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Der Kaiser Alexander hatte inzwischen nach kurzem Aufenthalt im Schlosse dasselbe wieder verlassen. Diesmal war er von der Menge erkannt worden, auch saß er in der offenen Kalesche mit zurückgeworfenem Mantel, den Helm mit dem wehenden Federbusch auf dem Kopfe, das große blaue Band des St.-Andreas-Ordens über der Brust, und es war bekannt geworden, daß der Großfürst-Thronfolger mit seinem kaiserlichen Vater gekommen sei, um die Armee zu begrüßen; bei der Anfahrt hatte man den Prinzen in dem grauen Mantel und der Mütze nicht von den übrigen Generalen unterschieden, jetzt saß er ebenfalls in der großen Uniform neben seinem Vater, und auch an ihn, die Hoffnung der Zukunft, richteten sich die jubelnden Zurufe, welche von allen Seiten dem von einem kleinen Kosakenpikett umgebenen kaiserlichen Wagen entgegenklangen.
Der Großfürst Nikolaus hatte sich nach der Begrüßung des Kaisers bereits vor ihm zu den Truppen hinausbegeben, welche alle von ihren Quartier- und Lagerplätzen aufmarschiert waren. In dem Gefolge des Kaisers befanden sich der Kriegsminister Miljutin und der Minister der Wegebauten und des öffentlichen Verkehrs, Vizeadmiral Posged, sowie zahlreiche Generale und Flügeladjutanten und Ordonnanzoffiziere, unter den letzteren der Graf Swiatowski und Blagonow.
Als der Kaiser langsam durch die Straßen der Stadt gefahren und bei der Truppenaufstellung angekommen war, stiegen die jüngeren Offiziere des Gefolges zu Pferde, und von dieser glänzenden Suite umgeben, fuhr der Kaiser mit dem Thronfolger an den zur Revue aufgestellten Truppen hin, überall von weitschallenden Hurrarufen, denen man die wirkliche kriegsfreudige Begeisterung anhören konnte, empfangen. Die edlen Züge Alexanders, welche durch Kränklichkeit und die Sorgen der Regierung, deren Pflichten er so ernst auffaßte, den einst so bezaubernden Reiz ihrer Jugendschönheit verloren hatten, wurden bei dem Anblick dieser prachtvollen Truppen, welche sich in unübersehbaren Linien neben seinem Wege ausdehnten, immer ernster und trauriger. Wohl war die militärische Macht, welche sich vor seinen Blicken entfaltete, geeignet, ein menschliches Herz im höchsten Stolz aufwallen zu lassen, denn alle diese zahllosen Regimenter in ihrem glänzenden Waffenschmuck gehorchtem einem Wink seines Auges und waren bereit, auf ein Wort von ihm todesmutig einer Welt von Feinden entgegenzustürmen – alle diese Musikkorps, welche ihn mit schmetternden Fanfaren begrüßten, würden auf seinen Befehl den Angriffsmarsch erklingen lassen, alle diese im Sonnenlicht glänzenden Kanonen würden Tod und Verderben in die Reihen der Feinde seines Reiches schleudern – im Bewußtsein solcher Macht konnte wohl ein fürstliches Herz sich einen Augenblick in Götterhöhe über die Vergänglichkeit des irdischen Staubes erhoben wähnen, alle irdische Schwäche vergessen und die Grenzen der Allmacht zu berühren glauben. Und dennoch wurde der Kaiser immer ernster, ein wehmütig schmerzlicher Zug umgab seinen Mund, und seine großen Augen, deren starrer, durchdringender Blick einen fast erschreckenden Eindruck machte, schienen sich zuweilen in feuchtem Schimmer zu verschleiern, denn das für den Beherrscher eines großen Weltreiches fast zu weiche Herz des Kaisers empfand mehr noch als das stolze Bewußtsein der Macht das schmerzliche Gefühl, daß alle diese Krieger, welche in der Blüte der Jugendkraft voll begeisterter Vaterlandsliebe ihm zujauchzten, dem blutigen Kampf mit einem grausamen, erbitterten und unversöhnlichen Feinde entgegengeführt werden sollten, und daß in kurzer Zeit Tausende von ihnen vom freundlichen Licht geschieden seien, und andere Tausende in Jammer und Schmerz vielleicht den Tod als Erlösung von ihren Leiden herbeiwünschen würden.
Aber der Kaiser war vielleicht der einzige, der daran dachte; die Augen seines Sohnes und Erben, des Großfürsten Alexander, blitzten in stolzem Mut und freudiger Kampflust, und alle die am Wege aufgestellten Truppen schienen mit Ungeduld den Augenblick zu erwarten, in welchem sie die Waffen, die sie jetzt vor ihrem kaiserlichen Kriegsherrn präsentierten, gegen den Feind schwingen dürften.
In scharfem Trabe fuhr der Kaiser, mit der Hand grüßend, die Fronten herunter; bei den Kommandeuren der einzelnen Abteilungen hielt er an, jedem einige freundliche, lobende und anerkennende Worte sagend, welche sich dann durch die Reihen hin von einem zum andern fortpflanzten und einen neuen, dem kaiserlichen Wagen nachschauenden Jubelruf zur Folge hatten. Der Großfürst Nikolaus hatte bei dem Kommando des ersten Armeekorps sich dem kaiserlichen Zuge angeschlossen. Derselbe fuhr immer weiter, an allen Armeekorps vorbei, bis nach dem Dorfe Ungeni an der rumänischen Grenze hin, wo der Kaiser um fünf Uhr nachmittags ankam. Hier zum ersten Male hielt der Kaiser Rast, und die Herren seines Gefolges hatten Zeit, sich von dem anstrengenden Ritt zu erholen.
