, und er kehrte allein nach Hause zurück.
Forestier, der krank und kribbelig war und immer hustete, machte ihm in der Zeitung das Leben sauer. Es war, als suchte er das Unangenehmste aus, um es ihm zuzuschanzen. Und eines Tages schimpfte er sogar, als er sehr nervös war, eben einen Hustenanfall gehabt hatte und Duroy eine ihm aufgetragene Erkundigung nicht brachte:
– Jesses, Du bist aber dümmer, als ich dachte!
Der andere wollte ihm eine herunterlangen, aber er beherrschte sich und ging davon, indem er bei sich dachte:
– Na, Dir werde ich's schon eintränken!
Ein plötzlicher Gedanke schoß ihm durch das Gehirn, und er dachte weiter:
– Ich werde Dir Hörner aufsetzen, mein Alter!
Sich die Hände reibend, froh über seinen Plan, ging er davon.
Gleich am nächsten Tage wollte er an die Ausführung gehen. Und er machte Frau Forestier einen Besuch, um das Terrain zu rekognoscieren.
Er fand sie der Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt, lesend.
Ohne ihre Stellung zu verändern, streckte sie ihm die Hand entgegen, wandte nur den Kopf und sagte:
– Guten Morgen, Liebling.
Es war ihm, als hätte er einen Schlag bekommen:
– Warum nennen Sie mich so?
Sie antwortete lächelnd:
– Ich habe Frau von Marelle vorige Woche getroffen, und da habe ich gehört, wie man Sie bei ihr getauft hat.
Da die junge Frau liebenswürdig lächelte, beruhigte er sich. Was sollte er auch fürchten?
– Sie verwöhnen Frau von Marelle. Und zu mir kommen Sie alle Schaltjahr.
Er hatte sich neben sie gesetzt und betrachtete sie mit erwachter Neugierde, mit der Neugier eines Liebhabers von Nippsachen. Sie war reizend, von einem zarten, warmen Blond, wie zum Küssen gemacht, und er dachte: na, sie ist mir unbedingt lieber wie die andere. Er zweifelte gar nicht an seinem Erfolge, er brauchte nur die Hand auszustrecken, meinte er, um sie zu nehmen, wie man eine Frucht pflückt. So sagte er entschlossen:
– Ich bin nicht gekommen, weil es besser für mich war.
Sie verstand nicht.
– Was, warum?
– Warum? Erraten Sie's nicht?
– Nein, gar nicht.
– Weil ich Sie liebe. Nur ein bißchen, ein bißchen, aber es sollte nicht schlimmer werden.
Sie schien weder erstaunt, noch empört, noch geschmeichelt zu sein, sie hatte noch immer dasselbe gleichgiltige Lächeln und antwortete ganz ruhig:
– Ach, Sie können trotzdem kommen, mich liebt nie einer lange.
Er war noch mehr über den Ton erstaunt, als über die Worte und fragte:
– Warum?
– Weil's ganz unnütz ist und das merkt jeder bald. Wenn Sie mir Ihre Befürchtung früher mitgeteilt hätten, hätte ich Sie beruhigt und im Gegenteil Ihnen geraten, möglichst häufig zu kommen.
Er rief pathetisch:
– Ja man kann doch nicht seinen Gefühlen befehlen!
Sie wandte sich zu ihm:
– Lieber Freund, für mich ist ein Verliebter aus der Reihe der Lebenden gelöscht, für mich wird er ein Idiot und nicht nur das, sondern geradezu gemeingefährlich. Mit Leuten, die mich lieben oder die wenigstens behaupten, es wäre so, gebe ich jeden nähern Verkehr auf; einmal langweilt es mich und dann sind sie mir einfach verdächtig, wie ein toller Hund, der plötzlich einen Anfall bekommen kann. Darum lasse ich sie eine moralische Quarantäne durchmachen, bis ihre Krankheit vorüber ist. Vergessen Sie das nicht. Ich weiß wohl, bei euch ist die Liebe nur eine Art von Mahlzeit, bei mir dagegen würde sie wie ein heiliges Abendmahl sein, und das paßt nicht in die Religion der Männer. Sie wollen den Buchstaben, ich den Geist. Aber sehen Sie mich einmal genau an . . . .
Sie lächelte nicht mehr, sie hatte einen ruhigen, kalten Ausdruck, und nun sagte sie, jedes Wort einzeln betonend:
– Ich werde niemals, niemals Ihre Geliebte sein. Hören Sie! Alle Bemühungen sind ganz unnütz und würden Ihnen sogar schaden. Na – nun denke ich, ist die Operation gemacht. Und nun frage ich Sie: wollen wir gute Freunde sein, aber wirkliche Freunde, ohne jeden Hintergedanken?
Er hatte begriffen, daß hier jeder Versuch fruchtlos sein würde, darum fügte er sich sofort und streckte ihr erfreut, daß er sich diese Frau zur Bundesgenossin gemacht, beide Hände entgegen:
– Gnädige Frau, ich gehöre Ihnen, wie Sie's wünschen!
Sie fühlte aus seiner Stimme die Aufrichtigkeit seiner Gedanken und gab ihm beide Hände.
Er küßte sie eine nach der andern, dann sagte er ganz ruhig, indem er den Kopf hob:
– Weiß der Teufel, wenn ich so eine Frau wie Sie gefunden hätte, wäre ich glücklich gewesen, die zu heiraten!
Diesmal war sie gerührt, diese Worte thaten ihr wohl, wie jeder Frau, der ein Kompliment einmal zu Herzen geht. Und sie warf ihm einen jener flüchtigen dankbaren Blicke zu, die uns zu Sklaven der Frauen machen.
Da er nun keinen Übergang fand, um sich zu unterhalten, so sagte sie mit weicher Stimme, indem sie einen Finger auf seinen Arm legte:
– Und ich werde gleich mein neues Verhältnis zu Ihnen, als Freundin, beginnen. Hören Sie einmal, lieber Freund Sie sind ungeschickt!
Sie zögerte und fragte:
– Kann ich ganz offen reden?
– Gewiß!
– Ganz offen?
– Ganz offen!
– Nun – wissen Sie was, machen Sie doch einmal Frau Walter einen Besuch. Sie schätzt Sie sehr, machen Sie sich einmal niedlich bei ihr. Der können Sie die schönsten Komplimente sagen, aber sie ist eine anständige Frau, absolut anständig. Auch bei der ist gar keine Hoffnung, sie zu gewinnen. Aber es ist viel schlauer, Sie lassen sich häufig da sehen. Ich weiß, daß Sie bei der Zeitung jetzt noch in einer untergeordneten Stelle sind. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, Walters sind gegen alle ihre Redakteure gleich liebenswürdig. Glauben Sie mir, gehen Sie hin!
Er sagte lächelnd:
– Danke, Sie sind wirklich ein Engel! Mein Schutzengel.
Dann sprachen sie von etwas anderem.
Er blieb lange Zeit, er wollte ihr zeigen, daß er sich freute, bei ihr zu sein. Und als er ging, fragte er noch:
– Also nicht wahr, wir sind Freunde?
– Natürlich!
Da er gemerkt hatte, wie sein Kompliment vorhin ihr Eindruck gemacht, so fügte er hinzu:
– Und wenn Sie jemals Witwe werden sollten, bitte mich vorzumerken.
Dann ging er schnell davon, um ihr keine Zeit zu lassen, böse zu werden.
Frau Walter einen Besuch zu machen, genierte Duroy ein wenig, denn er war von ihr gar nicht gebeten worden zu kommen, und er wollte doch keine Unschicklichkeit begehen. Der Chef war sehr wohlwollend gegen ihn, schätzte seine Dienste und verwendete ihn bei schwierigen Aufträgen besonders gern. Warum sollte er diese Gunst nicht benutzen, um sich in seinem Hause einzuführen?
Er ging also eines Tages, als er zeitig aufgestanden war, in die Markthalle, wo gerade eine Versteigerung stattfand, und kaufte für etwa zehn Franken zwanzig Stück wundervolle Birnen.
Er packte sie sorgfältig in ein Körbchen, um den Anschein zu erregen, als wären sie ihm zugeschickt worden, und gab sie dem Portier von Walters mit seiner Karte, auf die er geschrieben:
Georg Duroy
bittet Frau Walter ergebenst, diese Früchte die er heute morgen aus der Normandie bekommen hat, von ihm annehmen zu wollen.
Am nächsten Morgen fand er in seinem Briefkasten auf der Redaktion, in einem Couvert die Karte der Frau Walter, die ›Herrn Georg Duroy angelegentlichst dankte, und jeden Sonnabend empfing.‹
Am folgenden Sonnabend ging er hin.
Herr Walter bewohnte am Boulevard Malesherbes ein Doppelhaus, das ihm gehörte und von dem er, als sparsamer und praktischer Mann, die eine Hälfte vermietet hatte.
