Guy de Maupassant
Der Liebling
Guy de Maupassant

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IX

Ein Vierteljahr war vergangen. Du Roys Scheidung eben ausgesprochen. Seine Frau hatte den Namen Forestier wieder angenommen, und da Walters am 15. Juli nach Trouville gehen wollten, kam man überein vor der Trennung noch eine Landpartie zu machen.

Ein Donnerstag wurde bestimmt, und schon neun Uhr morgens ging es fort mit einer Mail-coach zu sechs Plätzen, vier Pferden davor.

Im Pavillon Heinrich IV. in Saint-Germain wurde gefrühstückt. Der Liebling hatte gebeten, als einziger Herr teilnehmen zu dürfen, denn er konnte Gesicht und Gegenwart des Marquis von Cazolles nicht ertragen; aber im letzten Augenblick entschlossen sie sich doch noch, den Grafen Latour-Yvelin zu Hause zu überfallen und mitzunehmen, was man ihm am Abend vorher mitgeteilt hatte.

Im Trabe ging es die Avenue des Champs Elysées hinauf, dann durch das Bois de Bologne. Es war wundervolles Sommerwetter, nicht zu heiß, die Schwalben schossen am blauen Himmel in großen Bogen hin, daß man meinte sie noch zu sehen, wenn sie längst vorüber waren.

Die drei Damen saßen im Fond, die Mutter zwischen den beiden Töchtern. Ihnen gegenüber die drei Herren, Walter zwischen seinen Gästen.

Sie fuhren über die Seine, den Mont Valérien hinan, dann durch Bougival und endlich den Fluß entlang bis Pecq.

Graf Latour-Yvelin, – ein nicht mehr ganz junger Mann mit dünnem langem Backenbart, dessen Spitzen der leiseste Wind bewegte, sodaß Du Roy sagte:

– Der Wind im Bart steht ihm ganz gut!

Er betrachtete zärtlich Rosa.

Seit vier Wochen waren sie verlobt.

Georg war sehr bleich und blickte oft Susanne an, die ebenso bleich war wie er. Ihre Augen trafen sich und schienen sich Mut zuzusprechen, sich zu verstehen, geheime Gedanken zu wechseln und einander wieder zu fliehen. Frau Walter war ruhig und glücklich.

Das Frühstück dauerte lange. Ehe sie nach Paris zurück fuhren, schlug Georg vor, nochmals auf die Terrasse zu gehen.

Zuerst blieben sie stehen der Aussicht wegen, sie stellten sich alle neben einander an die Mauer und begeisterten sich an dem Blick. Zu Füßen eines langen Höhenzuges wand sich die Seine wie eine lange Schlange im Grünen nach Maison-Laffitte; rechts auf der Höhe hob sich der Viaduct von Marly am Himmel mit seinem Riesenbogen ab, wie eine Raupe mit langen Füßen, und darunter lag Marly im dichten Laub der Bäume verborgen.

In der weiten Ebene, die sich gegenüber erstreckte, erblickte man hier und da Dörfer. Die Teiche von Vesinet zeichneten sich als glatte Flecken ab, aus der dichten Belaubung des kleinen Wäldchens; links lugte ganz in der Ferne der spitze Kirchturm von Sartrouville.

Walter meinte:

– So ein Panorama giebt es auf der ganzen Welt nicht wieder, nicht einmal in der Schweiz!

Dann begannen sie langsam spazieren zu gehen, um die Aussicht zu genießen. Georg und Susanne blieben zurück.

Sobald sie ein paar Schritte entfernt waren, sagte er zu ihr leise mit verhaltener Stimme:

– Susanne ich liebe Sie, ich liebe Sie zum wahnsinnig werden.

Sie flüsterte:

– Ich auch, Liebling!

Er sagte:

– Wenn ich Sie nicht zur Frau bekomme, verlasse ich Paris, verlasse ich Frankreich.

Sie antwortete:

– Versuchen Sie doch bei Papa um mich anzuhalten. Vielleicht sagt er ja.