Als der Kaiser ausstieg, um unter einem für ihn bereitgestellten Zelt einige Erfrischungen einzunehmen, trat ihm der Metropolit der moldauischen Geistlichkeit und eine Deputation von Bürgern aus Jassy entgegen und bat um die Erlaubnis, den erhabenen Herrscher, welcher gekommen sei, die Christen des Orients von der Türkenherrschaft zu befreien, im Namen des rumänischen Volkes begrüßen zu dürfen. Der Kaiser schien freundlich überrascht, er verneigte sich ehrfurchtsvoll vor dem greisen Metropoliten, welcher in seinem Feiergewand, das Kreuz in der Hand, vor ihm stand, und mit lauter, weithin vernehmbarer Stimme sprach er unter tiefer Stille:
»Es ist ein ernstes großes Werk, das ich zu unternehmen im Begriff stehe, und nur das heilige, erhabene Ziel, dem ich nachstrebe, wie es mein in Gott ruhender Vater und alle Vorfahren meines Hauses vor mir getan, hat mich bestimmen können, die Verantwortung für all das Blut auf mich zu nehmen, das in dem bevorstehenden Kampf vergossen werden wird. Ich empfehle«, fuhr er fort, das Haupt vor dem Kreuze des Metropoliten neigend, »mich und die Armee der Fürbitte der rechtgläubigen Priesterschaft, und«, sagte er dann, sich zu den Bürgern von Jassy wendend, »ich hoffe, daß meine Truppen bei der rumänischen Nation freundschaftliche Gesinnungen finden werden, denn die Sache aller Christen des Orients ist auch die Sache Rumäniens. Meine Vorfahren haben für Rumäniens Freiheit gestritten, und Rumäniens Herrscher gehören einem Hause an, das mir nahe verwandt und innig befreundet ist. Seien Sie gewiß, meine Herren, daß meine Truppen als Freunde zu Ihnen kommen, und nehmen Sie dieselben als solche auf.«
Diesmal waren es die Bürger von Jassy, welche zuerst den Hochruf auf den Kaiser anstimmten, und weithin durch die Reihen der Truppen setzte sich derselbe fort.
Kurz nur war der Aufenthalt des Kaisers in Ungeni, bald bestieg er wieder den Wagen, und noch einmal fuhr er an allen Lagerplätzen vorbei, wo jetzt die Biwakfeuer brannten und lautes, fröhliches Leben herrschte.
Am späten Abend erst kehrte der Kaiser nach Kischinew zurück. Die ganze Stadt war festlich erleuchtet, an den Fenstern aller Häuser brannten Lichter, Gaskronen flammten vor den öffentlichen Gebäuden, den Läden und Restaurants, welche sich vom Nachmittag an mit Offizieren der Truppen gefüllt hatten, die der Stadt zunächst lagen und die der Kaiser zuerst inspiziert hatte. Die Straßen waren tageshell, dichte Menschenmengen wogten auf denselben auf und nieder, und langsam fuhr der kaiserliche Wagen, von der glänzenden Suite auf den schnaubenden und schäumenden Pferden gefolgt, nach dem Schlosse hin, überall begrüßt von der begeisterten Bevölkerung.
Chwoschtschinski war noch in dem Restaurant, in welches er Jewjeni Mossejew, seinen neuen Kollegen geführt hatte. Immer von neuem hatte er die Offiziere der Feldtruppen mit den vortrefflichsten Weinen des Etablissements bewirtet und Jewjeni einer großen Anzahl von Herren vorgestellt, welche den kleinen Studenten der Theologie in Petersburg kaum eines Blickes gewürdigt haben würden, jetzt aber mit der artigsten Zuvorkommenheit die Vorstellung entgegennahmen, denn die Bekanntschaft mit einem Beamten der Armeelieferanten konnte ja im Kriege und während der Entbehrungen des Lagerlebens oft angenehm und vorteilhaft sein. Der junge Mensch hatte in den wenigen Stunden seiner neuen Existenz durch das allseitige Entgegenkommen, das man ihm bewies, und durch die glänzenden Aussichten, die sich ihm eröffneten, eine ganz neue, selbstbewußte Sicherheit angenommen und benahm sich in dem ungewohnten Kreise so ungezwungen, als ob er immer in demselben gelebt hätte.
Er war mit den übrigen vor die Tür des Restaurants getreten, als die Rufe des Volkes das Herannahen des Kaisers verkündeten. Herr Chwoschtschinki schwenkte am lebhaftesten von allen seinen Hut und rief am lautesten Hurra, als Seine Majestät vorüberfuhr. Jewjeni stand am Rande des Trottoirs, von einem Bogen von Gasflammen hell bestrahlt. Das Gefolge des Kaisers füllte, dicht gedrängt in langsamem Schritt vorwärtsreitend, die Mitte der Straße aus – da plötzlich blitzten die Augen des Studenten höher auf, er trat noch einen Schritt vor, ein unwillkürlicher Ausruf der Verwunderung klang von seinen Lippen – unmittelbar vor sich sah er Blagonow, dem er vor kurzem erst in Wolotschina begegnet war, auf schaumbedecktem Pferde, und abermals tauchte die Erinnerung an jene Nacht, in der er sich diesem glänzenden Offizier in der Suite des Kaisers als einen Bruder des geheimen Bundes zu erkennen gegeben, lebhaft und deutlich in ihm auf.