Ein Portier, dessen Loge zwischen den beiden Eingängen lag, öffnete sowohl für den Besitzer, als für den Mieter, sodaß jede Hälfte den Eindruck eines vornehmen, herrschaftlichen Hauses machte, da der Portier wie der Schweizer in einer Kirche angezogen war, mit Kniehosen und weißen Strümpfen, einem reichbetreßten Rock mit Goldknöpfen und scharlachroten Aufschlägen.
Die Empfangsräume lagen im ersten Stock. Vor ihnen befand sich ein Vorsaal mit stoffüberkleideten Wänden, und schweren Portièren.
Zwei verschlafene Diener saßen dort; der eine nahm Duroys Überzieher, der andere seinen Stock, dann öffnete er eine Thür, schritt voraus, trat zur Seite, ließ ihn eintreten und rief seinen Namen in das leere Zimmer.
Der junge Mann blickte sich verlegen nach allen Seiten um. Dann sah er im Spiegel eine Gruppe von Menschen, scheinbar sehr weit entfernt sitzend. Er irrte sich zuerst in der Richtung, wohin er gehen sollte, da ihn der Spiegel getäuscht. Dann schritt er noch durch zwei Salons, in denen sich niemand befand, und war in einer Art von Boudoir, das mit blauer goldgeblümter Seide bespannt war. Dort unterhielten sich vier Damen, halblaut, an einem runden Tische sitzend, auf dem der Thee stand.
Trotz der Sicherheit, die Duroy durch das Pariser Leben gewonnen, und vor allen Dingen durch seinen Reporterberuf, der ihn immer mit hervorragenden Persönlichkeiten in Berührung brachte, fühlte er sich doch ein wenig verlegen, wegen des ganzen Empfangs hier und weil man durch die leeren Salons gehen mußte.
Er stammelte etwas, wie: – Gnädige Frau, ich habe mir erlaubt – und dabei suchte er unter den Damen die Frau des Hauses.
Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er mit einer Verbeugung nahm, und sagte: – Sie sind sehr liebenswürdig zu kommen. – Dann bot sie ihm einen Stuhl an. Er wollte sich setzen, aber er versank vollkommen, weil er gemeint hatte, daß der Sitz höher sei.
Eine Pause entstand, und nun fing eine der Damen wieder an zu sprechen. Sie redete von der Kälte, die sich jetzt stark fühlbar machte, aber doch nicht stark genug, um die um sich greifende Typhus-Epidemie zu bannen oder um Schlittschuhbahn zu schaffen. Und jede Dame sagte ihre Ansicht über dieses erste Erscheinen des Frostes in Paris. Dann sprachen sie sich aus über die Jahreszeiten, die jede vorzog, mit allerlei banalen Gründen, wie sie sich in diesen Köpfen festgesetzt, gleich dem Staub, der sich auf die Möbel legt.
Man hörte die Thür gehen, sodaß Duroy sich umblickte. Er bemerkte, durch zwei große Glasscheiben, eine dicke Dame auf sie zukommen. Sobald sie in das Boudoir trat, stand eine der Besucherinnen auf, drückte den andern die Hand und ging davon. Der junge Mann verfolgte mit den Augen durch die übrigen Zimmer ihr schwarzes Kleid, auf dem Schmelzperlen glänzten.
Sowie nach diesem Personenwechsel wieder Ruhe eingetreten war, sprach man plötzlich ohne Übergang von Marokko und dem Kriege im Orient, sowie von den Schwierigkeiten, in die England auf der andern Seite Afrikas geraten.
Die Damen redeten, als ob sie eine Gesellschafts-Komödie, die sie schon oft gespielt, aus dem Gedächtnis hersagten.
Wieder erschien jemand. Eine kleine Blondlockige, die das Verschwinden einer großen, magern, mittelalterlichen Dame nach sich zog.
Man sprach nun von der Aussicht, die Herr Linet hatte, in die Akademie aufgenommen zu werden. Die neu Angekommene glaubte bestimmt zu wissen, daß er von Herrn Cabanon- Lebas, der den Don Quixote in Versen für die Bühne bearbeitet, geschlagen werden würde.
– Denken Sie, es wird nächsten Winter im Odeon gegeben werden.
– Wirklich? O, dieses literarische Experiment muß ich mir doch ansehen!
Frau Walter antwortete sehr liebenswürdig, ruhig, gleichgiltig, ohne einen Augenblick zu zögern, was sie wohl sagen sollte, denn ihre Ansicht stand immer schon vorher fest.
Aber sie gewahrte, daß es dunkel ward, und klingelte nach den Lampen, indem sie immer der Unterhaltung zuhörte, die wie ein flüsterndes Wässerchen dahin glitt. Dabei dachte sie, daß sie ja vergessen beim Graveur vorzusprechen, wegen der Einladungskarten für das nächste Diner.
Sie war ein wenig zu dick, aber noch schön, in dem gefährlichen Alter, wo der Zusammenbruch der Schönheit nahe ist. Sie hielt sich künstlich, durch allerlei Mittel, Teintsalben und so weiter in dem Zustand, wie sie war. Sie schien sehr unterrichtet zu sein, maßvoll und vernünftig. Eine jener Frauen, deren Geist geradlinig abgesteckt ist, wie ein französischer Garten, in dem man sich ergeht, ohne besondere Ueberraschungen, aber der doch immer einen gewissen Reiz behält. Sie hatte Verstand, feines, zartes, sicheres Urteil, das bei ihr die Fantasie, die Güte, die Hingebung ersetzte, und ein gewisses, ruhiges, allgemeines Wohlwollen für jedermann und für alle Dinge.
Als sie merkte, daß Duroy nichts gesagt hatte, und daß man ihn nicht angeredet, wodurch sein Benehmen etwas Gezwungenes bekam, und da das Lieblingsthema der Akademie, das immer lange durchgehechelt ward, sie noch beschäftigte, so fragte sie:
– Nun Herr Duruy, Sie sind ja am besten unterrichtet. Für wen sind denn Sie?
Er antwortete ohne zu zögern:
– Gnädige Frau, bei dieser Frage richte ich mich nie nach dem Verdienst der Kandidaten, das immerhin bestritten werden kann, sondern nur nach ihrem Alter und Gesundheitszustand. Ich frage nicht nach ihren Leistungen, sondern nach ihren etwaigen Krankheiten. Ich lege keinen Wert darauf, ob sie etwa eine gereimte Übersetzung des Lope de Vega gemacht haben. Viel wichtiger erscheint mir der Zustand ihrer Leber, ihres Herzens, ihrer Nieren, ihres Rückenmarks. Für mich ist eine ordentliche Hypertrophie, eine tüchtige Brightsche Nierenkrankheit und vor allen Dingen eine beginnende Lähmung hundertmal besser, als vierzig Bände Untersuchungen über die Vaterlandsidee in der barbarischen Poesie.
Ein erstauntes Schweigen folgte auf seine Ansicht.
Frau Walter sagte lächelnd: – Warum denn?
Duroy antwortete: – Weil ich niemals an etwas anderes denke, als an die Frage, wird das auch die Damen interessieren? Und gnädige Frau, für Sie hat doch die Akademie nur Interesse, wenn ein Akademiker stirbt. Je mehr sterben, desto glücklicher sind Sie. Aber damit sie schnell sterben, dürfen nur solche ernannt werden, die alt und krank sind.
Da die Damen doch etwas erstaunte Gesichter machten, fügte er hinzu: – Mir geht's ja genau so wie Ihnen, und im lokalen Teil der Zeitungen lese ich sehr gern, daß ein Akademiker gestorben ist. Da frage ich mich gleich, wer wird ihn ersetzen, und mache meine Liste. Das ist ein Spiel, ein nettes Spiel, das in allen Pariser Salons gespielt wird, sobald einer der Unsterblichen in's Gras beißen muß. Das Spiel heißt etwa: »Der Tod und die vierzig Greise.«
Die Damen konnten sich noch nicht recht fassen, fingen jedoch an zu lächeln, so richtig war seine Bemerkung.
Er schloß, indem er aufstand: – Meine Damen, Sie ernennen die Akademiker; und Sie ernennen sie nur, um sie sterben zu sehen. Also wählen Sie alte, sehr alte, so alt als möglich, um das übrige brauchen Sie sich gar nicht zu kümmern.
Dann ging er mit größter Liebenswürdigkeit davon.
Sobald er fort war, erklärte eine der Damen: – Das ist ein spaßiger Mensch! Wer ist denn das?
Frau Walter antwortete: – Einer unserer Redakteure. Er macht bis jetzt nur so die kleinen Arbeiten an der Zeitung, aber der wird schon vorwärts kommen.
