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19. Kapitel

Pawjel und die von seiner kleinen Schar übriggebliebenen Bulgaren wurden von den russischen Offizieren und den Einwohnern von Bjäla umringt, man räumte ihnen den Ehrenplatz neben den Geistlichen, dem Lehrer und den Ältesten der Gemeinde ein, viele der Bewohner von Bjäla kannten Pawjels Namen, seinen Reichtum, seinen Einfluß in Muschina und die Geschichte seiner kühnen Flucht in die Berge, um sich vor der türkischen Gewalttat zu retten; er war der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit und Bewunderung, und ausführlich mußte er die Geschichte seines Flüchtlingslebens, Stjepanidas Raub und Befreiung, und dann den Zug über den Balkan, den er in der vordersten Reihe des Gurkoschen Korps mitgemacht und der allen fast wie eine Legende aus alter Heldenzeit erschien, erzählen. Die Bulgaren waren stolz auf diesen Mann aus ihrem Volk, und die russischen Offiziere behandelten ihn mit hoher Achtung und Auszeichnung; er schilderte alles, was er erlebt, einfach, wahr und bescheiden, doch klang aus seinen Worten jener feurig poetische Schwung hervor, der den Slawen eigentümlich ist, und in dem berauschenden Gefühl all der hohen Ehre und Anerkennung, welche ihm zuteil wurde, vergaß er den Schmerz über die Trennung von Stjepanida, stolz und mutig schlug sein Herz den Kämpfen der Zukunft entgegen, welche ihm von leuchtendem Siegeskranz vergoldet erschien.

Ernster, voll Wehmut und Bangigkeit, aber doch freudig ergeben in die Notwendigkeit, welche sie als heilige Pflicht erkannte, trat Stjepanida dem von ihr gewählten schönen und schweren Beruf entgegen. Sie schritt, von dem General Rylejew geführt, an der Seite der Tragbahre hin, auf welcher der Leutnant Rossianow schwer atmend und zuweilen leise wimmernd lag; schon auf dem Wege begann sie ihr Amt, indem sie die hochangeschwollene und mit geronnenem Blut bedeckte Stirn des Verwundeten mit frischen Wasserumschlägen, die sie in den Häusern des Dorfes benetzen ließ, kühlte.

Das Lazarett war ein großes, von Holz aufgeschlagenes und mit Zeltwänden verhängtes Gebäude; die nächsten Häuser um dasselbe dienten zur Wohnung der Diakonissen und der Ärzte, in der Nähe befand sich die Proviantstation für das kaiserliche Hauptquartier, der ganze Raum war von Wachen umstellt, um soviel als möglich Stille und Ruhe aufrechtzuerhalten. In dem Vorraum des langgestreckten Lazarettgebäudes befanden sich einige Militärärzte und eine Krankenpflegerin in dem grauen Gewände, die weiße Binde mit dem roten Kreuz um den Arm, welche gerade im Begriff stand, sich von einem der Ärzte ihre Informationen geben zu lassen.

»Ah, Fräulein von Dobbrodorow,« sagte der General, als er in den von den Zeltvorhängen verdunkelten Raum trat, »es freut mich, daß ich Sie gerade finde. Hier ist ein bulgarisches Mädchen, das sich der Pflege der Verwundeten widmen will. Der Kaiser hat sie unter seinen besonderen Schutz gestellt und befohlen, daß sie mit höchster Auszeichnung behandelt und für alle ihre Bedürfnisse gesorgt werden soll. Ich kann sie keiner besseren Führerin anvertrauen als Ihnen.«

Die junge Krankenpflegerin trat zu Stjepanida und reichte ihr mit herzlichen Begrüßungsworten die Hand, sie schien sympathisch berührt durch die Erscheinung des schönen Mädchens, die in ihrem farbenreichen, goldgestickten Kostüm eigentümlich von der ernsten, einfachen Umgebung abstach. Stjepanida fühlte dies, und ihre erste Bitte war, ihr eine ihrer Beschäftigung angemessene Kleidung zu geben; auch sie schien wohltätig berührt durch die Erscheinung der Führerin, welcher sie der General in ihrem neuen Beruf zugewiesen hatte; ehrfurchtsvoll, mit kindlichem Vertrauen beugte sie sich auf deren Hand herab, aber Jewa Alexiewna schloß sie in ihre Arme und sagte mit innigem Ton:

»Unser Beruf macht uns zu Schwestern, und schwesterliche Liebe soll uns verbinden.«

Eine wunderbare Veränderung war mit dem jungen Mädchen vorgegangen, welche früher in dem Hause ihres Vaters in Moskau die emanzipierten Manieren der Studentinnen angenommen hatte. Die große blaue Brille, welche dort ihre Augen verdeckte, war verschwunden, und wer sie früher zu sehen gewohnt gewesen, würde jetzt erstaunt sein über die wunderbare Schönheit dieser großen Augen, welche von klarem, geistigem Licht erhellt waren, und aus denen doch wie aus unergründlichen Tiefen hervor so viel warmes Gefühl aufleuchtete. Sie war bleicher geworden, der kecke, übermütige Ausdruck war von ihrem Gesicht verschwunden, und der stille, sinnende Ernst ließ sie um so viel schöner erscheinen; auch ihre früher kurz gelockten, wirr um den Kopf herabhängenden Haare waren länger gewachsen, glatt gescheitelt und von einem schwarzen Kopftuch bedeckt; sie schien kaum dasselbe Wesen wie früher zu sein, und es war natürlich, daß Stjepanida zu dieser edlen, ernsten Erscheinung, welche der Reiz des schönsten weiblichen Berufes wie mit lichter Verklärung übergoß, mit fast andächtiger Verehrung aufblickte.