Blagonow hörte den Ruf, er blickte auf, und als er den jungen Menschen so unmittelbar vor sich sah, der bei dem Fest in Wolotschina das verhängnisvolle Losungswort in sein Ohr gerufen hatte, zuckte er erbleichend zusammen, parierte sein Pferd und starrte den Studenten wie eine gespenstische Erscheinung an – in demselben Augenblick aber hatte der voranfahrende Wagen des Kaisers den freien Platz erreicht, der ganze Zug setzte sich schneller in Bewegung, Blagonow spornte sein Pferd zu einem mächtigen Satze an, in wenigen Augenblicken war er in der Wolke von goldglänzenden Uniformen, welche dem Kaiser folgte, verschwunden.
Jewjeni sah ihm kopfschüttelnd nach, seine Lippen verzogen sich zu einem finsteren Lächeln, und leise sprach er vor sich hin:
»Er kennt das Losungswort, er gehört zum Bunde wie ich – er reitet im Gefolge des Kaisers und ich stehe hier neben der Goldquelle, um mit vollen Händen aus derselben zu schöpfen – was bereitet sich hier vor, hat der Bund die Macht, ihn dorthin zu bringen, wie mich hierher – was bedeuten dann alle diese Armeen, die auf das Wort des Kaisers marschieren – und was bin ich, wozu soll ich das Werkzeug sein ohne Willen, ohne Freiheit, ohne Wissen?«
Ein Schauer schüttelte seinen Körper – da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter.
»Kommen Sie, kommen Sie,« sagte Herr Chwoschtschinski, »lassen Sie uns noch ein Glas trinken und. dann zu Bett gehen, denn wir haben morgen viel zu tun. Heute sind Sie mein Gast in meiner Wohnung, morgen werde ich Ihnen dieselbe überlassen, wenn ich mein Hauptquartier in Krottoscheni aufschlage.«
Still, mit düsterer Miene folgte Jewjeni seinem Kollegen, und dessen heitere Laune war nicht imstande, die Wolken von seiner Stirn Zu verscheuchen.
Der Kaiser hatte sich mit seinem Sohn, dem Thronfolger, und mit seinem Bruder, dem Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, in sein Wohnzimmer im Gouvernementsgebäude zurückgezogen; für die Herren seines Gefolges war in dem großen Saal eine Marschallstafel serviert, und der Kaiser selbst hatte sie alle entlassen, da er vor der Fahrt angegriffen war und ungestört bleiben wollte. Ein silberner Samowar mit der duftenden Teekanne stand nebst einigen leichten kalten Speisen auf einem kleinen Tisch in seinem Zimmer. Der Kaiser hatte die große Uniform mit dem leichten, bequemen Überrock vertauscht, ein Glas Tee getrunken und saß, während die beiden Großfürsten einige Erfrischungen zu sich nahmen, in einem weiten Lehnstuhl vor dem Kamin, indem er gedankenvoll in das leichte, knisternde Holzfeuer blickte.
»So ist denn alles soweit vorbereitet,« sagte er, »daß es nur noch von dem Hauch eines Wortes abhängt, den gewaltigen Kampf entbrennen zu lassen, der nicht nur unser Rußland, sondern auch ganz Europa in seinen Grundfesten erschüttern wird. Es ist eine furchtbare, schwere Verantwortung, die auf mir ruht, und noch einmal möchte ich alles erwägen, ehe ich jenes Wort spreche, das, der leichten Schneeflocke gleich zur furchtbaren Lawine anwachsend, in die Zukunft hinrollen wird.«
Die beiden Großfürsten traten zu dem Kaiser heran.
»Das Herz hat mir geblutet«, fuhr Alexander fort, »bei dem Anblick all dieser braven Soldaten, von denen so viele dem Tode geweiht sind und an deren Leben die Wünsche und Gebete so vieler liebevoll schlagenden Herzen im Vaterlande hängen. Schwer wird die Arbeit sein, wenn wir siegen – die Arbeit des Kampfes und die vielleicht noch größere Arbeit, den Sieg richtig zu benutzen und das Gewonnene zu verteidigen gegen den Neid der ganzen Welt; denn wenn wir siegen, werden wir den Grund gelegt haben zu einer Macht, der in einem halben Jahrhundert das ganze übrige Europa nicht mehr wird die Wage halten können. – Aber«, fuhr er dann, die Hände in dem Schoß faltend und starr in das Feuer blickend fort – »wenn wir nicht siegen!«
»Wir werden siegen, Sascha,« rief der Großfürst Nikolaus – »dieses wurmstichige, faule Gebäude der Türkei wird beim ersten Anprall unserer Armeen zusammenbrechen.«
Der Kaiser sah seinen Bruder einen Augenblick groß an, dann sagte er ernst und feierlich:
»Der Sieg steht in Gottes Hand und kein menschlicher Wunsch und Wille kann ihn gebieten. Unser Vater, der gewaltiger war als ich, dessen Kraft und Wille von eisernem Gefüge war, ist dennoch besiegt worden; seine Niederlage hat ihm das Herz gebrochen und Rußland schwer darniedergebeugt.«
»Gegen ihn«, sagte der Thronfolger, »stand die ganze Macht von England und Frankreich, jetzt haben wir es nur mit der Türkei zu tun.«
»Sind wir dessen gewiß?« fragte der Kaiser. »Vielleicht wäre es besser, wenn wie damals offene Feinde uns gegenüberträten, damit wir darnach die Anspannung unserer Kraft bemessen könnten; schlimmer wäre es, wenn das tückische England später, da wir mitten im gefahrvollen Kampfe stehen, über uns herfiele.«
»Daran ist nicht zu denken,« rief der Großfürst Nikolaus, »die englischen Flotten können uns nicht erreichen, und die englischen Landtruppen werden sich hüten, sich uns entgegenzustellen – haben wir sie nicht immer geschlagen, hätten wir sie nicht vernichtet, wenn die Franzosen sie nicht gerettet hätten?«