Er machte eine ungeduldige Bewegung:

– Nein, ich sage Ihnen zum zehnten Mal, das ist ganz unnütz, mir würde nur das Haus verboten werden, ich würde aus der Zeitung entfernt, und wir könnten uns nicht einmal mehr sehen. Wenn ich regelrecht anhalte, ist das die sichere Folge. Sie sind dem Marquis Cazolles zugesagt, man hofft, daß Sie doch noch mal ›ja‹ sagen werden, und man wartet.

Sie fragte:

– Was sollen wir denn thun?

Er zögerte und blickte sie von der Seite an:

– Lieben Sie mich genug um eine große Verrücktheit zu begehen?

Sie antwortete entschlossen:

– Ja!

– Ein ganz große Verrücktheit?

– Ja

– Das ärgste, was Sie thun könnten?

– Ja!

– Wirklich?

– Ja!

– Nun, ein Mittel giebt es, nur eins! Sie müssen die Sache machen, nicht ich. Sie sind ein verwöhntes Kind, Sie dürfen alles, und wenn Sie etwas wagen, wird das Erstaunen nicht allzu groß sein. Hören Sie also: Heute abend, wenn Sie nach Hause kommen, suchen Sie Ihre Mutter auf, aber zuerst Ihre Mutter ganz allein, und gestehen ihr, daß Sie mich heiraten wollen. Sie wird sehr erzürnt sein und in fürchterliche Wut geraten.

Susanne antwortete ihm:

– Ach, Mama wird schon wollen.

Er gab lebhaft zurück:

– Nein! Sie kennen sie nicht. Sie wird viel wütender sein, als Ihr Vater, passen Sie mal auf, wie sie sich sträuben wird! Aber Sie dürfen nicht locker lassen, sich nicht werfen lassen, Sie müssen immer wiederholen, daß Sie mich heiraten wollen, nur mich und keinen andern. Wollen Sie das thun?

– Ich werde es thun!

– Und nachdem Sie bei Ihrer Mutter gewesen sind, sagen Sie es auch Ihrem Vater, ganz ernst und sehr entschieden.

– Ja, ja! Und dann?

– Ja und dann wird die Sache eklig! Wenn Sie ganz entschlossen sind, wirklich, ganz, ganz entschlossen, meine Frau zu werden, meine liebe, kleine Susanne, dann werde ich Sie entführen!

Sie klatschte vor Vergnügen in die Hände.

– Ach, wie hübsch! Sie wollen mich entführen! Wann werden Sie mich denn entführen?

Die ganze Poesie vergangener Tage, wie sie in nächtlichen Entführungen, in Postkutschen und Dorfherbergen und romantischen Abenteuern sich in den Romanen spiegelt, tauchte vor ihr auf, wie ein herrlicher Traum, der zur Wirklichkeit werden sollte. Und sie fragte noch einmal:

– Wann werden Sie mich entführen?

Ganz leise antwortete er:

– Nun, heute abend! Diese Nacht!

Sie fragte zitternd:

– Und wo gehen wir denn hin?

– Das ist mein Geheimnis, überlegen Sie sich wohl, was Sie thun! Bedenken Sie, daß Sie nach dieser Flucht meine Frau werden müssen. Das ist das einzig mögliche Mittel und das ist . . . sehr gefährlich . . . für Sie!

Sie erklärte:

– Ich bin entschlossen . . . und wo soll ich Sie treffen?

– Können Sie allein das Palais verlassen?

– Ja wohl! Ich kann durch die kleine Thür.

– Nun gut! Wenn der Portier zu Bett gegangen ist, so gegen Mitternacht, dann kommen Sie auf den Konkordienplatz. Ich warte in einer Droschke, gerade dem Marineministerium gegenüber.

– Ich komme!

– Ist es auch sicher?

– Ganz sicher!

Er nahm ihre Hand und drückte sie:

– Ach ich liebe Sie, Sie sind so gut und tapfer! Also, Sie wollen Cazolles nicht heiraten?