Die Ärzte hatten inzwischen den auf seiner Tragbahre am Eingange niedergesetzten Leutnant Rossianow untersucht, seine Wunde zwar nicht lebensgefährlich gefunden, aber erklärt, daß die übermäßige Anstrengung und der Druck des geronnenen Blutes eine Gehirnerschütterung veranlaßt hätten, welche die sorgfältigste Pflege erfordere. Als der Verwundete in das Innere des Lazaretts getragen werden sollte, führte Jewa ihre neue Gehilfin hinaus, um ihr in ihrer Wohnung ein Unterkommen zu schaffen und für ihre Einkleidung zu sorgen; sie schritt an der Bahre vorbei und warf einen flüchtigen, mitleidigen Blick auf den Verwundeten – aber von jähem Schreck erfaßt, blieb sie stehen, dunkle Glut färbte ihr Gesicht, dann erbleichte sie, drückte einen Augenblick beide Hände auf ihr Herz, beugte sich vor und sah prüfend in das entstellte Gesicht des Verwundeten, als ob sie sich überzeugen wolle, daß sie sich nicht täusche.

»Viktor Sacharjewitsch,« rief sie, »er ist es – der Arme, so muß ich ihn wiederfinden! Und doch, welch ein Glück, daß er da ist, hier wenigstens bin ich gewiß, daß alles geschehen wird, um ihn dem Tode zu entreißen. Dieser Offizier gehört meiner Pflege, er muß zu meiner Abteilung kommen!« rief sie dem Arzt zu, und ohne eine Antwort abzuwarten, ohne sich von dem General zu verabschieden, befahl sie sogleich den Trägern, ihr mit der Bahre zu folgen.

»Komm, meine Schwester,« sagte sie, Stjepanidas Hand ergreifend, »ich werde später für dich sorgen, jetzt mußt du mir beistehen, diesen da zu retten, er ist mein Freund, ein Freund meines Hauses, er darf nicht sterben.«

Das Innere des großen Lazaretts war in einzelne Verschläge abgeteilt, jeder Abteilung stand eine Krankenpflegerin vor. Der Raum war sauber gehalten, gut gelüftet und für die heiße Jahreszeit so frisch und kühl als möglich. Hastig schritt Jewa den Trägern voran; bald war der Verwundete entkleidet und auf eins der Betten in Jewas Abteilung niedergelegt. Der Arzt reinigte die Wunde und erklärte, daß nichts zu tun sei, als fortwährend frische Umschläge auf seinen Kopf zu legen.

Jewa sendete eine der dienenden Wärterinnen ab, um Stjepanida nach ihrer Wohnung zu führen und ihr die für den Dienst im Lazarett nötigen Kleidungsstücke zu verschaffen; sie selbst wich nicht von Rossianows Lager, immer wieder tauchte sie die Tücher, welche sich auf seiner fieberheißen Stirn schnell erhitzten, in das kühle Wasser, und wehmütige Freude verklärte ihre Blicke, wenn sie auf dem ernsten Gesicht des Kranken die Empfindung der wohltätigen Erfrischung erkannte.

Allmählich wurden seine Atemzüge ein wenig ruhiger, er öffnete einen Augenblick die Augen, sah sich verwundert um, und schien endlich, Jewa groß anschauend, in seinen Erinnerungen zu suchen.

»Darja,« flüsterte er dann leise – noch einmal wiederholte er kaum hörbar wie ein flüchtiger Hauch: »Darja«, – dann sanken seine Augenlider wieder herab, aber ein glückliches Lächeln blieb noch auf seinen Zügen haften.

Jewa zuckte zusammen, mit einem Ausdruck schmerzlicher Bitterkeit sah sie den wie leblos daliegenden und nur leise atmenden Kranken an.

»Ihr Bild hält seine Seele fest auch in der Betäubung des Fiebers,« sagte sie finster, »ihr Name schwebt auf seinen Lippen an den Grenzen des Todes – und sie?«

Ihre Worte erstarben, wie in sich selbst verloren schüttelte sie den Kopf, als ob sie einen schmerzlichen Gedanken zurückweisen wollte; dann nahm sie schweigend ihr Werk der Pflege des Verwundeten wieder auf.

 

Der Kaiser hatte die nächsten Kantonnements beritten, überall ward er von den Truppen, welche den vollendeten Übergang über den Balkan erfahren hatten, mit hellen Freudenrufen begrüßt, und der Anblick der eroberten Fahnen hatte die Begeisterung auf das höchste gesteigert. Der Jubel der Soldaten, welche von allen Seiten herandrängten, bildete einen eigentümlichen Gegensatz mit dem bleichen Ernst, der auf des Kaisers Gesicht lag, denn auch das ganze Gefolge, welches schnell die verhängnisvolle Nachricht erfahren hatte, ritt finster und trübe hinter dem Kaiser her; die jubelnden Soldaten aber merkten nichts davon, sie träumten nur noch von dem schnellen Siegeszuge nach Konstantinopel, der ja nun, da die Wege über den Balkan offen standen, in schnellem, unaufhaltsamem Vordringen beginnen mußte.