Duroy ging guter Laune, elastischen Schrittes, zufrieden über seinen guten Abgang den Boulevard Malesherbes hinab, indem er vor sich hin brummte: »Guter Abgang«.
An diesem Abend versöhnte er sich mit Rahel.
Die folgende Woche brachte ihm zwei besondere Ereignisse. Er wurde zum Redakteur für den lokalen Teil ernannt, und von Frau Walter zu Tisch eingeladen. Er merkte sofort den Zusammenhang zwischen beidem.
Die ›Vie française‹ war in erster Linie ein Finanzblatt, denn ihr Besitzer war ein Geldmann, dem Zeitung und Abgeordnetenhaus nur als Mittel dienten.
Seine Waffe war ein gewisses biedermännisches Auftreten, er hatte seine Spekulationen immer unter der lächelnden Maske des braven Mannes vollführt. Aber zu allen seinen Geschäften, welcher Art sie auch immer sein mochten, nahm er nur erprobte Leute, die er genau kannte, von denen er wußte, daß sie gerissen, rücksichtslos und geschmeidig waren. Duroy, den er nun zum Lokal-Redakteur ernannt, schien ihm eine besonders wertvolle Kraft zu sein.
Bis dahin hatte diese Stelle der Redaktions-Sekretär Boisrenard ausgefüllt, ein alter, zuverlässiger Journalist, pünktlich und peinlich wie ein Beamter. Seit dreißig Jahren war er Redaktions-Sekretär bei elf verschiedenen Blättern gewesen, ohne im geringsten seine Anschauungs- und Handlungsweise zu ändern. Er ging von einer Redaktion in die andere über, wie man ein Restaurant wechselt und kaum dabei merkt, daß das Essen dort ganz anders schmeckt. Religiöse oder politische Ansichten hatte er nicht. Bei welchem Blatt er auch immer arbeitete, er war ihm ganz ergeben und äußerst brauchbar und wertvoll wegen seiner reichen Erfahrung. Er arbeitete wie ein Blinder, der nichts sieht, wie ein Tauber, der nichts hört, und wie ein Stummer, der nichts sagt. Dennoch hatte er eine große Ehrlichkeit im Beruf und wäre für nichts zu haben gewesen, was er nicht für anständig und richtig gehalten hätte, nach seinen Standesansichten.
Obgleich ihn Herr Walter schätzte, hatte er doch oft einen andern als Redakteur für das Lokale gewünscht, das, wie er sich ausdrückte, das Rückgrat der Zeitung ist. Denn im lokalen Teil konnte man Nachrichten lancieren, Gerüchte verbreiten, und auf Publikum und Kurs einen Druck ausüben.
Zwischen die Beschreibung zweier Feste in der Gesellschaft muß man verstehen, ganz harmlos die wichtigste Sache einfließen zu lassen, nicht deutlich, nur andeutungsweise. Durch einen Doppelsinn muß man seine Absicht erraten lassen, indem man so dementiert, daß das Gerücht gerade Bestimmtheit annimmt, oder in einer Form etwas behauptet, daß kein Mensch an die Thatsachen glaubt. Im lokalen Teile muß jeder täglich mindestens ein paar Zeilen finden, die ihn interessieren, damit ihn jeder liest; an alle und alles, an alle Gesellschaftsschichten, an jeden Beruf muß gedacht werden, an Paris wie an die Provinz, an das Militär wie an die Geistlichkeit, an die Künstler wie an die Universitäts-Professoren, an die Stadtverwaltung wie an die Halbwelt.
Wer den lokalen Teil unter sich hat, und damit einen ganzen Stab von Reportern, muß bei jeder Kleinigkeit auf seiner Hut sein, alles beobachten, vorhersehen, er muß gerissen sein, immer bei der Hand, zu allem fähig, und einen unfehlbaren Instinkt haben, um auf den ersten Blick das Falsche an einer Nachricht zu erkennen, und beurteilen zu können, was man sagen kann und was man lieber verschweigt, vor allem aber zu fühlen, was auf das Publikum Eindruck macht. Und das alles muß er in einer Form wiedergeben können, die die Wirkung davon noch erhöht.
Herr Boisrenard, der eine lange Praxis für sich hatte, besaß doch nicht genug Blick und Chik, vor allen Dingen fehlte ihm die angeborene Schlauheit, um jeden Tag die geheimen Wünsche des Chefs zu erraten.
Duroy würde sicher die Geschäfte vorzüglich leiten, und er würde ausgezeichnet den Redaktionsstab dieses Blattes ergänzen, das, wie Norbert von Varenne sich ausdrückte, »auf den Strömungen des Staates und den Unterströmungen der Politik schwamm.«
Die eigentlichen geistigen Leiter und Redakteure der ›Vie française‹ waren ein halbes Dutzend Abgeordnete, die bei Spekulationen, die der Chef unternahm, beteiligt waren. In der Kammer hießen sie die »Walterclique« und man beneidete sie, weil sie durch ihn viel Geld verdienen sollten.
Forestier, der politische Redakteur, war nur der Strohmann dieser Geschäftsleute, der die Absichten, die sie ihm einbliesen, ausführte.
Sie gaben ihm den Stoff für die aktuellen Artikel, die er immer bei sich zu Hause schrieb, »um mehr Ruhe zu haben,« wie er sagte.
Aber um der Zeitung einen literarischen und pariserischen Anstrich zu geben, hatte man zwei berühmte Schriftsteller gewonnen, die ein verschiedenes Genre beherrschten, Jacques Rival und Norbert von Varenne, den Dichter und phantastischen Erzähler, oder besser Plauderer, wie er neuerdings Mode war.
Und dann hatte man zu mäßigem Preise einen Kunstkritiker engagiert für Malerei, Musik und Theater. Dazu einen Kriminalredakteur und einen Redakteur für die Sportnachrichten. Der großen Masse der, um's liebe Brot schreibenden, Allerweltsjournalisten waren sie entnommen. Zwei Damen der Gesellschaft »Rosa Domino« und »Sammet-Pfötchen« schickten kleine Nachrichten aus der Gesellschaft, behandelten Mode und elegantes Leben, guten Ton, Lebensart, und gaben allerlei Indiskretionen über vornehme Damen zum besten.
Und von allen diesen verschiedenen Händen geleitet, schwamm die ›Vie française‹ über die Strömungen und Unterströmungen dahin.
Duroy war glückselig über seine Ernennung zum Redakteur, und da erhielt er auch noch eine kleine Einladungskarte, auf welcher stand: »Herr und Frau Walter geben sich die Ehre Herrn Georg Duroy auf Donnerstag den zwanzigsten Januar zum Diner einzuladen.«
Diese neue Gunstbezeugung, die noch zur anderen dazu kam, erfüllte ihn mit solcher Freude, daß er auf die Einladung seine Lippen drückte, wie er es etwa bei einem Liebesbrief gethan hätte.
Dann ging er zum Kassierer, um die wichtige Gehaltsfrage zu besprechen.
Ein Lokal-Redakteur erhält gewöhnlich eine bestimmte Summe, von der er die Reporter und Nachrichten bezahlt, wertvolle und minderwertige, die dieser oder jener bringt, wie die Gärtner ihre Produkte zu den Blumenhändlern bringen.
Für den Anfang bekam Duroy monatlich eintausendzweihundert Franken angewiesen, und er nahm sich vor, davon den Löwenanteil zu behalten.
Der Kassierer hatte ihm endlich auf seine dringenden Vorstellungen vierhundert Franken Vorschuß gegeben, und im ersten Augenblick war er fest entschlossen, die zweihundertundachtzig Franken, die er Frau von Marelle schuldig war, zurück zu schicken. Aber sofort überlegte er sich, daß er nur noch einhundertundzwanzig Franken behalten würde, eine Summe, die ganz ungenügend war, um seine neue Thätigkeit in Gang zu bringen, und er entschloß sich daher die Rückerstattung des Geldes noch zu verschieben.
Zwei Tage kümmerte er sich um seine Einrichtung, denn er erbte einen Schreibtisch und einen Briefständer für sich in dem gemeinsamen Redaktionsraum. Auf der einen Seite des Zimmers nahm er Platz, wahrend Boisrenard, dessen trotz seines Alters tiefschwarzer Kopf immer auf ein Blatt Papier niedergebeugt war, ihm gegenüber saß.
Der große Tisch in der Mitte gehörte den fliegenden Mitarbeitern. Gewöhnlich setzte man sich darauf, entweder mit gekreuzten Beinen in die Mitte, oder an den Rand, und ließ die Füße herunter hängen.
Manchmal saßen fünf oder sechs auf diesem Tisch und spielten Fangball, wie chinesische Pagoden.