– Nein, nein!

– War Ihr Vater sehr böse, als Sie nein sagten?

– Natürlich! Er wollte mich ins Kloster stecken!

– Ja, sehen Sie also ein, daß wir energisch sein müssen?

– Ich werde es sein!

Sie blickte in die Weite, ganz erfüllt von dem Gedanken an die Entführung. Sie würde weiter fort gehen als dort, wohin der Blick reichte. Mit ihm! Sie sollte entführt werden! Sie war ganz stolz darauf. Sie dachte gar nicht an ihren Ruf oder was ihr Schlimmes zustoßen könnte. Wußte sie es? Ahnte sie es überhaupt?

Frau Walter drehte sich um und rief:

– Na komm doch. Kleine, was hast Du denn mit dem Liebling?

Sie holten die andern ein, man sprach von dem Seebade, wo sie bald sein würden.

Dann ging es über Chatou heim, um nicht denselben Weg zurück zu kehren.

Georg sprach nicht mehr, er dachte:

– Wenn die Kleine also nur ein bißchen Mut hat, wird die Geschichte klappen.

Seit drei Monaten umspann er sie mit seiner unwiderstehlichen Zärtlichkeit, er verführte sie, schlich sich in ihre Seele und machte sie sich ganz zu eigen. Er hatte ihre Liebe gewonnen, wie nur er es konnte! Ihre kleine Puppenseele zu erobern war ihm nicht schwer geworden.

Zuerst hatte er erreicht, daß sie Cazolles einen Korb gab, und eben hatte er es fertig gebracht, daß sie einwilligte mit ihm zu fliehen, denn ein anderes Mittel gab es nicht.

Frau Walter, das wußte er wohl, würde nie ihre Zustimmung geben, daß er ihre Tochter heiratete. Sie liebte ihn noch und würde ihn mit der gleichen Glut weiter lieben. Er hielt sie durch seine berechnete Kälte im Bann, aber er wußte, welch' ohnmächtige wilde Leidenschaft in ihr tobte. Die konnte er nie gewinnen, nie würde sie zugeben, daß er Susanne bekäme.

Aber, wenn er die Kleine erst einmal in seiner Macht hatte, dann konnte er mit dem Vater als Gleichstehender unterhandeln. Indem er sich alles das überlegte, antwortete er, wenn man ihn anredete, mit zusammenhangslosen Worten und hörte kaum zu.

Als sie nach Paris zurück kamen, schien er wieder zu erwachen.

Susanne war auch in Gedanken. In ihrem Kopf klingelten die Schellen der vier Postpferde, und im Geiste sah sie unendliche Landstraßen in ewigem Mondenschein vor sich liegen, dunkle Wälder, durch die sie fuhren, Wirtshäuser am Wegesrand und die Eilfertigkeit der Stallleute beim Wechseln der Pferde, denn natürlich ahnten alle, daß sie verfolgt würden.

Als die Coach im Hofe des Palais hielt, wollte man Georg zum Essen behalten. Er lehnte ab und kehrte nach Hause zurück. Nachdem er etwas gegessen, begann er seine Papiere zu ordnen, wie vor einer großen Reise. Er verbrannte kompromitierende Briefe, versteckte andere und schrieb an ein paar Freunde.

Von Zeit zu Zeit sah er nach der Uhr und dachte:

– Na, jetzt raucht es bei denen – und eine große Unruhe kam über ihn. Wenn der Coup nun mißglückte! Aber was konnte er fürchten? Er würde die Sache schon machen, und doch spielte er heute abend ein gewagtes Spiel.

Gegen elf Uhr ging er wieder aus, irrte eine Zeit lang umher, nahm dann eine Droschke, fuhr zum Konkordienplatz und ließ an den Arkaden des Marineministeriums halten.

Ab und zu zündete er ein Streichholz an, um nach der Uhr zu sehen. Als Mitternacht nahe, war seine Unruhe fieberhaft, alle Augenblicke sah er aus dem Fenster.