Der Kaiser kürzte seinen Ritt so viel als möglich ab; er zog sich, nach dem Hauptquartier zurückgekehrt, sogleich in sein Zelt zurück, und erst als er hier in diesem kleinen Raum allein war, trat die quälende Sorge in deutlichen Zügen auf sein Gesicht, ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust, er sank auf einen Feldstuhl nieder und stützte den Kopf in die Hände. Der riesige schwarze Molosserhund, welcher den Kaiser auf allen seinen Reisen begleitete, hatte sich bei dem Eintritt seines Herrn von dem Bärenfell erhoben, auf welchem er ausgestreckt lag, und schien die gewöhnliche Liebkosung zu erwarten; als er aber sah, daß sein Herr wie gebrochen zusammensank und schmerzlich stöhnend das Haupt beugte, da kam er langsam heran und leckte mit seiner breiten roten Zunge des Kaisers Hände; dann wendete er den gewaltigen Kopf nach dem Ausgange hin, und während seine Augen in grünem Glanze funkelten, ließ er ein leises, drohendes Knurren hören, als ob er diejenigen suchen wolle, welche die Ursache seines Herrn Sorge waren.

Der Kaiser richtete sich auf, seine Augen schimmerten feucht, und ein Tränentropfen fiel auf den zottigen Kopf des Hundes.

»Du richtest dich auf, Mylord, mein treues Tier,« sagte er, »um die Feinde zu fassen, die mich bedrohen – könntest du's, hätte ich unter den Menschen Freunde wie dich, so würde auch ich mir den Mut niemals beugen lassen. Aber auf wen kann ich mich verlassen – auf wen in dieser weiten Welt, die sich meinem Winke beugt und in der ich doch immer und immer wieder vergeblich nach Werkzeugen suche, die meinen Gedanken die Ausführung geben? Wie hat dies Unheil geschehen können, wie ist es möglich gewesen, daß trotz meines Befehls Plewna, dieses unglückselige Plewna, nicht rechtzeitig besetzt wurde? – Habe ich nicht vermessen das Schicksal herausgefordert, als ich diesen Kampf begann, ohne meiner Kraft zu seiner Durchführung gewiß zu sein? Und wenn diese Niederlage Folgen hat, wenn diese zerfallene und von ganz Europa verspottete Türkei dennoch vor dem Anprall der russischen Macht aufrecht stehen bliebe, was würde dann die Zukunft meines Reiches sein? – Mein Vater hat weichen müssen vor der Macht von halb Europa, und er hat den Schlag nicht überwunden, und wenn ich nun besiegt würde, oder wenn ich nur nicht zu siegen vermöchte, habe ich recht gehabt, auf die neidische Mißgunst Rücksicht zu nehmen, die doch im Herzen Österreichs lebt und auf die Entfaltung des großen Slawenbanners zu verzichten – wird es noch möglich sein, wieder zu gewinnen, was durch diese Zögerung verloren ging?«

Er sprang auf und ging, wie von innerer Angst getrieben, in dem kleinen Raum auf und nieder. Der Hund folgte langsam und würdevoll den Schritten seines Herrn. Der Kaiser verlor sich in leises Selbstgespräch, nur von Zeit zu Zeit einzelne Worte wie in plötzlich auftauchenden und sich durchkreuzenden Gedanken ausstoßend.

Eine Stunde nach der andern verging, in banger Erwartung standen die Gruppen des Gefolges auf dem großen Hofe des Hauptquartiers. Von dem Festplatz schallte immer lauter und fröhlicher der Jubel des Volkes und der Truppen herüber, aber noch immer verließ der Kaiser sein Zelt nicht, keiner der Generale wurde gerufen, und immer banger wurde die Spannung, welche auf dem Hauptquartier lastete.

Endlich drang der Schall von Pferdehufen und lauten Stimmen in das Zelt des Kaisers, knurrend hob der Hund den Kopf in die Höhe, lauschend beugte sich der Kaiser vor und erkannte die Stimme des Großfürsten-Thronfolgers. Schnell eilte er zu dem Ausgange, halb auf den Hof hinaustretend, sah er den Cäsarewitsch vom Pferde springen, und die Arme ausbreitend, rief er seinen Sohn zu sich heran. »Du weißt, was geschehen?« fragte er, nachdem er den Eingang zu dem Zelt sorgfältig wieder verschlossen hatte.

»Ich weiß es,« erwiderte der Cäsarewitsch finster – »es ist versäumt, was niemals hätte versäumt werden dürfen, wenn das Oberkommando seine Pflicht getan hätte.«

»Es war ein Unglück«, sagte der Kaiser zögernd.

»Nein,« rief der Thronfolger lebhaft, »es war eine Schuld, ein Verbrechen und«, fügte er finster hinzu, »eine Schwäche, die sich furchtbar rächt, eine Schwäche, daß wir beim Beginn eines Kampfes, bei dem es sich um Rußlands Zukunft und um Rußlands Ehre handelte, unsere Blicke nach den Fremden wendeten, welche doch immer nur unsere Feinde sind und welche immer nur Haß und Furcht für Rußland haben.«

»Sei nicht ungerecht, mein Sohn,« sagte der Kaiser, »dein Oheim –«

»Mein Oheim hat nicht das Recht, ein schlechter General zu sein,« rief der Thronfolger heftig, »weil er der Bruder des Kaisers ist, und ich wäre ungerecht gegen Rußland, das ja hoch über uns allen steht, wenn ich die Wahrheit verschweigen wollte, die Wahrheit, die allein retten kann.«

Abermals hörte man Pferdegetrappel und laute Stimmen draußen. Ehe der Kaiser die Tür öffnen konnte, erschien bereits der Flügeladjutant vom Dienst und meldete den Großfürsten Nikolaus, welcher unmittelbar darauf über die Schwelle trat. Der General Nepokoitschinsky folgte ihm. Der Großfürst, erhitzt vom scharfen Ritt, aber heiter und ruhig, eilte auf seinen kaiserlichen Bruder zu und umarmte denselben; aber als er sich dann zu seinem Neffen, dem Thronfolger, wendete, richtete sich dieser zu so strengem militärischen Gruß auf, daß sein Oheim die ausgestreckte Hand sinken ließ und, ebenfalls militärisch grüßend, nur mühsam seine Fassung behielt.