»Frankreichs aber sind wir sicher«, sagte der Thronfolger; »Frankreichs alte Stellung ist gebrochen, mit uns könnte es noch etwas bedeuten in Europa – gegen uns würde es vollends dem Untergange verfallen.«
»Gleichviel,« sagte der Kaiser, »England beunruhigt mich, ich traue Disraeli nicht – ja, wenn Gladstone am Ruder wäre, doch daran ist nicht zu denken.«
»Disraeli,« sagte der Großfürst Nikolaus achselzuckend – »er ist ein Jude – der Jude schlägt nicht, er handelt. Und wir haben ja Preise zu bieten – um so höhere Preise, wenn wir die Herren des Orients sind.«
»Und dennoch,« sagte der Kaiser, »dennoch könnte er sich zu kriegerischer Aktion aufraffen – Gortschakoff kennt ihn, auch er traut ihm nicht.«
»Und wenn es dazu käme,« fügte er dumpfen Tones hinzu, »es ist nicht bloß die Besorgnis vor der englischen Macht – welch ein Schmerz ist es, zu denken, daß meine Tochter Maria, deine einzige Schwester, mein Sohn, gezwungen wäre, feindlich gegen ihr Vaterland, gegen mich und ihre Familie zu stehen, wie sie es tun müßte in der Erfüllung der Pflicht gegen ihren Gemahl.«
»Das wäre schmerzlich, sehr schmerzlich,« sagte der Thronfolger mit einem leichten Anklang von Unmut und Ungeduld – »aber kann von solchen persönlichen Empfindungen die Politik Rußlands abhängen?«
Der Kaiser blickte eine Zeitlang stumm in das Feuer, dann warf er den Kopf auf und fragte:
»Sind Depeschen angekommen? Ich habe Gortschakoff befohlen, mir sogleich seinen Bericht zu senden, sobald er Nachricht von London hätte.«
Der Thronfolger trat an den Schreibtisch, welcher, wie es der Kaiser gewohnt war, in einiger Entfernung vom Fenster aufgestellt war. Auf demselben lagen mehrere, an Seine Majestät adressierte Depeschen; der Großfürst reichte dieselben seinem Vater.
Der Kaiser öffnete hastig ein großes Kuvert, das mit dem Siegel des auswärtigen Ministeriums verschlossen war, er entfaltete die Depesche und las:
»Schuwalow meldet aus London, er glaube nach seinen vielfachen und eingehenden Unterredungen mit dem Grafen Derby folgendes als bestimmt versichern zu können. England wird, sobald die Kriegserklärung erfolgt, sein Bedauern und seine Mißbilligung bestimmt aussprechen –«
»Was uns ziemlich gleichgültig sein kann«, murrte der Thronfolger für sich.
»Aber«, las der Kaiser weiter, »England wird dessenungeachtet sich vollkommen neutral halten, sobald keine englischen Interessen berührt werden. Auf Befragen, an welchen Punkten und durch welche Maßregel nach der Ansicht der britischen Regierung eine solche Berührung englischer Interessen stattfinden könne, erwiderte Lord Derby: ein Versuch, den Suezkanal zu blockieren oder der Schiffahrt auf demselben irgendein Hindernis zu bereiten, würde von England als eine Bedrohung seiner indischen Besitzungen und als eine schwere Beschädigung des Welthandels betrachtet werden, auch werde England niemals zugeben, daß Konstantinopel in andere Hände übergehe als die des gegenwärtigen Besitzers.«
»Ich habe ihnen mein Wort gegeben, daß ich nicht erobern will!« rief der Kaiser unmutig.
Dann las er weiter: »England müsse ferner gegen einseitige Änderungen der gegenwärtigen Bestimmungen über die Schiffahrt in den Dardanellen Einwendungen machen, und ebenso seine Interessen am Persischen Meerbusen gegen jeden Angriff sicherstellen. Schuwalow versichert,« schloß die Depesche, »daß diese Auffassung ihm durch Lord Beaconsfield bestätigt sei, und spricht die Überzeugung aus, daß auf der bezeichneten Grundlage eine Sicherstellung der englischen Neutralität zu erreichen sei, wenn auch vielleicht nicht in Form eines Vertrages, so doch durch einen gegenseitigen Depeschenwechsel. Gortschakoff fügt hinzu,« sagte der Kaiser, das Blatt zusammenfaltend, »daß er kein Bedenken trage, die bestimmtesten Erklärungen über die von dem englischen Minister bezeichneten Punkte zu geben.«
»Gewiß nicht,« sagte der Großfürst Nikolaus, »nur dürfen wir uns keine Einschränkungen machen lassen in betreff der militärischen Eroberung und Besetzung von Konstantinopel. Wir sind das der Armee schuldig, und die Soldaten werden niemals an einen gründlichen Sieg über die Türkei glauben, wenn wir nicht den Fuß auf Konstantinopel gesetzt haben.«
»Ich habe nur mein Wort gegeben, Konstantinopel nicht zu erobern«, sagte der Kaiser; »was während der Wechselfälle des Krieges geschieht, hat nur militärische und keine politische Bedeutung.«
»Am besten wäre es,« sagte der Großfürst-Thronfolger, »wenn wir uns auf gar keine Erklärungen einließen, wenn wir ruhig unsern Weg gingen, unbekümmert darum, ob das der einen oder der andern Macht gefällt oder nicht, und wenn wir es ruhig jedem überließen, ob er es wagen will, sich uns auf unserem Weg entgegenzustellen. So hat man es in Deutschland im Jahre 1870 gemacht, und niemand hat den Weg der deutschen Nation gekreuzt; was Deutschland kann, sollte Rußland auch können – wenn ein großes Volk seine nationale Aufgabe erfüllen will, so darf es sich von keiner fremden Macht Vorschriften machen lassen.«