Duroy hatte endlich auch diesem Spiel Geschmack abgewonnen, und nach Saint-Potins Anweisungen begann er schon ganz gut zu spielen. Forestier ging es immer schlechter, und er hatte ihm seinen schönen Bambus-Fangball, den er zuletzt gekauft hatte, aber den er ein wenig zu schwer fand, überlassen. Und Duroy warf mit kräftigem Arm die große schwarze Kugel am Ende eines Strickes in die Höhe, indem er leise zählte: eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs. An dem Tage, wo er bei Walters essen sollte, gelang es ihm zum erstenmal, die Kugel zwanzigmal hintereinander zu fangen. Das ist ein famoser Tag, dachte er bei sich, heute glückt alles. Denn nach der Geschicklichkeit im Fangballspiel wurde man auf der Redaktion der ›Vie française‹ wirklich beurteilt.
Er verließ zeitig die Redaktion, um Zeit zum Anziehen zu behalten, und schritt dann die Rue de Londres hinauf, als er vor sich ein kleines Frauchen trippeln sah, die ganz den Eindruck machte wie Frau von Marelle. Er fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg und sein Herz schlug. Er ging auf die andere Seite der Straße, um sie im Profil zu sehen. Sie blieb stehen, um auch hinüber zu gehen. Er hatte sich geirrt, er atmete auf.
Er hatte sich oft gefragt, wie er sich ihr gegenüber benehmen sollte, wenn er sie zufällig träfe. Sollte er sie grüßen oder thun, als sähe er sie nicht?
Ich werde sie nicht bemerken, dachte er.
Es war kalt, in den Rinnsteinen war das Wasser gefroren. Die Bürgersteige waren trocken und grau beim Gaslicht.
Als der junge Mann nach Hause kam, dachte er: ich muß eine andere Wohnung nehmen, die paßt jetzt nicht mehr für mich. Er fühlte sich aufgekratzt, lustig, fähig zu allem, und sagte laut, indem er von seinem Bett zum Fenster ging: »Das Glück kommt, das Glück! Das müßte ich mal dem Papa schreiben.«
Ab und zu schrieb er seinem Vater. Und so ein Brief erregte immer stürmische Freude in dem kleinen normannischen Wirtshaus, das an der Landstraße oben auf der Höhe, die Rouen und das weite Thal der Seine beherrscht, lag.
Ab und zu bekam er auch einen Brief im blauen Umschlag, dessen Adresse mit grober, zitternder Hand geschrieben war, und immer begann der väterliche Brief mit denselben Zeilen:
»Mein lieber Sohn, ich schreibe Dir, um Dir zu sagen, daß es Deiner Mutter und mir gut geht. Hier ist nichts Neues geschehen, aber ich möchte Dir mitteilen . . . .«
Und im Innern seines Herzens behielt er immer für alles, was das Dorf anging, für Nachrichten über das was die Nachbarn thaten, und wie die Ernte stand, sein Interesse.
Als er vor dem kleinen Spiegel sich die weiße Kravatte band, sagte er sich von neuem: »Ich muß gleich morgen an Papa schreiben. Ah, wenn der gute Alte mich heute abend sehen könnte, der würde aber ein Gesicht machen. Verflucht nochmal, so ein Diner, so was kennt er gar nicht.« Und er dachte plötzlich an die schwarze räucherige Küche, da droben zu Hause hinter der leeren Gaststube, wo die Schüsseln, die längst der Wand aufgereiht waren, blitzten, die Katze am Herde saß und sich wärmte wie ein Gespenst, das dort kauerte. Er dachte an den Holztisch, der ab und zu durch verschüttete Getränke Flecke bekam, auf dem die Suppenschüssel in der Mitte dampfte, und zwischen zwei Tellern ein Licht brannte. Und dann sah er auch die beiden Eltern vor sich, Mann und Frau wie sie mit den langsamen Bewegungen der Bauern ihre Suppe löffelten. Er kannte den kleinsten Zug in ihrem alten Gesicht, die geringste Art Kopf und Arm zu bewegen, er wußte genau, was sie sich jeden Abend sagten, wenn sie sich beim Essen gegenüber saßen.
Und dann dachte er noch: »Ich muß sie doch unbedingt einmal besuchen.« Aber als er mit Anziehen fertig war, löschte er sein Licht und ging fort.
Wie er den äußeren Boulevard hinunter ging, redeten ihn die Mädchen an, aber er antwortete, indem er sie mit dem Arm fortschob: »Macht, daß ihr weiterkommt!« mit so großer Entrüstung, als ob sie ihn verkannt und beleidigt hätten. Für wen hielten sie ihn denn, wußten denn die verfluchten Weiber die Männer nicht aus einander zu halten? Das Bewußtsein, den Frack an zu haben, mit dem er zum Diner gehen wollte, zu sehr reichen, sehr bekannten, sehr einflußreichen Leuten, gab ihm das Gefühl ein, als wäre er ein ganz neuer Mensch: das Bewußtsein, daß er ein anderer geworden, ein Mitglied der Gesellschaft, der wirklichen Gesellschaft.
Er trat mit großer Sicherheit in das Vorzimmer, das durch große Bronzeleuchter erhellt war, und mit ganz natürlicher Gebärde gab er Stock und Überzieher den beiden Dienern, die auf ihn zukamen.
Alle Zimmer waren erleuchtet. Frau Walter empfing im zweiten Salon, der der größte von allen war. Sie bewillkommnete ihn mit reizendem Lächeln, und er drückte den Herren, die schon da waren, die Hände, Herrn Firmin und Herrn Laroche-Mathieu, Abgeordnete und heimliche Mitarbeiter der ›Vie française‹. Herr Laroche-Mathieu genoß bei der Zeitung eines besonderen Ansehens, weil er in der Kammer großen Einfluß besaß. Man erwartete unbedingt, daß er einmal Minister werden würde.
Dann kamen Forestiers! Frau Forestier in rosa sah reizend aus. Duroy war ganz erstaunt, sie mit den beiden Abgeordneten so intim zu sehen. Sie sprach über fünf Minuten leise am Kamin mit Herrn Laroche-Mathieu. Karl machte einen erschöpften Eindruck; seit vier Wochen war er sehr abgemagert, er hustete fortwährend und meinte: »Ich sollte wirklich den Rest des Winters nach dem Süden gehen.«
Norbert von Varenne und Jacques Rival erschienen zusammen, dann that sich eine Thür auf, und Herr Walter trat ein mit zwei großen jungen Mädchen, von sechzehn bis achtzehn Jahren, einer häßlichen und einer hübschen.
Duroy wußte, daß der Chef Kinder hatte, aber er war doch ganz erstaunt. Er hatte an die Töchter nie anders gedacht, als wie an irgend ein fremdes Land, wohin man niemals kommt. Dann hatte er gemeint, sie müßten noch ganz klein sein, und nun sah er sie erwachsen vor sich stehen; das gab ihm eine leichte Verlegenheit, wie sie in uns hervorgerufen wird, wenn etwas anders ist als wir es uns gedacht haben.
Sie streckten ihm, nachdem er vorgestellt worden, eine nach der andern die Hand entgegen. Dann setzten sie sich an einen kleinen Tisch, der wahrscheinlich für sie bestimmt war, wo sie anfingen eine Menge von Seidenwickeln in ein Körbchen zu räumen.
Man erwartete noch jemand, und alles schwieg mit dieser Art von Verlegenheit, die gewöhnlich eintritt vor einem Diner, wenn Leute zusammenkommen nach ihren Tagesgeschäften, die nicht alle aus demselben Kreise sind.
Duroy hatte aus Langeweile die Wände betrachtet, da rief ihm Herr Walter von weitem zu, weil er offenbar sein Licht nicht unter den Scheffel stellen wollte: – Sie sehen meine Bilder an? – Das »meine« hatte den Ton. – Ich will sie Ihnen einmal zeigen! Und er nahm eine Lampe, damit man die Einzelheiten besser sehen könnte.
– Hier sind die Landschaften!
Mitten an der Wand hing ein großes Gemälde, von Guillaumet, ein normannisches Strandbild bei Gewitterhimmel. Darunter eine Wald-Studie von Harpignies, daneben eine algerische Landschaft von Guillaumet, mit einem Kamel am Horizont, einem hochbeinigen Kamel, das aussah wie ein seltsames Monument.
Herr Walter trat an die daran stoßende Wand und sagte mit ernsthaftem Ton, wie ein Zeremonienmeister: – Jetzt kommt die große Kunst. – Es waren vier Bilder. »Ein Besuch im Krankenhaus« von Gervex, dann »die Schnitterin« von Bastien-Lepage, »die Witwe« von Vouguereaux, und »die Exekution« von Jean Paul Laurens. Dieses letzte Bild stellte einen Priester dar aus der Vendée, den eine Abteilung Republikaner an die Mauer seiner Kirche gestellt hat, um ihn zu erschießen.