»Ich begreife, daß du in Sorge bist, Sascha«, sagte er zum Kaiser gewendet; »es ist ein peinlicher Vorfall, der dem General Schildner-Schuldner widerfahren ist. Krüdener hat unrecht gehabt, nicht mit sicherer Übermacht die bei Plewna zusammengetroffenen versprengten Truppen der Feinde anzugreifen; die Verluste sind zu beklagen, aber der Schaden wird bald wieder gutgemacht werden.«

»Das wird nicht möglich sein«, rief der Thronfolger laut, mit hartem, drohendem Ton; »um den Türken bei Plewna eine Übermacht gegenüberzustellen, reichen alle Kräfte nicht aus, über die wir hier verfügen können, und solange Osman Pascha dort steht, der beste General der Pforte, in seinen festen Positionen, so lange können wir keinen Schritt vorwärts tun, so lange können wir keine Nacht ruhig schlafen.«

»Ich kenne unsere Stellungen,« erwiderte der Großfürst Nikolaus mit hochmütiger Schärfe, »und vielleicht muß ich sie bester kennen, als irgend jemand, da der Kaiser das Oberkommando in meine Hand gelegt hat. Ich weiß, was uns vor Plewna bedroht und was wir tun müssen, um die Gefahr abzuwenden.«

»Es wird schwerer sein, sie abzuwenden, als es gewesen wäre, sie zu vermeiden«, erwiderte der Cäsarewitsch, den stolzen Ton seines Oheims überbietend.

Der Großfürst wollte noch heftiger antworten, der Kaiser aber, peinlich berührt durch diese Szene, legte die Hand auf seinen Arm und sagte:

»Wir haben keine Zeit zu verlieren, was geschehen soll, muß bald geschehen. Ich habe euch beide rufen lassen, um sogleich einen Kriegsrat zu halten. Der Kriegsminister soll kommen«, fuhr er zu dem General Nepokoitschinsky gewendet fort, der sogleich hinauseilte, um den Befohlenen zu rufen.

»Und Ignatiew?« fragte der Thronfolger.

»Er hat sich krank gemeldet«, erwiderte der Kaiser, »und liegt in heftigem Fieber; es würde vergeblich sein, ihn zu holen.«

»Du willst Kriegsrat halten,« sagte der Großfürst Nikolaus ein wenig verwundert und verstimmt – »es ist kaum nötig, ich habe schon den Befehl abgesendet, Plewna mit verstärkten Kräften anzugreifen.«

»Der uns nur eine neue Niederlage bringen wird«, fiel der Thronfolger ein.

»Die Lage ist ernst«, sagte der Kaiser; »eine unvorhergesehene Schwierigkeit zeigt sich in unserer Nähe, wir müssen die Lage genau prüfen; ich habe nicht das Recht, das Leben eines einzigen russischen Soldaten unnütz zu opfern.«

Unmutig blickte der Großfürst Nikolaus zur Erde.

Der General Nepokoitschinsky erschien wieder mit dem Kriegsminister Miljutin. Der Kaiser ließ sich neben seinem Schreibtisch nieder, auf welchem eine Karte des Kriegsterrains ausgebreitet war; die übrigen nahmen auf den umherstehenden Feldstühlen Platz.

»Ihr wißt alle, was geschehen«, sprach der Kaiser ernst; »was meinst du, Nikolai, daß zu tun sei?«

»Vor allen Dingen«, sagte der Großfürst lebhaft, »ist es nötig, den unglücklichen Zufall nicht zu ernst zu nehmen, es ist das ein Wechselfall, wie er im Kriege unvermeidlich vorkommt. Es ist ein Fehler begangen, ich räume es ein, daß man Plewna nicht schneller und stärker besetzt hat; das wird einige Opfer kosten, aber in dem Gange unseres Feldzuges nichts ändern. Wir werden Plewna nehmen, vielleicht ist das in diesem Augenblicke schon geschehen, und dann in schnellem Vormarsch nach Adrianopel dringen. Vielleicht, und ich glaube das fast als gewiß anzunehmen, werden wir dort bereits die Boten des Sultans mit der Bitte um Frieden finden; der Sultan selbst würde heute schon Frieden schließen, wenn aber der Einfluß der Engländer ihn dennoch zurückhält – nun, so liegt der Weg von Adrianopel nach Konstantinopel frei vor uns, wir werden dort kaum noch beachtenswerten Hindernissen begegnen, und der endliche Sieg wird entschieden und unser Vaterland gerächt sein.«

Der Kaiser hatte mehrmals leise den Kopf geschüttelt und mit einem Wink seiner Hand den Thronfolger zurückgehalten, welcher, heftig auffahrend, seinen Oheim unterbrechen wollte.

»Ist das auch deine Meinung, Arthur Abrahamowitsch?« fragte der Kaiser, zum General Nepokoitschinsky gewendet.