Der Kaiser sah seinen Sohn lange an. Einen Augenblick blitzte es in seinen Augen auf wie stolzer, kühner Mut, als ob die Worte des Thronfolgers in seinem Herzen einen mächtigen Widerhall erregten – dann aber trübte sich sein Blick wieder, er schüttelte den Kopf und sagte:
»Du magst recht haben – vielleicht auch nicht, ein einzelner Mensch darf sich einer großen, edlen Sache opfern und für dieselbe, wenn es sein muß, untergehen – was ich für mich tun könnte, darf ich nicht mit meinem Volk tun; für mein Volk muß ich vorsichtig, ängstlich, wenn du willst, die Wahrscheinlichkeit des Erfolges und des Sieges abwägen – und dann, alles, was irgend mit Rußlands Ehre und Rußlands Interessen zu vereinigen ist, will ich aufbieten, um den Frieden mit England zu erhalten; – wie schwer würde nicht die arme Maria leiden, wenn sie als Gemahlin eines englischen Prinzen den Himmel um Sieg für die englischen Waffen anrufen müßte, um den Sieg über ihren Vater und ihr Vaterland – ihr Herz würde brechen in solchen Konflikten; nein, nein, das darf nicht sein.«
Er sann einen Augenblick nach, dann sagte er, seinem Sohn die Depesche reichend, die er soeben gelesen:
»So ist es recht, so wird es gehen – diese Depesche beruhigt mich, weil sie mir die Hoffnung gibt, die peinlichste und schwerste Prüfung für mein Herz zu vermeiden. Laß morgen in aller Frühe den Befehl an Gortschakoff abgehen, daß er Schuwalow nach Petersburg beruft, er soll alles aufbieten, um die hier bezeichneten Bedingungen der englischen Neutralität in einer schriftlichen Erklärung der Regierung mitzubringen, damit wir unsererseits darauf antworten und nach jener Seite hin alles ordnen können.«
Der Thronfolger nahm die Depesche und verneigte sich zum Zeichen des Gehorsams, ohne daß seine Miene eine rückhaltlose Zustimmung zu der Auffassung seines Vaters ausdrückte.
»Das war«, sagte der Kaiser, »die eine Sorge, die mich noch bewegte; die zweite bezieht sich auf die militärischen Vorbereitungen, auf den Krieg selbst. Wohl mag die Türkei ein morsches, von innerer Fäulnis untergrabenes Gebäude sein, aber der Zusammenbruch dieses einst so gewaltigen Baues kann auch uns unter seinen Trümmern zerschmettern, und wir dürfen nicht vergessen, daß das einzige, was in der Türkei vielleicht noch gesund geblieben, die militärische Kraft ist, welche in der Volksrasse lebt, und der mohammedanische Fanatismus, der jene kriegerische Kraft bis zum äußersten anspannen wird. Auch Frankreich brach innerlich zusammen in dem Kriege von 1870, und dennoch bedurfte es der ganzen, so scharf konzentrierten Ordnung in der deutschen Heerführung, um mit den zerbröckelnden Trümmern der französischen Militärmacht fertig zu werden. – Ich habe viel darüber nachgedacht,« sagte er nach einem kurzen Schweigen – »sollten wir nicht Tottleben an die Spitze des Generalstabes stellen? Er hat sich in Sebastopol bewährt, er scheint mir von allen unseren Generalen am meisten fähig zu sein, dem großen preußischen Moltke ähnlich zu werden.«
»Nein, nein, Sascha,« rief der Großfürst Nikolaus heftig, »Tottleben mag ein guter Ingenieur sein, aber er ist kein Stratege im großen Maßstabe, er ist pedantisch und eigensinnig, er ist ein Deutscher, und ich brauche keinen deutschen Djandka.«
Der Kaiser lächelte über den heftigen Widerspruch seines Bruders und sagte sanft:
»Nun, nun, Nikascha, hier unter uns können wir es wohl gestehen, daß wir alle nicht so tief in die Details der Strategie eingedrungen sind, um eines Beirats entbehren zu können, der alle technischen Fragen durchdringt und die Wege zur Ausführung unserer Pläne findet, darum würde er noch immer kein Djandka, kein militärischer Erzieher sein.«
»Tottleben würde sich einbilden, es zu sein,« sagte der Großfürst Nikolaus, »und das würde mich lähmen, mich einengen, ich würde gereizt sein, er würde sich verletzt fühlen, darunter würde die Sache leiden. Außerdem ist Nepokoitschinski von erprobter Tüchtigkeit, und da du von Moltke sprachst, so möchte ich bemerken, daß er mit dem großen deutschen Strategen die meiste Ähnlichkeit hat; auch er wägt lange, ehe er handelt, er schweigt wie jener, und niemand hat jemals ein überflüssiges Wort von seinen Lippen gehört.«
»Ich achte Tottleben hoch, mein Vater«, sagte der Großfürst-Thronfolger, indem er die Hand des Kaisers ergriff, »und ich bin kaum imstande, zwischen ihm und Nepokoitschinski zu entscheiden – aber eins spricht gegen ihn, er ist ein Deutscher seiner Abstammung nach, und der Krieg, vor dessen Beginn wir stehen, ist ein russischer, ein slawischer Nationalkampf, der deutsche Name Tottlebens allein würde ein schweres Hindernis sein, das ihm für das Vertrauen der Armee entgegenstünde, und das Vertrauen der Soldaten in die Führung ist die erste Bedingung des Sieges.«
»Nun,« sagte der Kaiser, »Moltke ist dänischer Abstammung und hat dennoch die Deutschen in ihrem Nationalkampfe zum Siege geführt – Podbielski war ein Pole – Verdy du Vernois ein Franzose, und doch hat wohl selten eine Armee festeres und unbeschränkteres Vertrauen zu ihrer Führung gehabt, als die deutsche.