In der Ferne schlug eine Uhr zwölf Mal, dann eine andere näher, darauf zwei zu gleicher Zeit, endlich wieder eine sehr entfernt. Als der letzte Ton verklungen war, dachte er:

– Nun ist es aus, jetzt ist alles futsch, sie kommt nicht!

Aber er war entschlossen bis Tagesanbruch zu warten. In solchen Fällen muß man Geduld haben. Er hörte wie es ein viertel schlug, dann halb, dann dreiviertel. Und die Uhren schlugen wieder alle eins, wie sie vorhin die Mitternacht verkündet.

Er erwartete sie nicht mehr, er blieb sitzen und zerbrach sich den Kopf, was nur hatte passieren können. Da erschien plötzlich ein Frauenkopf am Fenster und fragte:

– Liebling, sind Sie's?

Er fuhr auf und rang nach Atem:

– Sind Sie's Susanne?

– Ja, ich bin es!

Er konnte nicht schnell genug öffnen und sagte noch einmal:

– Ah, Sie? Sie? Schnell kommen Sie.

Sie stieg ein und fiel ihm in die Arme. Er rief dem Kutscher zu:

– Fort!

Und die Droschke fuhr davon.

Susanne war außer Atem und konnte nicht sprechen. Er fragte:

– Nun wie ist es denn gegangen?

Da flüsterte sie fast ohnmächtig werdend:

– Ach das war furchtbar, vor allem bei Mama.

Er ward unruhig:

– Was, was hat denn Mama gesagt? Erzählen Sie mir.

– Das war furchtbar! Ich bin zu ihr gekommen und habe ihr meine kleine Geschichte erzählt, genau so, wie ich sie mir überlegt hatte. Da ward sie bleich und schrie laut auf: »Niemals, niemals!« . . Ich habe geheult, bin wütend geworden und habe geschworen, daß ich niemand anders heiraten würde als Sie. Ich dachte, sie würde mich schlagen, denn sie war wie verrückt und sie hat gesagt, ich würde morgen ins Kloster gesteckt werden. So habe ich sie noch nie gesehen, noch niemals. Dann kam Papa, weil er sie so schimpfen hörte. Er war nicht so böse wie sie, aber er hat gesagt, Sie wären keine Partie, die gut genug für mich sei!

Da ich aber auch wütend war, schrie ich noch mehr wie sie, und Papa befahl mir, hinaus zu gehen, mit einer dramatischen Gebärde, die ihm sehr schlecht stand. Dies alles hat nur den Entschluß, mit Ihnen auszureißen in mir befestigt. Da bin ich. Wo geht es hin?

Er hatte langsam die Hand um ihre Taille gelegt und hörte klopfenden Herzens, angestrengt lauschend zu, während gegen diese Leute der Haß in seinem Herzen emporstieg. Aber die Tochter hatte er jetzt, nun sollten sie mal sehen!

Er antwortete:

– Es ist zu spät, um noch mit dem Zuge fort zu fahren. Der Wagen wird uns also nach Sèvres bringen, dort bleiben wir die Nacht und morgen fahren wir nach La Roche-Guyon. Das ist ein nettes kleines Dorf an der Seine, zwischen Mantes und Bonníères.

Sie flüsterte:

– Aber ich habe keine Kleider, ich habe nichts.

Er lächelte sorglos:

– Ach das wird sich schon dort finden.

Die Droschke fuhr immer weiter, und Georg nahm die Hand des jungen Mädchens und fing an, sie langsam und respektvoll zu küssen. Er wußte nicht, was er ihr sagen sollte, an platonische Liebe war er nicht gewöhnt. Plötzlich war es ihm, als weinte sie. Er fragte erschrocken:

– Was haben Sie denn, liebe Kleine?

Sie antwortete mit Thränen in der Stimme:

– Die arme Mama schläft jetzt nicht, wenn sie gemerkt hat, daß ich fort bin.

* * *

Ihre Mutter schlief allerdings nicht.