Dieser blickte auf den Großfürsten.

»Ich habe, wie es meine Pflicht ist,« sagte er dann zögernd, »die Lage, in die wir versetzt sind, genau geprüft – Seine Kaiserliche Hoheit kennt meine Meinung.«

»Der Generalstabschef«, sagte der Großfürst schnell, »muß vorsichtiger sein als der Feldherr, an ihm ist es, zu berechnen; meine Pflicht ist zu wagen, wo ich die Überzeugung von der Sicherheit des Erfolges in mir trage.«

»Ich will deine Meinung hören, Arthur Abrahamowitsch,« sagte der Kaiser, seine großen Augen mit strengem Blick auf den General richtend, »es handelt sich um Rußlands Ehre und Zukunft und das Leben von Tausenden meiner braven Soldaten. Sage, was du meinst, deutlich, und ausführlich, aber bedenke, daß du unter deiner persönlichen Verantwortung sprichst.« Das eherne, bleiche Gesicht des Generals nahm einen noch feierlicheren Ernst an; er stand auf, trat vor die auf dem Schreibtisch des Kaisers liegende Karte und sagte:

»Eure Majestät sollen ganz meine Meinung hören, und sollte sie mißfallen, so bitte ich, mir zu verzeihen, aber ich kann meine Überzeugung nicht ändern.«

»Die Wahrheit kann niemals mißfallen«, sagte der Kaiser, »und wäre sie noch so bitter. Sprich!«

»Eure Majestät werden sich erinnern,« sagte der General, »daß ich schon in Petersburg, als ich die Ehre hatte, meinen Plan des Feldzugs zu entwickeln, auf die Wichtigkeit der Position von Plewna aufmerksam gemacht habe; hätten wir diese Position vor den Feinden besetzt, und hätten wir, den Feldzug in drei Teile teilend, für dieses Jahr am Balkan angehalten, so wäre das Unglück, das wir jetzt überwinden müssen, nicht geschehen.«

»Und warum ist jener Plan nicht festgehalten worden?« fragte der Kaiser.

Abermals blickte der General zögernd auf den Großfürsten.

»Weil«, rief dieser, »der günstige Augenblick nicht wiederkommt, weil das Glück uns die Hand bot, und weil der Soldat dem Glück folgen muß.«

Der Thronfolger biß die Zähne zusammen und murmelte unverständliche Worte.

»Antworte mir, Arthur Abrahamowitsch«, sagte der Kaiser.

»Majestät,« erwiderte der General, »der begangene Fehler wird vielleicht die Verzeihung, um die ich Eure Majestät untertänigst bitte, finden, wenn ich seine Ursache erklären darf. Nachdem die Truppen bis zum Balkan vorgedrungen waren, konnte die einzige Gefahr, welche in den Positionen von Plewna lag, von der bei Widdin stehenden Armee Osman Paschas kommen; diese Armee aber mußte nach unserer Berechnung durch die rumänischen Truppen festgehalten und beschäftigt werden, und wenn wirklich Osman Pascha sich südwärts wenden sollte, so mußte man mit Gewißheit voraussetzen, daß die Rumänen ihm augenblicklich folgen, ihn gegen uns herandrängen und ihn verhindern würden, sich festzusetzen. Dies ist nicht geschehen, die rumänische Armee steht untätig an ihrer Grenze, und dadurch gewann Osman Pascha Zeit, sich in den Positionen von Plewna zu befestigen.«

»Man konnte kaum daran zweifeln,« rief der Thronfolger, »was gehen uns die Rumänen an; wo es sich um die Ehre Rußlands handelt, durften wir uns nur auf die eigene Kraft verlassen.«

»Außerdem«, fuhr General Nepokoitschinsky fort, »ist der Feldzugsplan verändert und beschleunigt durch den Balkanübergang des General Gurko, der einen glücklichen Zufall benutzte, um dieses kühne und glänzende Unternehmen auszuführen, was freilich unseren Linien eine langgestreckte und schwer zu haltende Ausdehnung verlieh. Unter diesen Umständen ist das plötzliche Erscheinen einer bedeutenden türkischen Macht in fester Position, so nahe dem Herzen unserer Stellung, eine ernste Gefahr.«

»Und was muß geschehen,« fragte der Kaiser, »um diese Gefahr zu überwinden?«

»Meine Meinung«, erwiderte der General, »wird vielleicht dennoch Eurer Majestät mißfallen, wie sie Seiner Kaiserlichen Hoheit mißfallen hat, aber ich kann sie nicht ändern. Als die deutsche Armee vor Paris stand,« fuhr er fort, »war die starke Armee des Marschall Bazaine in Metz in der Flanke der deutschen Aufstellung; die deutschen Truppen hätten nicht nach Paris vorgehen können, wenn sie nicht imstande gewesen wären, Metz vollständig einzuschließen und so den Marschall Bazaine unschädlich zu machen, bis er zur Kapitulation gezwungen wurde. Plewna, Majestät, ist unser Metz, Osman Pascha ist unser Bazaine, und er ist als Feldherr wohl ebenbürtig jenem tapferen Marschall, dem Frankreich mit so schwerem Undank gelohnt.«

»Nun denn,« sagte der Kaiser, »so meinen Sie also, daß auch wir Plewna einschließen und unschädlich machen müssen, bevor wir weiter vorrücken dürfen?«

Der Thronfolger nickte lebhaft zustimmend mit dem Kopfe, der Großfürst Nikolaus drehte unmutig seinen Schnurrbart.