Doch lassen wir die Sache fallen, es war nur ein Gedanke von mir – du sollst die Armee führen, und die Hauptsache ist, daß du selbst Vertrauen zu deinem Generalstabschef hast. – Ich will seine Meinung hören,« sagte er, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen – »laß ihn rufen.«
Der Großfürst schien mit diesem Entschluß seines kaiserlichen Bruders ungemein zufrieden zu sein; er eilte nach dem Vorzimmer hinaus, um einem der diensttuenden Adjutanten den Befehl des Kaisers zu überbringen, und nach wenigen Minuten, während welcher der Kaiser ein zweites Glas Tee trank und sich leicht fröstelnd an der flackernden Kaminflamme wärmte, trat der Generaladjutant Arthur Abrahamowitsch Nepokoitschinski, der Generalstabschef der Operationsarmee an der Donau, in das Kabinett.
Der General war damals vierundsechzig Jahre alt, seine mittelgroße Gestalt untersetzt und kräftig gedrungen, seine Haltung fest, ruhig und sicher, sein Kopf saß auf einem kurzen, gedrungenen Halse, sein rückwärts gekämmtes, kurzes Haar ließ die hohe, kräftig gewölbte Stirn frei, sein Bart war militärisch kurz geschnitten, sein starkes Kinn und seine kräftig vorspringende Nase deuteten auf Willenskraft und fester Energie. Auf seinem ganzen, etwas bleichen Gesicht lag eine eherne, unerschütterliche Ruhe, der gerade, feste Blick seiner hellen Augen zeigte klare und überlegene geistige Sicherheit – es war ein Gesicht, das unwillkürlich Vertrauen einflößte, weil man den Eindruck empfing, daß der General stets vollkommen mit sich selbst klar und einig sei, daß er ebenso sein Ziel bestimmt gesteckt, als die Mittel, dasselbe zu erreichen, sorgfältig abgewogen habe, und daß er bereit und entschlossen sei, alle in seiner Hand verfügbaren Mittel rücksichtslos zu gebrauchen.
Der Kaiser grüßte den in militärisch dienstlicher Haltung vor ihn hintretenden Generaladjutanten mit freundlichem Kopfnicken und fügte:
»Ich habe Sie rufen lassen, Arthur Abrahamowitsch, weil ich mir im Augenblick des letzten entscheidenden Entschlusses hier im Hauptquartier der Armee selbst noch einmal den Gang und die Chancen des Krieges klar machen möchte; teilen Sie mir Ihre Gedanken in großen Zügen mit.«
Keine Muskel bewegte sich in dem Gesicht des Generals. Er blickte im Zimmer umher, rollte dann einen seitwärts neben einem Diwan stehenden Tisch vor den Kaiser heran, stellte zwei Armleuchter auf denselben und breitete dann dazwischen eine große Karte aus, die er zusammengefaltet in einem Etui bei sich trug. Der Kaiser rückte seinen Stuhl ganz nahe neben den Tisch und blickte aufmerksam auf die ausgebreitete Karte, welche die ganze Balkanhalbinsel, das südliche Rußland und den westlichen Teil von Kleinasien umfaßte. Der General trat an die Seite des Kaisers, die beiden Großfürsten hinter denselben.
»Der Feldzug,« begann der General Nepokoitschinski, »welcher die Aufgabe der hier vereinigten Armeen bildet, zerfällt, wenn ich mir denselben strategisch klar mache, in drei verschiedene Teile. Der erste dieser Teile des Feldzugs geht bis an den Balkan, den zweiten bildet der Übergang über den Balkan, und den dritten die Operationen südlich vom Balkan bis Konstantinopel.
Da alle Operationen auf weit ausgedehnten Gebieten und zum Teil gegen irreguläre Truppen stattfinden müssen, so bedürfen wir, um des Erfolges überall sicher zu sein, große Truppenmassen, wir können deren kaum genug haben; Seine Kaiserliche Hoheit hat auf meine Bitte bei Eurer Majestät die Mobilisierung von noch drei Armeekorps beantragt, Eure Majestät haben diesen Antrag genehmigt, aber dennoch wird es vielleicht nötig werden, die verfügbaren Truppenmassen noch zu verstärken, denn wir werden nicht nur ausgedehnte Gebiete zu gewinnen, sondern sie demnächst auch festzuhalten, zu besetzen und zu organisieren haben. Die Deutschen würden in Frankreich niemals so sicher zerschmetternde, dauernde Erfolge gehabt haben, wenn der General Moltke nicht in der Lage gewesen wäre, über solche Truppenmassen zu verfügen, daß er überall, wo es nötig war, zu schlagen, auch wirklich schlagen konnte, und daß er das Gewonnene festzuhalten vermochte, ohne die weiteren Vorstöße abschwächen oder verzögern zu müssen.«
»Sie haben recht, vollkommen recht«, sagte der Kaiser lebhaft, während der Großfürst Nikolaus seinem Generalstabschef freundlich zunickte. »Wir dürfen vor keinen Anstrengungen zurückschrecken, und was nötig ist, muß geschehen, denn wenn der Krieg einmal begonnen ist, muß der Sieg auch gewonnen werden.«
»Ich komme also«, fuhr der General fort, »auf den Feldzug selbst. Der erste Teil desselben wird mehr Zeit in Anspruch nehmen, als es vielleicht auf den ersten Anblick nötig erscheinen möchte, denn es wird darauf ankommen, die Armee vorsichtig und in wohlgegliederter Ordnung auf dem verhältnismäßig schmalen Wege, der uns offen steht, bis nach dem Balkan hinzuführen, dort den neuen strategischen Aufmarsch vorzunehmen und diejenigen feindlichen Truppen, die uns dort entgegentreten, zu schlagen. Unsere Aufgabe muß dabei sein, die Feinde womöglich zu umzingeln, zu vernichten oder gefangen zu nehmen, statt sie über den Balkan zurückzuwerfen und so die uns hinter demselben erwartenden Streitkräfte zu verstärken. Der Aufmarsch nach dem Donauübergang ist daher von der höchsten Wichtigkeit für das Schicksal des ganzen künftigen Feldzuges und darf in keiner Weise übereilt werden, so ungeduldig vielleicht die Truppen und das Volk selbst größere Entscheidungen erwarten möchten.«
»Sie haben wieder recht, vollkommen recht,« sagte der Kaiser –»fahren Sie fort.«
»Wenn wir Herren des Gebietes bis zum Balkan sind,« sagte der General, »so werden wir Bulgarien organisieren, die Verbindungslinien mit Rußland ganz besonders sichern und auch die Militärkraft des Landes heranziehen müssen, um unsere Truppen zu ergänzen. Auch dies darf nicht übereilt werden, und erst nachdem alles vollkommen ausgeführt ist, werden wir uns zu dem zweiten Teil des Feldzuges, dem Übergang über den Balkan, wenden.