Sobald Susanne ihr Zimmer verlassen hatte, war Frau Walter vor ihrem Mann stehen geblieben und fragte, wie niedergedonnert:

– Mein Gott, was soll denn das bedeuten?

Walter rief wütend:

– Das soll bedeuten, daß dieser Intrigant sie rum gekriegt hat, er ist daran schuld, daß sie Cazolles nicht hat haben wollen. Er findet die Mitgift nicht übel!

Er fing an, wütend im Zimmer auf und nieder zu gehen und sagte:

– Aber Du hast ihn auch fortwährend heran gezogen, ihm geschmeichelt und schön gethan, Du konntest ihn gar nicht genug verziehen. Das war der Liebling vorn und der Liebling hinten von früh bis abends. Das hast Du nun davon!

Sie antwortete erbleichend:

– Ich ihn herangezogen?

Er brüllte sie an:

– Ja, Du! Ihr seid eine so verrückt auf ihn, wie die andere: die Marelle, Susanne und alle andern. Meinst Du denn, ich hätte nicht gemerkt, daß Du es ohne ihn gar nicht aushalten kannst?

Sie nahm eine Pose an und richtete sich empor:

– Ich erlaube Dir nicht, mit mir so zu sprechen, Du vergißt, daß ich nicht wie Du in einer Krambude groß geworden bin!

Zuerst blieb er unbeweglich, ganz paff stehen, dann brüllte er wütend:

– Gott verdamm mich! – lief hinaus und warf zornig die Thür zu.

Sobald sie allein war, trat sie mechanisch vor den Spiegel, um sich zu betrachten, als hätte sie sehen wollen, ob sich nichts an ihr verändert, so unmöglich schien ihr, was da vorging, so haarsträubend. Susanne liebte den Liebling und der Liebling wollte Susanne heiraten! Nein! Sie mußte sich geirrt haben, das konnte gar nicht sein. Das kleine Mädchen hatte nur eine ganz natürliche Neigung zu dem schönen Kerl gefaßt und hoffte, ihn zum Mann zu bekommen. Sie hatte sich ihn in den Kopf gesetzt. Aber er? Er konnte doch nicht mit ihr unter einer Decke stecken. Sie sann nach, ganz verstört, wie man bei großen Naturereignissen zu sein pflegt. Nein, der Liebling wußte nichts von Susannes tollem Streich!

Sie wog lange Zeit die Möglichkeit seiner Niederträchtigkeit oder seiner Unschuld gegen einander ab. Wenn er diese Geschichte eingefädelt hatte, war er doch ein Lump! O, was würde noch alles kommen? Welche Gefahren, welche Erschütterungen sah sie voraus!

Wenn er nichts davon wußte, dann konnte noch alles gut werden; sie würde mit Susanne ein halbes Jahr auf Reisen gehen, und alles war vergessen! Aber wie sollte sie ihn dann wiedersehen? Sie liebte ihn ja noch immer! Ihre Leidenschaft war wie einer jener Pfeile mit Widerhaken, die man nicht aus der Wunde entfernen kann. Ein Leben ohne ihn war unmöglich, dann lieber sterben!

Ihre Gedanken irrten in diesen Ängsten und Zweifeln umher, und sie bekam Kopfschmerzen, daß sie kaum mehr nachdenken konnte, daß sich ihre Sinne verwirrten. Nervös suchte sie einen Ausweg zu finden – vergebens! Sie sah nach der Uhr, es war eins vorüber, und sie sagte sich: »So halte ich es nicht aus, ich muß die Wahrheit wissen! Ich werde Susanne wecken und fragen.«

Ohne Schuh, um keinen Lärm zu machen, ein Licht in der Hand, ging sie zum Zimmer ihrer Tochter. Sie öffnete leise, trat ein und ging zum Bett. Es war unberührt. Zuerst verstand sie es gar nicht, und dachte, daß das Kind noch mit dem Vater spräche. Aber bald erwachte ein schrecklicher Argwohn in ihr, und sie lief zu ihrem Mann.