»Das meine ich,« erwiderte Nepokoitschinsky, »aber –«

»Nun,« fragte der Kaiser, »noch ein Aber?«

»Die Deutschen, Majestät,« erwiderte der General, »vermochten es, Metz einzuschließen, weil sie dazu die genügenden Truppen besaßen – wir,« sagte er traurig, aber mit Bestimmtheit, »wir, Majestät, besitzen diese Truppen nicht, wir vermögen es nicht, dem gefährlichen Feinde in den Redouten von Plewna die Zufuhr abzuschneiden; wir vermögen es nicht, zu verhindern, daß er sich nicht eines Tages, während wir im trügerischen Siegeslauf vorrücken, vernichtend in unsern Rücken stürzt.«

»Aber Sie hielten selbst«, sagte der Kaiser, »unsere mobile Truppenzahl für genügend.«

»Sie war genügend, Majestät, wenn die Rumänen mitwirkten, oder wenn wir nach meinem Plan den Feldzug für dieses Jahr nur bis zum Balkan ausdehnten und Bulgarien fest in unseren Händen hielten, bevor wir den weiteren Vormarsch unternahmen. Jetzt ist unsere Macht nicht genügend, wir können Plewna nicht einschließen, wenn wir nicht uns nach anderen Richtungen bloßstellen wollen.«

Der Kaiser sprang auf und ging lebhaft in dem kleinen Raum auf und nieder, heftig arbeitete seine Brust und in lauten, zischenden Tönen stieß er den Atem zwischen den Lippen hervor.

»Sei ruhig, Sascha,« sagte der Großfürst, zu ihm herantretend und zärtlich die Hand auf seine Schulter legend, »sei ruhig, es ist nicht so schlimm, wir werden alles überwinden.«

»Wir müssen alles überwinden«, sagte der Kaiser, indem er heftig mit dem Fuß auf den Teppich trat, und gewaltsam sich überwindend, setzte er sich wieder auf seinen Stuhl nieder und sprach:

»Und was muß geschehen, Arthur Abrahamowitsch – wenn du die Gefahr der Lage erkannt hast, so wirst du auch über die Mittel nachgedacht haben, dieser Gefahr zu begegnen?«

»Ich bin nicht zweifelhaft darüber, Majestät,« erwiderte der General, »aber es wird nötig sein, manche Illusion, manche stolzen Hoffnungen aufzugeben, um mit der unerbittlichen Wirklichkeit zu rechnen. Ich halte es für unmöglich, den Marsch über den Balkan hinaus fortzusetzen, solange Osman Pascha mit seiner Armee in Plewna steht; so glänzend und großartig der Übergang über den Balkan war, er war ein Fehler, und sobald man einen Fehler erkennt, muß man ihn verbessern. Wir müssen rückwärts gehen, Majestät, kein russischer Soldat darf in den Tälern jenseits des Balkan bleiben, solange wir Plewna nicht genommen haben. Der einzige Vorteil dieser Expedition, immerhin ein großer Vorteil, bleibt der Besitz von Schipka, und diesen Paß freilich müssen wir um jeden Preis halten, um den Weg für den Zukunft frei zu haben.«

Der Großfürst wollte sprechen, schnell aber kam ihm der Kaiser zuvor und sagte:

»Das ist hart, aber notwendig; ich stimme deinem Vorschlage bei, es soll geschehen, wie du sagtest. Und wieviel Zeit werden wir bedürfen,« fragte er weiter, »um Plewna zu nehmen? Denn genommen muß dieser Unglücksplatz werden, meine Ehre, das Schicksal Rußlands, das Schicksal der Völker, die auf uns hoffen, hängt daran.«