Der wichtigste Übergang ist der Schipkapaß,« sagte er, mit einem Bleistift, den er aus seinem Kartenfutteral gezogen, den Ort dem Kaiser bezeichnend – »dort werden wir den Hauptstoß zu machen haben, jedoch werden wir auch auf anderen Übergängen vordringen, um die feindlichen Kräfte zu spalten und womöglich eine Umgehung derselben zu erreichen. Ich setze voraus, daß wir dort hartnäckigen und zähen Widerstand finden werden; wir werden denselben überwinden,« fuhr er mit fester, metallisch klingender Stimme fort – »aber wir dürfen uns nicht darüber täuschen, daß der Übergang über den Balkan uns nicht nur schwere Opfer kosten, sondern auch das taktische Gefüge der Armee gewaltig erschüttern wird. Wir werden deshalb, sobald wir das Gebirge überschritten haben, gezwungen sein, zunächst von neuem Halt zu machen und die Armee wieder zu sammeln und in ihrem Gefüge wiederherzustellen, um dann den dritten Teil des Feldzuges zu beginnen, welcher die Einnahme der südlich vom Balkan liegenden Positionen und den Vormarsch nach Konstantinopel zur Aufgabe hat.
Auch dieser Teil wird nicht leicht sein, viel Anstrengung und«, fügte er mit Betonung hinzu, »viel Geduld in Anspruch nehmen, denn es läßt sich erwarten, daß die Türkei dann gerade ihre letzte und äußerste Kraft aufbieten wird.
Ich bin außerstande«, fuhr er fort, während der Kaiser mit gespanntester Aufmerksamkeit zuhörte, »Eurer Majestät eine genaue Zeitbestimmung für die von mir bezeichneten Abteilungen des zu beginnenden Feldzuges anzugeben, da die Zeitdauer, welche unsere Operationen in Anspruch nehmen, von einer Menge äußerer Zufälligkeiten abhängt, die wir wohl so viel als möglich berücksichtigen, aber nicht beherrschen können. Ich halte es indes«, fuhr er ernst fort, »nicht für unmöglich, wenn wir sehr kräftigem Widerstande begegnen, daß wir den ersten Teil des Feldzuges mit diesem Jahr abschließen und den Übergang über den Balkan auf den nächsten Frühling verschieben müssen. Es wird damit immerhin viel gewonnen sein, wir werden Bulgarien in unseren Händen halten, und ich würde niemals dafür stimmen können, über den Balkan vorzugehen, solange wir nicht im Rücken und an unseren Seiten vollkommen gegen alle Feinde gedeckt sind.«
»Zwei Jahre,« rief der Kaiser – »Sie halten einen Krieg von zwei Jahren für möglich?«
»Ich halte ihn für möglich, Majestät,« erwiderte Nepokoitschinski, »vielleicht unter Umständen für notwendig, denn in einem Kampfe wie dieser kommt es nicht auf einen glänzenden, sondern auf einen sicheren Erfolg an, den wir dann nach allen Richtungen hin zu behaupten imstande sind. Ich bitte Eure Majestät, sich erinnern zu wollen, daß der deutsche Feldzug gegen Frankreich den Winter durch bis in das zweite Jahr hinein gedauert hat und noch länger hätte dauern können, wenn die Chancen etwas weniger glücklich gewesen wären, ohne daß deshalb der eigentliche und endliche Sieg zweifelhaft geworden wäre. Wir haben mit ungleich größeren Schwierigkeiten zu kämpfen und müssen uns deshalb von vornherein auf einen zweijährigen Krieg gefaßt machen, um so mehr, als Preußen in Frankreich im Winter Krieg führen konnte, wir aber unmöglich weiter vorgehen können, wenn es uns nicht gelingt, vor der schlimmen Jahreszeit über den Balkan zu kommen.«
»Nun,« rief der Großfürst Nikolaus, »ich bin gewiß, daß die türkischen Truppen wie Spreu vor dem Winde zerstäuben werden, und daß beim ersten Stoß unserer Macht die ganze türkische Wirtschaft zusammenbricht.«
»Wir können das hoffen und wünschen,« erwiderte Nepotoitschinski ernst, »doch dürfen wir nicht darauf rechnen; wer des endlichen Sieges sicher sein will, muß immer ungünstige Chancen, ja Unglücksfälle voraussetzen. Die erste Regel für uns muß bleiben: niemals mit ungenügenden Kräften zu schlagen und niemals vorzugehen, bevor wir nicht das gewonnene Gebiet sicher in Händen halten und für uns organisiert haben.«
Der Kaiser stand auf und drückte die Hand des Generals.