Er lag im Bett und las noch. Er fragte verstört:

– Nanu! Was hast Du denn?

Sie fragte:

– Hast Du Susanne gesehen?

– Ich? Nein! Weshalb?

– Sie ist . . . sie ist . . . fort! Sie ist nicht . . . in ihrem Zimmer!

Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, fuhr in die Pantoffeln und stürzte, ohne Unterbeinkleider, in wehendem Nachthemd zum Zimmer seiner Tochter. Sobald er hinein geblickt, hatte er keinen Zweifel mehr. Sie war entflohen. Er sank in einen Stuhl und setzte die Lampe neben sich auf die Erde. Seine Frau war ihm gefolgt und stammelte:

– Nun?

Er hatte keine Kraft mehr zu antworten, keine Wut mehr in der Stimme, er stöhnte nur:

– Vorbei! Er hat sie! Wir sind verloren!

Sie begriff nicht:

– Wieso denn, verloren?

– Na, das ist doch klar, jetzt muß er sie heiraten.

Sie schrie auf wie ein wildes Tier:

– Er? Nie! Bist Du verrückt?

Er antwortete traurig:

– Das Jammern nützt jetzt nichts mehr, er hat sie entführt und entehrt. Jetzt ist es noch das Beste, wenn er sie kriegt; wenn wir es schlau anfangen, merkt wenigstens niemand etwas davon.

Sie wiederholte, von fürchterlicher Erregung durchzuckt:

– Nie! Niemals soll er Susanne bekommen! Das erlaube ich nie!

Walter antwortete mit Mühe:

– Aber er hat sie. Nun ist alles aus. Er wird sie behalten und sie verstecken, bis wir nachgeben. Wenn wir also Skandal vermeiden wollen, müssen wir sofort nachgeben.

Die Frau wiederholte von einem Schmerz, den sie nicht eingestehn durfte, zerrissen:

– Nein, nein, das erlaube ich nie!

Er sagte ungeduldig:

– Nu, da giebt es gar nichts weiter zu reden, es muß sein! Der Lump hat uns aber reingelegt. Jedenfalls ist er ein toller Kerl! Wir hätten vielleicht einen bessern Mann finden können, aber nicht einen, der schlauer ist und eine glänzendere Carrière vor sich hat. Der ist der Mann der Zukunft! Der wird noch Abgeordneter und Minister!

Frau Walter rief mit wilder Erregung:

– Ich gebe nie zu, daß er Susanne heiratet, hörst Du, nie!

Nun ward er wütend und nahm schließlich, als praktischer Mann, sogar des Lieblings Partei:

– Aber so sei doch ruhig, ich sage Dir, es muß sein, es muß durchaus sein! Und wer weiß, am Ende bereuen wir es nicht. Mit einem Manne dieses Schlags weiß man nie, was geschehen kann. Du hast doch gesehen, wie er mit drei Artikeln diesen impertinenten Laroche-Mathieu gestürzt hat und wie er sich mit Anstand aus der Angelegenheit gezogen hat, was doch für ihn als Ehemann sehr schwierig war. Nun wir werden ja sehen. Die Hauptsache ist, wir sitzen drin und sitzen uns nicht 'raus.

Es kam ihr die Lust an zu schreien, sich auf der Erde zu wälzen, sich die Haare zu raufen, und sie sagte nochmals mit verzweifelter Stimme:

– Er wird sie nicht bekommen, ich . . . will . . . es . . . nicht!

Walter stand auf, nahm seine Lampe und sagte:

– Ach, Du bist albern, wie alle Frauenzimmer, ihr handelt immer bloß aus Leidenschaft, ihr wißt euch den Umständen nie unterzuordnen. Ihr seid dämlich. Ich sage Dir, er wird sie heiraten . . . er muß.

Und mit den Pantoffeln klappend ging er davon. Wie ein lächerliches Gespenst durchschritt er im Nachthemd den weiten Flur des schlafenden Palais und ging lautlos in sein Zimmer.