»Majestät,« sagte der General sehr ernst, »die bloße Tapferkeit wird Plewna niemals nehmen, und wenn jeder unserer Soldaten streiten würde wie einer der Helden der alten Sage; wir müssen einen traurigen, aber notwendigen Verbündeten suchen – den Hunger. Noch hat Osman Pascha die Straße nach Sofia völlig frei, erst wenn ihm diese Lebensader abgeschnitten ist, wenn er, vollkommen eingeschlossen, keine frischen Vorräte mehr erhalten kann, wird sich berechnen lassen, in welcher Zeit wir den Fall von Plewna erzwingen können; um aber Plewna einzuschließen, wie die deutschen Truppen Metz einschlossen, dazu müssen wir über neue Armeen verfügen können. Die Korps, welche jenseits des Balkans stehen, kommen kaum in Berechnung, sie werden an den Nordabhängen bleiben müssen, um die Pässe zu halten, denn es wird binnen kurzem eine neue türkische Macht herausdringen, um uns vom Süden zu fassen. Die Armee Seiner Kaiserlichen Hoheit des Cäsarewitsch wird genug zu tun haben, um die Angriffe vom Osten auf unsern linken Flügel zurückzuweisen, auch von dort wird der Feind versuchen, in unsere Stellungen Zu dringen. Eure Majestät können überzeugt sein, daß man in Konstantinopel ebensogut weiß wie wir. daß Osman Pascha in Plewna steht und uns ins eigene Herz hinein bedroht. Wenn es dem Feinde gelänge, von außen her unsere Stellungen an irgendeinem Punkte zu durchbrechen, dann, Majestät, würde ich keinen Rat mehr wissen. Seine Kaiserliche Hoheit der Cäsarewitsch«, fügte er mit einem Blick voll Teilnahme zum Thronfolger hinzu, der mit atemloser Spannung seinen Worten lauschte, »wird eine schwere und wenig verlockende Aufgabe zu übernehmen haben; er wird nach meiner Auffassung der Notwendigkeiten unserer Lage gezwungen sein, sich streng auf die Verteidigung zu beschränken, niemals, unter keiner Bedingung zum Angriff überzugehen, denn von dem Festhalten seiner Stellung hängt die Existenz der Armee, Rußlands Ehre und Kriegsruhm und die endliche Gewißheit des Sieges ab, an den ich so fest glaube, wie an das Licht des Himmels, wenn wir nur jetzt durch strenge, kaltherzige Rücksicht wieder gut machen, was die Übereilung begeisterten Heldenmutes verdorben hat. Die Aufgabe, welche die Notwendigkeit dem erlauchten Cäsarowitsch zuweist, ist, wie ich wiederholen muß, eine peinliche, undankbare, der fortwährende Verteidigungskampf bringt keinen Ruhm, denn auch mit dem höchsten Heldenmut und mit der äußersten Anstrengung kann und darf immer nur die Stellung festgehalten werden, welche uns schon gehört. Das ist ein Kampf ohne Sieg, denn die Welt pflegt den Sieg nicht im Erhalten, sondern nur im Erobern zu sehen; dennoch aber ist dieser Kampf der edelste und wichtigste, er wird schwerer wiegen in der Geschichte des Vaterlandes, als die glänzendsten Siege, denn er wird Rußland seine Ehre und seine Zukunft retten, und deshalb bin ich überzeugt, daß Seine Kaiserliche Hoheit auch diese undankbare und scheinbar ruhmlose Aufgabe übernehmen wird. Der bloße Verteidigungskrieg ermüdet die Truppen und läßt ihre Begeisterung erschlaffen; wenn aber des Kaisers Sohn und Erbe, die verkörperte Zukunft des Reiches selbst an ihrer Spitze steht, um den schweren Kampf mit ihnen zu kämpfen, dann wird ihr Mut frisch bleiben, und sie werden ausharren, bis das Unheil überwunden ist.«

Der Thronfolger beugte sich vor und reichte dem General die Hand.

»Ich werde die Aufgabe übernehmen,« sagte er, »ich werde es auf mich nehmen, keine Schlachten zu gewinnen, keine Lorbeeren zu pflücken, aber als treuer Wächter vor Rußlands Ehre zu stehen.«

Der Großfürst Nikolaus saß finster da, in seinen Mienen war deutlich der Unmut über die Worte des Generals zu lesen; mehrmals schüttelte er ungläubig und mißbilligend den Kopf, aber er machte keine Bemerkung mehr, da der Kaiser ja bereits die Vorschläge des Generalstabschefs angenommen hatte.

Nun sagte er mit düsterem Ton:

»Es ist eine traurige Belohnung für den kühnen General Gurko, daß er nach seinem so beispiellos glänzenden Übergang über den Balkan nun zurückgehen und die Frucht seines Sieges aufgeben soll.«

»Eure Kaiserliche Hoheit wollen zu Gnaden halten,« rief der General Nepokoitschinsky lebhafter, als er bisher gesprochen, »die Rücksicht auf einen General kann niemals die Kriegführung bestimmen; hat sich doch soeben auch Seine Kaiserliche Hoheit der Cäsarewitsch mit allen seinen persönlichen Wünschen dem großen Zweck geopfert; übrigens wird sich für den tapferen General Gurko wohl Gelegenheit finden, im Dienst des Vaterlandes seinen kühnen Mut zu bewähren, der auch dort nicht verloren war, da wir ihm den Schlüssel des Balkans, den Schipkapaß verdanken.«

»Nun,« sagte der Kaiser mit einem leichten Anklang von Ungeduld, »ich verstehe, es gilt also, zurückzugehen auf den ersten Feldzugsplan, am Balkan anzuhalten, bis kein Feind mehr auf bulgarischem Boden steht – nun aber Plewna, was soll mit Plewna geschehen, wie sollen wir den Ring ziehen, um diesen Unglücksplatz einzuschließen, wie die Deutschen Metz einschlossen?«

»Der Ring muß groß sein, Majestät,« erwiderte der General, »denn die natürlichen Verteidigungsmittel bei Plewna erstrecken sich weit über den Platz umher, und Osman Pascha hat sogleich angefangen, dieselben durch furchtbare Erdwerke zu erweitern. Es ist unerläßlich, daß Eure Majestät die Garden kommen und im übrigen im ganzen Reich noch so viele Truppen mobil machen lassen, als irgend möglich.«

»Die Garden,« rief der Kaiser erschrocken – »die letzte Reserve – was wird man in Europa sagen, was in Rußland selbst? Wird man nicht alles für verloren halten; wird nicht«, sagte er halbleise, »die lauernde Revolution ihr Haupt erheben, wenn die letzten, treuesten und unerschütterlichsten Wächter des Thrones das Land verlassen?«

»Ich bin nicht berufen, Majestät,« erwiderte der General Nepokoitschinsky, »über politische Fragen zu urteilen; ich könnte Eurer Majestät antworten, daß nach meiner militärischen Überzeugung das Erscheinen der Garden auf dem Kriegsschauplatz eine unabweisbare Notwendigkeit sei, und daß alles übrige mich nichts angeht. Aber ich möchte Eure Majestät doch um die Erlaubnis bitten, es aussprechen zu dürfen, daß der Revolution gegenüber, an deren Gefahren ich trotz einzelner böser Zeichen nicht so recht zu glauben vermag – daß auch der Revolution gegenüber die Entfernung der Garden von Petersburg lange nicht so gefährlich ist, als wenn Eure Majestät gezwungen würden, mit einem geschlagenen, entmutigten und moralisch zerrütteten Heere nach Rußland zurückzukehren. Die Gefahr ist nicht ausgeschlossen, wenn wir jetzt nicht mit der ganzen Kraft den plötzlich neben uns aus der Erde gestiegenen Feind zermalmen.«