Ein Lächeln lief über das ernste Gesicht des Chefs, als er auf die folgende Wand deutete.
– Jetzt kommen die Genremaler.
Zuerst betrachteten sie ein kleines Bild von Jean Béraud, genannt »Oben und Unten.« Es stellte eine hübsche Pariserin dar, welche die Treppe eines in Bewegung befindlichen Pferdebahnwagens, hinaufstieg. Oben an den Decksitzen erschien eben das Gesicht, und die Herren, die dort saßen, betrachteten mit großer Befriedigung die hübschen Züge, die vor ihnen auftauchten, während die Herren, die unten auf der Plattform standen, die Waden der Dame mit verschiedenem Ausdruck, teils unwillig, teils wohlgefällig in Augenschein nahmen.
Herr Walter hielt die Lampe mit ausgestrecktem Arm hoch und wiederholte, indem er verschmitzt lächelte: – Nun ist das nicht amüsant? Ist das nicht amüsant?
Dann beleuchtete er »die Lebensrettung« von Lambert. Mitten auf einem abgedeckten Tisch saß eine kleine Katze und betrachtete erstaunt und mit starren Blicken eine Fliege, die im Wasserglas ertrank. Die Katze hatte die eine Pfote erhoben, als wollte sie das Insekt mit einem Ruck herausziehen, aber sie war noch nicht entschlossen, sie zögerte noch. Was würde sie thun?
Dann zeigte der Chef einen Detaille: »die Stunde.« Es stellte einen Soldaten in der Kaserne dar, der einem Pudel das Trommeln beibringt, und Herr Walter sagte dazu: – Das ist doch geistreich!
Duroy nickte beifällig und ward ganz begeistert:
– Das ist ja reizend, reizend, ganz rei . . . . – er unterbrach sich, denn er hörte plötzlich hinter sich die Stimme Frau von Marelles, die eben eingetreten. Der Chef beleuchtete noch weiter die Bilder und erklärte sie.
Nun zeigte er ein Aquarell von Moritz Leloix das »Hindernis«. Eine Sänfte, deren Träger stehen geblieben waren, weil die Straße von zwei Kerlen versperrt ward, die wie die Ringer mit einander kämpften. Aus dem Fenster der Sänfte sah man ein reizendes Frauenantlitz herauslugen, das ihnen zusah ohne Ungeduld, ohne Angst, mit einer gewissen Bewunderung.
Herr Walter fuhr fort: – Ich habe noch in den andern Zimmern eine ganze Menge Bilder, aber sie sind von weniger bedeutenden Malern, die keinen so großen Namen haben. Das ist der Glanzpunkt. Ich kaufe jetzt von jungen Künstlern Bilder, von ganz jungen, und hänge sie vorläufig in Zimmer, wo niemand hinkommt. Ich warte, bis die Maler berühmt geworden sind.
Dann sagte er leise:
– Jetzt muß man Bilder kaufen, die Maler haben nichts zu beißen, keinen Pfennig in der Tasche.
Aber Duroy sah nichts und hörte zu ohne zu verstehen. Frau von Marelle war da, hinter ihm. Was sollte er thun? Würde sie ihm nicht, wenn er sie grüßte, den Rücken drehen, oder ihm irgend eine Beleidigung an den Kopf werfen? Und was sollte sie denn denken, wenn er sich ihr gar nicht näherte?
Er sagte sich: – Ich muß Zeit gewinnen. Er war so aufgeregt, daß er daran dachte, ein plötzliches Unwohlsein vorzuschützen, um sich aus dem Staube machen zu können.
Sie hatten jetzt alle Bilder angesehn. Der Chef setzte die Lampe wieder auf den Tisch, um die zuletzt Gekommene zu begrüßen, während Duroy die Gemälde ganz allein noch weiter betrachtete, als ob er gar nicht genug sehen könnte. Der Kopf war ihm wirr, er hörte Stimmen, er unterschied die Unterhaltung. Frau Forestier rief:
– Sagen Sie mal, Herr Duroy . . . er trat auf sie zu. Sie wollte ihm eine Freundin empfehlen, die ein Fest gab, das sie gern in der ›Vie française‹ besprochen haben wollte.
Er stammelte: – Aber natürlich, gnädige Frau, natürlich.
Jetzt stand Frau von Marelle ganz nahe bei ihm. Er wagte nicht, sich umzuwenden.
Da plötzlich – war er denn verrückt geworden – sagte sie laut: – Guten Tag, Liebling! Kennen Sie mich denn nicht mehr?
Sofort drehte er sich um, sie stand lächelnd vor ihm, und aus ihren Blicken leuchteten Heiterkeit und Liebe. Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Zitternd nahm er sie. Er befürchtete noch immer eine Falle. Sie fügte freundlich hinzu: – Wie geht es Ihnen denn? Man sieht Sie ja gar nicht mehr!
Er stammelte, ohne seine Kaltblütigkeit ganz wieder gewinnen zu können: – O, ich habe viel zu thun gehabt, sehr viel zu thun. Herr Walter hat mir ein neues Ressort überwiesen, das macht Riesen-Arbeit.
Sie antwortete und blickte ihn gerade an, ohne daß er in ihren Augen etwas anderes als Wohlwollen lesen konnte. – Ich weiß, aber das ist doch kein Grund, Ihre Freunde ganz zu vergessen.
Sie wurden getrennt durch eine dicke Dame, die eben hereinkam. Eine dicke Dame mit entblößten Schultern, roten Armen, rotem Gesicht, in anspruchsvoller Toilette und Haartracht. Sie trat so schwer auf, daß man Gewicht und Umfang ihrer Beine förmlich fühlte, wenn sie ging.
Da man sie offenbar mit besonderer Auszeichnung behandelte, so fragte Duroy Frau Forestier:
– Wer ist denn das?
– Die Vicomtesse von Percemur, die bei uns »Sammetpfötchen« zeichnet.
Er war ganz erstaunt und hatte Lust zu lachen:
– Sammetpfötchen, Sammetpfötchen, und ich bildete mir ein, das müßte so eine Frau sein wie Sie! Das ist das Sammetpfötchen! Na, das ist gut, die kann so bleiben!
Ein Diener erschien in der Thür und meldete:
– Es ist angerichtet.
Das Diner war banal und heiter. Eines jener Diners, bei dem man von allem spricht und von nichts.
Duroy saß zwischen der ältesten Tochter des Chefs, der häßlichen, Fräulein Rosa Walter, und Frau von Marelle, deren Nachbarschaft ihn ein wenig genierte, obgleich sie sehr vergnügt war und mit ihrem gewohnten Witz plauderte. Er war zuerst verlegen und tastete und zögerte wie ein Musiker, der aus dem Takt gekommen ist. Doch allmählich kehrte seine Sicherheit zurück, und ihre Augen begegneten sich fortwährend, befragten sich und tauchten vertraulich, fast sinnlich ineinander, wie früher.
Plötzlich war ihm, als fühlte er unter dem Tisch etwas seinen Fuß berühren. Er streckte vorsichtig das Bein aus und begegnete dem seiner Nachbarin, das der Begegnung nicht auswich. In diesem Augenblick sprachen sie nicht, und wendeten sich beide zu ihren Nachbarn auf der anderen Seite.
Duroy schob klopfenden Herzens sein Knie noch weiter vor. Ein leiser Druck antwortete ihm. Da begriff er, daß ihre zärtlichen Beziehungen wieder begonnen.
Sie sprachen nicht mehr viel, aber ihre Lippen zitterten jedesmal, wenn sie sich anblickten.
Ab und zu richtete der junge Mann, der gegen die Tochter seines Chefs liebenswürdig sein wollte, das Wort an diese. Sie antwortete genau wie ihre Mutter, die nie einen Augenblick verlegen war, was sie sagen sollte.
Rechts von Herrn Walter saß die Vicomtesse von Percemur, wie eine Fürstin, und Duroy, dem es Spaß machte, sie zu betrachten, fragte ganz leise Frau von Marelle:
– Kennen Sie auch die andere, die »Rosa Domino« zeichnet?
– Natürlich, Baronin von Livar.
– Ist das auch die Sorte?
– Nein, aber ebenso komisch; groß, dürr, sechzig Jahre alt, falsche Löckchen, englische Raffzähne, Geist aus der Zeit der Restauration, Toilette so auch etwa um die Zeit.
– Wo haben sie denn nur diese Litteraturwunder aufgegabelt?
– O, der Abhub des Adels wird von bürgerlichen Parvenüs immer gut aufgenommen!
– Ein anderer Grund ist nicht vorhanden?
– Nein!
Dann begann ein politisches Gespräch zwischen dem Chef, den beiden Abgeordneten, Norbert von Varenne und Jacques Rival. Das dauerte bis zum Nachtisch.