»Ich danke Ihnen, Arthur Abrahamowitsch«, sagte er; »fahren Sie fort, auf das Unglück zu rechnen, dann werden Sie es überwinden. Sie haben mir Vertrauen eingeflößt und Mut gemacht, immer aber steht der Sieg in Gottes Hand, und dennoch bleibt es wahr, daß eine Niederlage ein schweres, unberechenbares Verhängnis für Rußland wäre. – Mein Leben neigt sich seinem Ende zu,« sagte er feierlich, »dir, mein Sohn gehört die Zukunft, deswegen will ich nicht allein bestimmen, entscheide du, der du die schweren Folgen einer Niederlage zu tragen haben würdest, wie ich zwanzig Jahre lang die Folgen des unglücklichen Krimkrieges getragen habe.«
Der Großfürst-Thronfolger küßte die Hand seines Vaters und rief ernst und bewegt, aber mit stolz und mutig blitzenden Augen:
»Ich will diese Folgen tragen, mein Vater, wenn es sein muß – aber ich bitte dich, ich beschwöre dich dennoch, den Kampf für Rußlands Ehre und Größe, für die Erfüllung seiner heiligsten Aufgaben zu wagen. Ich glaube an den Beistand des Himmels für unsere gerechte Sache, ich glaube an den Sieg und bitte Gott aus ganzem Herzen, daß er dich, mein Vater, die herrlichen Früchte des Sieges noch lange Jahre möge genießen lassen.«
Der Kaiser umarmte seinen Sohn und sagte:
»So sei es – der Würfel ist gefallen. Laß die Truppen morgen in Parade antreten,« sagte er zu seinem Bruder gewendet, »ich will das Kriegsmanifest verkünden, der Bischof soll der Armee den Segen erteilen, und morgen soll dieselbe die Grenze überschreiten.«
»Hurra!« rief der Großfürst Nikolaus. Er und der Thronfolger küßten nochmals die Hände des Kaisers, auch über das ernste, eiserne Gesicht des Generals Nepokoitschinski flog ein freudiger Schimmer.
»Und nun laßt mich allein,« sagte der Kaiser, »ich bedarf der Ruhe nach den Anstrengungen dieses Tages, ich bedarf der Sammlung und der Einkehr in mich selbst.«
Die Großfürsten und der General verabschiedeten sich. – Der Kaiser zog sich in sein Schlafzimmer zurück, und tiefe Stille herrschte von diesem Augenblick an in dem von ihm bewohnten Teil des Palais, während die Großfürsten bis zum frühen Morgen hin tätig waren und Adjutanten auf Adjutanten bis zu den äußersten Vorposten hinflogen.
Am nächsten Morgen standen im hellen Sonnenlicht alle Truppen in Parade aufmarschiert von Kischinew hin bis zur Grenze. Vor der Stadt, der Front des nächststehenden Korps gegenüber, war ein Altar errichtet, vor welchem der Bischof, von seiner ganzen Geistlichkeit umgeben, seinen Platz nahm. Alle Bewohner der Stadt waren hinausgeströmt und standen dicht gedrängt hinter dem Spalier, welches den weiten Platz vor der Front der Truppen frei hielt.
Endlich erschien der Kaiser zu Pferde mit seiner ganzen glänzenden Suite. Er hielt vor der Front, der Präsentiermarsch erklang, sich von einem zum andern Korps fortsetzend; die unabsehbaren Reihen präsentierten die Gewehre und begrüßten den Kriegsherrn mit lautem Zuruf.
Der Kaiser winkte; General Nepokoitschinski ritt an seine Seite, empfing aus den Händen Seiner Majestät das Kriegsmanifest und las dasselbe mit lauter Stimme vor. Obgleich eine tiefe Stille überall herrschte, so verstanden doch kaum die Nächststehenden die Worte des Manifestes – aber jeder wußte bis zur weitesten Ferne hin, daß in diesem Augenblick die Worte erklangen, durch welche der Selbstherrscher des Reiches, das halb Europa und Asien umfaßte, dem Sultan den Kampf auf Leben und Tod entbot, und alle Herzen schlugen höher.
Als die Vorlesung beendet war, donnerten die Kanonen einer in der Nähe aufgestellten Batterie hundert und einmal, und ihre eherne Stimme verkündete in weitem Widerhall der ganzen Armee, daß der Kaiser das entscheidende Wort gesprochen, welches die furchtbaren Dämonen des Krieges entfesselte.
Dann begann die feierliche Zeremonie vor dem Altar. Der Kaiser und der Thronfolger mit dem ganzen Gefolge standen seitwärts, der Großfürst Nikolaus, der Höchstkommandierende der Armee, trat mit seinem Stabe vor den Altar und empfing für sich und die sämtlichen Truppen, die unter seinem Befehl standen, den Segen der Kirche von der Hand des Bischofs – dann kehrte der Kaiser durch die jubelnde Menschenmenge nach dem Palais zurück, während in demselben Augenblicke die erste vorgeschobene Abteilung der Armee die rumänische Grenze überschritt.
Nach dem Glauben der alten Griechen würde in diesem Augenblick der ägisschüttelnde Zeus die Lose der beiden Gegner auf die Schicksalswage gelegt haben – aber kein sterbliches Auge hätte gesehen, welche der beiden Schalen sich senkte.