Frau Walter blieb stehen, unsäglicher Schmerz zerriß ihre Seele. Sie verstand noch immer nicht, sie litt nur. Dann war es ihr, als könne sie nicht hier bleiben, unbeweglich, bis Tagesanbruch. Sie fühlte das Bedürfnis davonzulaufen, um Rettung und Hilfe zu suchen.

Sie überlegte, wen sie sich zur Hilfe holen sollte, aber sie wußte es nicht. Einen Priester, ja einen Priester! Sie würde sich ihm zu Füßen werfen, ihm alles gestehen, in Verzweiflung beichten, und er würde es einsehen, daß dieser Elende Susanne nicht heiraten konnte und würde es hindern.

Sie mußte einen Priester haben, sofort! Aber wo sollte sie einen finden? Wohin gehen? Doch so konnte sie es nicht aushalten.

Da erschien vor ihr wie eine Vision das ernste Antlitz des Jesus auf dem Meere. Sie erblickte ihn vor sich, als sähe sie das Bild, er rief sie und sprach also zu ihr:

– Komm zu mir, kniee nieder zu meinen Füßen, ich will Dich trösten und Dir sagen, was Du zu thun hast!

Sie nahm ihr Licht und ging hinunter in das Palmenhaus. Der Jesus war ganz am Ende in einem kleinen Raum, den eine Glasthür abschloß, damit die Nässe dem Bild nicht schaden sollte. Das machte den Eindruck einer Kapelle in einem Walde seltener Bäume.

Als Frau Walter in den Wintergarten trat, den sie nur in voller Beleuchtung gesehen, war sie erschrocken über das tiefe Dunkel. Die mächtigen Pflanzen des Südens strömten berückende Düfte aus, und da die Thüren nicht mehr offen waren, konnte man in der Luft dieses seltsamen Waldes, der unter einer Glashalle verschlossen lag, nur mühsam atmen, und das Atmen berauschte, verwirrte, that wohl und weh und hatte etwas von entnervender Wollust und vom Sterben.

Die arme Frau ging in tiefer Bewegung langsam dahin durch das Dunkel, in dem beim Hin- und Herflackern des Lichtes die Pflanzen riesige Größe gewannen, wie mächtige Ungetüme, wie seltsame Verzerrungen.

Plötzlich gewahrte sie das Bild, sie öffnete die Thür, die sie von ihm trennte, und fiel auf die Kniee.

Zuerst betete sie wie wahnsinnig, stammelte Worte der Liebe, der Leidenschaft, der Verzweiflung. Als sie dann ruhiger ward, blickte sie auf und blieb erstarrt vor Angst. Beim zitternden Schein des einzigen Lichts, das nur schwach von unten auf das Jesusantlitz fiel, sah es dem Liebling so ähnlich, daß es nicht mehr der Gott war, sondern der Geliebte, der sie anblickte. Es waren seine Augen, seine Stirn, seine Züge, sein kalter hochmütiger Ausdruck.

Sie stammelte:

– Jesus, Jesus, Jesus! – Und das Wort »Georg« kam ihr auf die Lippen. Plötzlich dachte sie daran, daß in diesem Augenblick vielleicht Georg bei ihrer Tochter weilte, allein mit ihr, irgendwo in einem Zimmer. Er mit Susanne!

Sie wiederholte: »Jesus, Jesus, Jesus!« Aber sie dachte an die beiden, an ihre Tochter und ihren Geliebten. Ja, sie waren allein in einem Raum . . . und es war Nacht. Sie sah sie, sah sie so deutlich vor sich, daß sie sich hier an Stelle des Bildes vor ihr erhoben. Sie lächelten sich an, sie küßten sich, das Zimmer war dunkel, das Bett abgedeckt. Sie erhob sich, um auf sie zu zu gehen, ihre Tochter bei den Haaren zu fassen, sie dieser Umarmung zu entreißen; sie wollte sie an der Kehle packen, um sie zu würgen, ihre Tochter, die sie haßte, ihre Tochter, die sich diesem Manne überließ. Jetzt berührte sie sie, . . . ihre Hände trafen die Leinwand, heftig stieß sie gegen die Füße Christi.