Als sie wieder drüben im Salon standen, näherte sich Duroy von neuem Frau von Marelle und blickte ihr in die Augen.
– Soll ich Sie heute abend nach Hause bringen?
– Nein.
– Warum nicht?
– Weil Herr Laroche-Mathieu,, mein Nachbar, mich jedesmal an meiner Thür absetzt, wenn ich hier esse.
– Wann sehe ich Sie wieder?
– Kommen Sie morgen zum Frühstück zu mir.
Und sie trennten sich, ohne ein Wort mehr zu sprechen.
Duroy blieb nicht lange, er fand die Gesellschaft langweilig.
Als er die Treppe hinunter ging, holte er Norbert von Varenne ein, der sich auch entfernt hatte.
Der alte Dichter nahm seinen Arm. Seit er keine Rivalität bei der Zeitung mehr von ihm zu fürchten brauchte, da ihre Thätigkeit sich gar nicht berührte, hatte er für den jungen Mann eine Art von väterlichem Wohlwollen angenommen.
– Nun Sie begleiten mich doch ein Stück?
Duroy antwortete:
– Aber gewiß, mit Freude!
Und sie schritten langsam den Boulevard Malesherbes hinab.
Paris war beinahe ausgestorben diese Nacht. Es war kalt, eine jener Nächte wo man meinen könnte, alles wäre weiter, größer, wo die Sterne höher stehen, wo die Luft in ihrem eisigen Hauch etwas daher zu tragen scheint, das noch weiter her kommt, als von den Gestirnen. Im ersten Augenblick sprachen die beiden Männer nichts.
Dann meinte Duroy, um etwas zu sagen:
– Dieser Herr Laroche-Mathieu scheint sehr gescheit und unterrichtet zu sein.
Der alte Dichter brummte:
– So, finden Sie?
Der junge Mann hielt erstaunt inne:
– Nun ja, er gilt doch auch für einen der fähigsten Leute in der Kammer.
– Das kann sein. Unter den Blinden ist der Einäugige König. Wissen Sie, alle diese Leute sind ziemlich mittelmäßige Genossen; weil sie alle zwischen zwei Mauern verrannt sind – Geld und Politik! Es sind alte Pedanten, lieber Freund, mit denen man über nichts sprechen kann, über nichts was uns interessiert. Ihr Verstand ist ganz festgetrocknet oder vielmehr versumpft, wie die Seine bei Asnières.
Ach es ist ja so schwer einen Menschen zu finden, der etwas weitere Begriffe hat, bei dem man so das Gefühl einer frischen Seebrise empfindet. Ich habe einige wenige gekannt, die sind aber tot.
Norbert von Varenne sprach mit klarer aber verhaltener Stimme, die man weiter vernommen hätte im Schweigen der Nacht, hätte er sie nicht etwas gedämpft.
Er schien traurig, von einer jener traurigen Stimmungen befallen, die manchmal die Seele ergreifen, daß sie zittert, wie die Erde unter dem Frost.
Er sagte:
– Aber es kommt schließlich nicht darauf an, ob einer etwas mehr oder weniger Geist hat. Es geht ja doch alles zu Grunde.
Und er schwieg.
Duroy, der den Abend in guter Laune war, meinte lächelnd:
– Sie sehen ja recht schwarz, verehrter Meister.
Der Dichter entgegnete:
– Das thue ich immer, liebes Kind. Und in ein paar Jahren thun Sie es auch. Das Leben ist wie ein Berg, den man ersteigen muß. So lange man den Gipfel schaut, fühlt man sich glücklich. Aber wenn man oben angekommen ist, sieht man vor sich das Ende, den Tod. Langsam geht man den Weg hinauf, aber schnell geht man ihn hinab. In Ihrem Alter erscheint alles rosig. Man hofft noch so viel, was man übrigens niemals erreicht. In meinem hofft man nichts mehr . . . als den Tod.
Duroy fing an zu lachen.
– Verflucht, dabei läuft's einem ja ganz kalt über den Rücken.
Norbert von Varenne fuhr fort:
– Nein, wissen Sie, heute verstehen Sie mich nicht, aber Sie werden sich später noch einmal an dies Gespräch erinnern.
Sehen Sie, der Tag kommt, und für viele kommt er bald, wo Spiel und Tanz vorbei ist, wie man sagt, weil man hinter allem, was man sieht, den Tod erblickt.
Ach, Sie verstehen ja nicht einmal das Wort Tod, in Ihrem Alter bedeutet es nichts, in meinem ist es furchtbar.
Plötzlich begreift man. Man weiß nicht warum und weshalb. Aber mit einem Schlage gewinnt alles ein anderes Gesicht im Leben. Ich fühle den Tod seit fünfzehn Jahren in mir arbeiten gleich einem Tier, das an mir frißt. Ich habe ihn allmählich gefühlt, Monat für Monat, Stunde für Stunde, mich unterwühlen wie ein Haus, das bald einstürzen wird. Er hat mich so verändert, daß ich mich nicht wiedererkenne. Von dem lebenstrahlendsten, frischesten, kräftigsten Menschen, der ich mit dreißig Jahren war, ist nichts übrig geblieben. Ich habe ihn mein schwarzes Haar weiß färben sehen und mit welch schlauer boshafter Langsamkeit, ach Gott! Er hat mir die Straffheit der Haut, die Festigkeit der Muskeln, meine Zähne, meinen ganzen Körper, wie er einst war, genommen und ließ mir nur eine verzweifelte Seele, die er bald auch rauben wird.
Der Lump hat mich zerbröckelt, hat sachte und fürchterlich Sekunde um Sekunde mein ganzes Sein zerstört, und jetzt fühle ich in allem, was ich thue – den Tod. Jede Stunde bringt mich ihm näher, jede Bewegung, jeder Hauch arbeitet an seinem furchtbaren Werk. Atmen, schlafen, trinken, essen, arbeiten, träumen, all unsre Thätigkeit bedeutet Tod, kurz – leben, heißt sterben.
O, Sie werden das noch empfinden. Wenn Sie nur einmal eine Viertelstunde darüber nachdenken, spüren Sie den Hauch davon. Was erstreben, was erwarten Sie? Liebe? Noch ein paar Küsse, und Sie können nicht mehr.
Oder Geld? Wozu? Um Weiber zu bezahlen? Ein schönes Glück! Um viel zu essen? Um fett zu werden, und dann zu schreien beim Reißen der Gicht? Und was dann? Ruhm? Was kann der helfen, wenn wir ihn nicht mehr einheimsen können in Gestalt von Liebe?
Und dann? Immer wieder der Tod, am Ende aller Enden. Ich sehe ihn jetzt oft so nahe vor mir, daß es mir ist, als müßte ich die Hände abwehrend ausstrecken, um ihn von mir zu stoßen. Er beherrscht den ganzen Erdenkreis, den Weltenraum. Ich sehe ihn überall; irgend ein armseliger zertretener Wurm auf der Straße, der Blätterfall, ein weißes Haar im Bart des Freundes, alles zerfrißt mir das Herz und ruft mir zu: das ist er!
Er verbittert mir alles, was ich thue, alles was ich sehe, was ich esse und trinke, was ich liebe, Mondschein wie Sonnenaufgang, das weite Meer, die schönsten Flußgestade, die mildeste Luft am schönen Sommerabend.
Er ging langsam dahin, ein wenig außer Atem und träumte ganz laut, als vergesse er fast, daß man ihm zuhörte. Und er fuhr fort:
– Nie ist noch ein Wesen wiedergekehrt. Die Form, in der man eine Bildsäule gießt – bleibt, jeder Stempel bleibt zu neuem Abdruck; aber mein Leib, mein Gesicht, meine Gedanken, mein Hoffen und Sehnen kehrt nie wieder. Und doch werden Millionen und Milliarden von Wesen kommen, die an derselben Stelle Nase, Augen, Stirn und Wangen und einen Mund haben werden wie ich, sogar eine Seele wie ich, ohne daß ich doch je wiederkehre, ohne daß sogar irgend etwas, woran man mich erkennt, in den unzähligen verschiedenen Geschöpfen wiederkehrt, die alle ganz verschieden sind, wenn sie sich auch ein wenig ähnlich sehen.
An was sollen wir uns halten? Zu wem rufen in unsrer Angst und Not, woran glauben?
Alle Religionen mit ihrer kindlichen Moral, mit ihren eigensüchtigen und darum thörichten Versprechungen, sind albern.
Nur der Tod ist gewiß . . . . . .
Er blieb stehen und faßte Duroy an den beiden Aufschlägen des Ueberziehers, indem er langsam sagte:
– Junger Mann, denken Sie an das alles, denken Sie daran Tage, Wochen, Jahre hindurch, und Sie werden das Dasein mit anderen Augen ansehen.
Versuchen Sie einmal, sich loszumachen von allem, was uns umschließt. Versuchen Sie einmal mit übermenschlicher Kraft, während Sie doch leben, aus Ihrer Haut zu fahren, aus Ihren Interessen, Ihren Gedanken, aus der ganzen Menschheit, um sich anderwärts umzuthun. Dann werden Sie begreifen, wie lächerlich winzig der Streit ist zwischen Romantikern und Naturalisten, oder der Streit um das Budget.
Etwas schneller ging er wieder weiter:
– Aber Sie werden auch die furchtbare Traurigkeit der Verzweiflung erkennen, Sie werden sich wehren dagegen, versunken, verloren in der Ungewißheit. Um Hilfe werden Sie rufen, und keine Stimme antwortet. Sie strecken die Arme aus und schreien nach einer Seele, die Ihnen helfen soll, Sie lieben, trösten und retten, aber keine Antwort – keine Antwort!
Und warum leiden wir so? Wahrscheinlich weil wir geboren sind, um mehr der Materie und weniger dem Geist entsprechend zu leben. Aber Kraft unseres Denkens, hat sich eine Kluft aufgethan zwischen unsrer erweiterten Erkenntnis und den unerschütterlichen Gesetzen unsres Daseins.
Sehen Sie sich einmal den Durchschnittsmenschen an. Wenn ihn nicht gerade irgend ein großes Unglück trifft, ist er zufrieden, und fühlt nichts von der Menschheit ganzem Jammer. Das Tier fühlt ihn ja auch nicht . . . . .
Er blieb noch einmal stehen, dachte ein paar Sekunden nach und sagte dann lässig, wie ergeben in sein Schicksal:
– Ich bin ein verlorenes Wesen, ich habe keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder, keine Schwester, keine Frau, keine Kinder, keinen Gott.
Und er fügte nach kurzer Pause hinzu:
– Ich habe nichts, als die Poesie.
Dann hob er die Äugen zum Himmel auf, wo der Vollmond stand in fahlem Schein, und sprach die Verse:
Wo droben schwimmt ein bleicher Stern
Einsam am weiten Himmelszelt,
Sucht' ich die Lösung, ach so gern
Vom dunklen Rätsel dieser Welt.
Sie kamen an die Konkordienbrücke, überschritten sie schweigend und gingen dann am Palais Bourbon entlang. Norbert von Varenne fing wieder an zu sprechen:
– Heiraten Sie, lieber Freund, Sie wissen nicht, was es heißt, in meinem Alter allein zu sein. Die Einsamkeit erfüllt mich heute mit furchtbarem Entsetzen. Die Einsamkeit in meiner Wohnung: wenn ich abends am Kamin sitze, ist es mir, als wäre ich ganz allein auf dieser Erde, ganz allein. Aber es umgeben mich allerlei Gefahren, fürchterliche Dinge, die ich nicht kenne. Die Wand, die mich von meinem Nachbar, den ich nicht kenne, trennt, rückt ihn für mich ebensoweit wie die Sterne dort oben, die ich von meinem Fenster aus erblicke. Eine Art Fieber überfällt mich, ein Fieber vor Schmerz und Angst, und bei der Stille in meinen Räumen packt mich das Entsetzen. Das Schweigen eines Zimmers, in dem man allein lebt, ist so tief und traurig, es ist nicht bloß ein Schweigen um unseren Körper herum, sondern ein Schweigen um unsere Seele. Und wenn ein Möbel knackt, fährt man zusammen bis ins innerste Herz, denn in diesem toten Heim erwartet man ja keinen Laut.
Er schwieg noch einmal und fuhr dann fort:
– Wenn man alt ist, wäre es doch noch das beste, Kinder zu haben.
Sie waren die Rue de Bourgogne zur Hälfte hinuntergeschritten. Der Dichter blieb vor einem hohen Hause stehen, klingelte, drückte Duroy die Hand und sagte:
– Mein lieber Freund, vergessen Sie all das Gewäsch eines alten Mannes und leben Sie, wie es Ihre Jugend verlangt. Adieu!
Und er verschwand im Dunkel des Flurs.
Duroy ging mit gepreßtem Herzen weiter. Es war ihm, als hätte man ihm eine offene Grube voll Knochen und Gerippen gezeigt, einen Abgrund, dem auch er entgegenging, in den auch er eines Tages stürzen würde, und er brummte:
– Verflucht nochmal, das muß nicht zum Totlachen bei ihm sein. Ich möchte nicht gerade im Theater sitzen, wenn seine Ideen über die Bühne gehen. Gott verdamm' mich!
Er war stehen geblieben, um eine parfümierte Dame vorüberzulassen, die aus ihrem Wagen stieg und in ihr Haus ging; und nun sog er gierig den Geruch von Verbenen und Iris ein, der ihr folgte. Seine Lungen, sein Herz zitterten plötzlich vor Hoffnung und Freude, und mit einem Mal überkam ihn der Gedanke an Frau von Marelle, die er am nächsten Tage wiedersehen sollte.
Alles lächelte ihm entgegen. Das Leben nahm ihn zärtlich auf. Wie schön war es, daß seine Träume in Erfüllung gingen.
Mit dem Gedanken schlief er ein und erhob sich zeitig, um noch einen Spaziergang in der Avenue du Bois de Bologne zu machen, ehe er sich zu seinem Stelldichein begab.
Da sich der Wind gedreht hatte, war das Wetter während der Nacht milder geworden. Die Luft war lau, und die Sonne schien wie im April.
An diesem Morgen hatten sich alle ständigen Besucher des Bois, der freundlichen Lockung des schönen Wetters folgend, draußen zusammengefunden.
Duroy ging langsam und sog die leichte, köstliche Luft ein, wie einen Leckerbissen, den der Frühling bot. Am Arc de Triomphe vorüber schritt er die große Allee hinunter, auf der dem Reitweg gegenüberliegenden Seite. Er blickte den vorübertrabenden oder galoppierenden Herren und Damen, den Reichen dieser Erde nach, und beneidete sie eigentlich kaum. Er wußte von beinahe allen die Namen, wußte wie viel Geld sie hatten und kannte die Heimlichkeiten ihres Lebens, da sein Beruf ihn tiefe Blicke hatte thun lassen in das Dasein der Berühmtheiten und in alle Pariser Skandalgeschichten.
Reiterinnen kamen vorbei, schlank, in dunklen Reitkleidern, mit jenem stolzen, unnahbaren Blick, den viele Frauen zu Pferde haben. Und Duroy machte es Spaß, halblaut, wie die Litanei in der Kirche, Namen, Titel und Eigenschaften der Liebhaber, die sie gehabt hatten, oder die man ihnen nachsagte, für sich aufzuzählen. Und manchmal sogar statt:
Baron de Tanquelet
Prinz de la Tour-Enguerrand.
murmelte er:
– Fraction »Lesbos«.
Luise Michot vom Vaudeville
Rosa Marquetin von der Oper.
Dies Spiel machte ihm Spaß, als ob er unter dem strengen, äußeren Schein die sich überall wiederholende tiefe Gemeinheit des Menschen erkannt, und als ob ihn das freute, ihn erregte und tröstete.
Dann sagte er laut: »Heuchlerbande«, und spähte nach den Reitern, über die am meisten erzählt ward.
Er sah eine Menge, die im Verdacht standen falsch zu spielen, und für die die Clubs die große Geldquelle waren, die einzige Quelle und jedenfalls eine ziemlich verdächtige.
Dieser bekannte Mann da lebte nur vom Gelde seiner Frau, wie allgemein bekannt. Jener wie man behauptete vom Geld seiner Maitresse. Der da hatte seine Schulden bezahlt – was ja sonst ganz ehrenhaft – ohne daß man je hätte herausbringen können, woher er eigentlich das erforderliche Geld gekriegt hatte.
Er sah Herren der Groß-Finanz, deren riesiges Vermögen von einem Diebstahl stammte, die man aber überall empfing, auch in den besten Häusern, und dann Männer, die sogar allgemeine Achtung genossen, so daß der kleine Mann, der ihnen begegnete, die Mütze zog, aber deren unverfrorene Finanzoperationen bei großen, nationalen Unternehmungen keinem unbekannt waren, der nur ein wenig tiefer blickte.
Alle sahen stolz drein, blickten frech um sich, die mit Vollbart, wie die mit Schnurrbart.
Duroy lächelte vor sich hin und sagte sich: – Eine nette Gesellschaft, verfluchtes Gesindel.
Da kam ein offener reizender, niedriger Wagen vorüber, im schlanken Trabe von zwei kleinen Schimmeln gezogen, deren Mähne und Schwanz flatterten. Eine junge, blonde Dame kutschierte, eine bekannte Halbweltlerin, zwei Diener saßen hinten auf. Duroy blieb stehen. Er hatte Lust zu grüßen, um diesem Emporkömmling der Liebe, der unverschämt, öffentlich, frech den Luxus, den er sich auf der Matratze verdient, zeigte, seinen Beifall zu bezeugen.