Mit einem Schrei sank sie hinten über, fiel auf den Rücken und das umgestürzte Licht erlosch.

Was geschah dann? Lange träumte sie von seltsamen, schrecklichen Dingen. Immer kamen Susanne und Georg an ihr vorüber, Arm in Arm mit Jesus Christus, und er segnete ihre furchtbare Liebe.

Sie empfand, daß sie nicht in ihrem Zimmer war, sie wollte aufstehen, entfliehen, sie konnte es nicht. Sie war gelähmt, sodaß sie ihre Glieder nicht bewegen konnte und nur unbestimmte Gedanken hatte, von phantastischen entsetzlichen, unmöglichen Bildern gequält, einen Fiebertraum, den seltsamen und oft tötlichen Traum, den die einschläfernden Pflanzen des Südens in das Menschenhirn treiben, mit ihren phantastischen Formen und ihrem berauschenden Duft.

Als es Tag geworden, fand man Frau Walter besinnungslos, halb erstarrt vor »Jesus wandelt auf dem Meere«. Sie war so krank, daß man für ihr Leben fürchtete, und erst am Tage darauf kam sie wieder zur Besinnung. Dann fing sie an zu weinen.

Der Dienerschaft wurde das Verschwinden Susannes damit erklärt, daß man sie plötzlich ins Kloster geschickt, und Herr Walter beantwortete einen langen Brief Du Roys, indem er ihm die Hand seiner Tochter bewilligte.

Der Liebling hatte diesen Brief im Augenblick als er Paris verließ, in den Kasten geworfen, denn er hatte ihn am Abend der Entführung schon vorher geschrieben. Er sagte darin mit respektvollen Worten, daß er das junge Mädchen schon seit langer Zeit liebe, daß zwischen ihnen nie ein Einverständnis stattgefunden, aber da sie zu ihm gekommen sei aus freiem Antriebe und gesagt habe: »Ich will Deine Frau werden,« er das Recht zu haben meine, sie zu behalten, sie sogar zu verstecken, bis er eine Antwort der Eltern erhalten, deren Zustimmung für ihn sogar einen geringern Wert besäße, als der Wille seiner Braut.

Er bat, Herr Walter möge postlagernd antworten; ein Freund würde ihm den Brief zukommen lassen.

Als er erlangt hatte, was er wollte, brachte er Susanne nach Paris zurück und schickte sie zu ihren Eltern. Er selbst blieb einige Zeit dem Hause fern.

Sie hatten sechs Tage in La Roche-Guyon am Ufer der Seine zugebracht. Das junge Mädchen hatte sich noch nie so gut unterhalten. Sie hatte sich als Landmädchen verkleidet. Da er sie für seine Schwester ausgab, lebten sie in freier und keuscher Intimität wie ein paar zärtliche Kameraden. Er hielt es für klug, sie nicht zu berühren. Am Morgen, nach ihrer Ankunft, hatte er ihr Wäsche gekauft und bäuerliche Kleidung, und sie vergnügte sich mit Angeln, einen Riesenstrohhut mit einem Strauß Feldblumen auf dem Kopf. Sie fand die Gegend reizend, es gab da einen alten Turm und ein altes Schloß, wo wundervolle Stickereien zu sehen waren.

Georg trug einen Matrosenkittel, den er dort bei einem Kaufmann erworben und machte mit Susanne zu Fuß oder zu Boot Ausflüge längs der Ufer. Zitternd umarmten sie sich immerfort, sie unschuldig, er nahe daran seine Zurückhaltung zu verlieren.

Aber er wußte sich zu beherrschen, und als er zu ihr sagte:

– Morgen kehren wir nach Paris zurück, Ihr Vater hat mir Ihre Hand bewilligt, – antwortete sie ganz naiv:

– Schon? Es machte mir so viel Spaß, Ihre Frau zu sein!

 


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