Vielleicht hatte er ein unbestimmtes Gefühl, als ob zwischen ihnen etwas Gemeinsames wäre, ein natürliches Band, als wären er und sie von der gleichen Art und Rasse, er der seine Erfolge einem ähnlichen dreisten Vorgehen zu verdanken hatte.
Er kehrte langsam zurück, er fühlte sich befriedigt, und er kam etwas vor der Zeit an das Haus der ehemaligen Geliebten.
Sie empfing ihn mit einem Kuß, als ob sie nie miteinander gebrochen hätten, und vergaß sogar ein paar Augenblicke die Vorsicht, die sie sonst zu Haus bei ihren Liebkosungen walten ließ. Dann küßte sie die gekräuselten Schnurrbartspitzen und sagte:
– Nein, denke Dir bloß mal, Herzchen, was mir passiert ist, ich hoffte wir würden einen schönen Honigmond haben, da kommt plötzlich mein Mann auf sechs Wochen. Er hat Urlaub genommen. Aber ich muß Dich sehen in den sechs Wochen, vor allem nach unserem kleinen Zerwürfnis, und da habe ich mir etwas ausgedacht. Du wirst Montag zu Tisch eingeladen, ich habe ihm schon von Dir erzählt. Ich stelle Dich vor.
Duroy zögerte ein wenig verlegen, denn er hatte noch nie einem Manne gegenüber gestanden, mit dessen Frau er intim verkehrte. Er fürchtete, er möchte sich durch etwas verraten, vielleicht durch Befangenheit, durch einen Blick, durch irgend etwas, und er stammelte:
– Nein, ich möchte lieber Deinen Mann nicht kennen lernen.
Sie war sehr erstaunt, blieb aber bei ihrem Wunsch, indem sie sich vor ihn hinstellte und ihn mit großen Augen naiv anblickte:
– Aber warum denn nicht? Das ist zu albern! Das kommt doch alle Tage vor. Ich hätte Dich nicht für so thöricht gehalten.
Duroy war beleidigt:
– Gut, ich komme Montag zum Essen.
Sie fügte noch hinzu:
– Damit es nicht auffällt, sollen Forestiers auch da sein. Du weißt, ich liebe es sonst nicht, jemand bei mir zu sehen.
Duroy dachte bis zum Montag nicht wieder an diese Begegnung; aber als er die Treppe zu Frau von Marelle hinaufstieg, war er doch etwas erregt, nicht etwa, weil er sich schämte die Hand des Gemahls zu nehmen, seinen Wein zu trinken und sein Brot zu essen, sondern er hatte eine unbestimmte Angst vor etwas, er wußte nur nicht wovor.
Man ließ ihn in den Salon treten und er wartete wie immer.
Da öffnete sich die Thür des Zimmers, und er erblickte einen großen Herrn mit weißem Bart, ein Ordensbändchen im Knopfloch, sehr würdig, der ihm artig entgegen kam mit den Worten:
– Meine Frau hat mir oft von Ihnen erzählt und es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.
Duroy ging ihm entgegen und versuchte sich besonders liebenswürdig zu geben. Er drückte übertrieben heftig die entgegengestreckte Hand seines Wirtes, dann setzten sie sich, aber er wußte nicht was er sagen sollte.
Herr von Marelle warf ein Stück Holz ins Feuer des Kamins und fragte:
– Sind Sie schon lange Journalist?
Duroy antwortete:
– Erst seit ein paar Monaten.
– O, dann haben Sie aber schnell Carrière gemacht.
– Ja, sehr schnell; – und er redete drauf los ohne weiter zu überlegen, was er eigentlich sprach. Es fielen all die banalen Redensarten, die zwischen zwei Menschen gemacht werden, die sich nicht kennen. Allmählich ward er sicherer und fing an seine Lage ganz spaßhaft zu finden. Er sah das würdige, ernste Gesicht des Herrn von Marelle, und ihn kam die Lust an zu lachen, indem er dachte: Na, mein Alter, Dir hab' ich aber tüchtige Hörner aufgesetzt. Eine heimliche, niederträchtige Befriedigung durchströmte ihn, wie etwa ein Dieb sich freut, dem sein Diebstahl geglückt ist, ohne daß man ihn in Verdacht hat. Ein köstliche, schurkische Freude! Er empfand plötzlich die Lust, Freund dieses Mannes zu werden, sein Vertrauen zu gewinnen, und ihm allerlei Intimitäten seines Lebens zu entlocken.
Frau von Marelle trat plötzlich herein, und nachdem sie Duroy lächelnd und undurchdringlich angeblickt, ging sie auf ihn zu, der angesichts des Mannes nicht wagte, ihr die Hand zu küssen, wie er sonst immer that.
Sie war ruhig und heiter, wie jemand der sich in alles schickt und der diese Begegnung ganz natürlich findet. Die kleine Laura erschien und kam auf Georg zu, um ihm artig wie sonst die Stirn zum Kuß zu bieten. Die Gegenwart des Vaters machte sie befangen. Die Mutter sagte:
– Nun, nennst Du ihn denn heute nicht mehr Liebling?
Das Kind ward rot, als wäre der Ausdruck eine große Indiskretion, als hätte die Mutter den Schleier gezogen von einem intimen und ein wenig strafbaren Geheimnis ihrer Brust.
Als Forestiers erschienen, war man erschrocken über Karls Aussehen; er war binnen einer Woche entsetzlich mager und bleich geworden und hustete ununterbrochen. Übrigens erzählte er: Kommenden Donnerstag würden sie auf dringende Anordnung des Arztes nach Cannes reisen. Sie gingen zeitig und Duroy sagte kopfschüttelnd:
– Ich glaube, der wird's nicht lange mehr machen.
Frau von Marelle bestätigte ernst:
– Ja, der ist verloren. Der hat mal Glück gehabt mit seiner Frau.
Duroy fragte:
– Hilft sie ihm viel?
– Nun sie macht eigentlich alles. Sie weiß überall Bescheid, sie kennt jeden Menschen ohne so zu thun, als bemerke sie jemanden, sie kriegt fertig was sie will, wie sie es will, wann sie will. O, die ist schlauer, geschickter, intriguanter als irgend eine; die ist ein wahrer Fund für jemand, der vorwärts kommen will.
Georg fragte:
– Sie wird sich wohl bald wieder verheiraten?
Frau von Marelle antwortete:
– Gewiß, ich würde mich garnicht wundern, wenn sie schon jemand in Aussicht hätte. Einen Abgeordneten . . . das heißt . . . . vorausgesetzt, daß er will . . . . denn . . . . denn . . . . . denn es könnte vielleicht ein großes Hindernis, ein . . . . . ein moralisches . . . . . nun, kurz, ich weiß nichts . . .
Herr von Marelle brummte mit leiser Ungeduld:
– Du läßt immer eine Menge Dinge ahnen, die ich nicht mag. Wir wollen uns doch nicht um anderer Leute Angelegenheiten kümmern. Unser Gewissen soll die einzige Richtschnur für uns sein. Und sollte es für jeden sein.
Duroy ging unruhigen Geistes und Herzens, und allerlei unbestimmte Pläne tauchten in ihm auf.
Am nächsten Tage machte er Forestiers einen Besuch, und er fand sie beim Packen. Karl lag auf dem Sofa, that als könnte er gar keine Luft bekommen und sagte:
– Ich hätte seit vier Wochen schon fortgemußt.
Dann trug er Duroy eine Menge Dinge auf für die Zeitung, obgleich alles schon mit Herrn Walter geordnet und abgemacht war.
Als Georg ging, drückte er seinem Kollegen kräftig die Hand.
– Na mein Alter, auf baldiges Wiedersehen!
Aber als Frau Forestier Duroy bis zur Thür brachte, sagte er lebhaft:
– Sie haben doch unsern Pakt nicht vergessen? Wir sind Freunde, unverändert, nicht wahr? Wenn Sie mich also in irgend etwas brauchen, zögern Sie nicht, Telegramm oder Brief, ich thue was Sie wollen.
Sie flüsterte:
– Tausend Dank, ich werde daran denken.
Und auch ihr Auge schien ihm tiefen und süßen Dank zu sagen.
Als Duroy die Treppe hinabging, begegnete ihm Graf Baudrec, der langsam heraufkam und den er schon einmal bei ihr getroffen. Der Graf schien traurig zu sein, vielleicht wegen ihrer Abreise?
Duroy wollte sich als Mann von Welt zeigen und grüßte überaus artig.
Der andere gab den Gruß höflich, aber doch ein wenig stolz zurück.
Das Ehepaar Forestier reiste Donnerstag abend ab.