»Der General hat recht,« rief der Thronfolger lebhaft, »er hat recht, sie werden niemals wagen, etwas zu unternehmen, so lange wir hier eine geschlossene und unbesiegte Armee um uns haben!«

»Ich würde«, sprach der General Nepokoitschinsky schnell weiter, »Eurer Majestät den untertänigsten Vorschlag machen, dem General Gurko das Kommando über die Garden zu geben und denselben nach Petersburg zu senden, um sie hierher zu führen; die tapferen Truppen können keinen besseren Führer haben, und er wird reichen und ehrenvollen Ersatz für seine unterbrochene Balkankampagne finden. Außerdem wäre es von großem Nutzen, wenn der Fürst von Rumänien sich endlich entschließen wollte, seine Truppen über die Grenze zu führen.«

»Fremde,« rief der Thronfolger finster – »sollen wir uns abermals auf Fremde verlassen?«

»Nein, Kaiserliche Hoheit,« erwiderte der General, »verlassen wollen wir uns nur auf die eigene Kraft, aber wir können niemals zu viel, ja kaum genug Truppen haben, um diesen Erdhaufen von Plewna einzuschließen und zu bezwingen, und die rumänische Armee wird in der Kette der Einschließung ihren Platz ausfüllen und ebensoviel russische Truppen nach anderen Richtungen hin frei machen.«

»Gut,« sagte der Kaiser, »es ist alles genehmigt, ich billige alles. Gurko soll sogleich zurückgerufen, sein Korps aufgelöst und unter die übrigen verteilt werden; der Kriegsminister soll sogleich den Befehl an die Garden schicken, sich marschfertig zu machen, und ohne Zögern soll Gurko sie dann hierher führen. Was den Fürsten von Rumänien betrifft, so will ich ein ernstes Wort sprechen, er hat seine Unabhängigkeit erklärt, seine Wünsche gehen weiter, er muß sich entschließen, klare Farben zu zeigen.«

Der Kaiser wollte sich erheben, aber der General Nepokoitschinsky sprach, indem er einen forschenden Blick auf den Großfürsten Nikolaus warf:

»Ich kann nicht umhin, Eure Majestät um die Erlaubnis zu bitten, noch ein letztes Wort zu sprechen. Mein allergnädigster Kaiser und Kriegsherr hat mir befohlen, in schwerer Stunde bei eigener Verantwortlichkeit zu sprechen; ich darf keinen Gedanken zurückhalten, der in mir zur Abwendung der Gefahren des Vaterlandes aufsteigt.«

Verwundert und unruhig sah ihn der Großfürst an.

»Es wird unmöglich sein,« fuhr der General fort, »die Erdredouten von Plewna mit Sturm zu nehmen, das feindliche Feuer würde unsere Reihen niederreißen und wir würden keinen Fuß breit Boden gewinnen, wenn wir nicht vorher durch regelmäßige Belagerung uns in Laufgräben den feindlichen Stellungen nähern. Das ist eine schwere Arbeit, der ich mich nicht gewachsen fühle, wenn ich zugleich die Leitung des Generalstabes der ganzen Armee führen soll; es gibt nur einen Mann in Rußland, den ich für fähig halte, dies Werk auszuführen.«

Der Großfürst Nikolaus erbleichte.

»Und der Mann ist?« fragte der Kaiser.

»Der General Tottleben, Majestät«, erwiderte Nepokoitschinsky mit klarer, fester Stimme.

»Ein Deutscher!« rief der Cäsarewitsch unmutig.

»Es gibt wahrlich keinen besseren Russen,« erwiderte Nepokoitschinsky mit unerschütterlicher Festigkeit, »als den Verteidiger von Sewastopol.«

Der Kriegsminister Miljutin rief:

»Der Mann, dem der hochselige Kaiser Nikolaus, Eurer Majestät erhabener Vater, die Verteidigung von Sebastopol anvertraute und der jenes Bollwerk des russischen Reiches so lange gegen zwei europäische Großmächte zu halten wußte, hat einen geheiligten Anspruch auf den Dank und das Vertrauen des Kaisers und des Vaterlandes.«

»Ihr habt recht,« sagte der Kaiser, »ihr habt recht, Tottleben soll kommen, man soll nicht sagen, daß irgend etwas versäumt ist. Wir wollen die traurige, langsame Schanzarbeit beginnen, da der Traum von einem stolzen Siegesflug dahin ist. Alle Befehle sollen auf der Stelle abgehen; treten wir dem Unglück entgegen mit ruhigem, unbeugsamem Willen, so ist es schon halb überwunden.«

Er stand auf. Der Großfürst Nikolaus trat bleich, die finsteren Blicke zu Boden gesenkt, vor ihn hin.

»Eure Majestät«, sagte er, »haben durch die Befehle, welche Sie soeben gegeben, meine Kriegführung verurteilt; es bleibt mir nur übrig, die Versicherung zu geben, daß ich mit meinem besten Willen und meiner besten Kraft gestrebt habe, den russischen Fahnen den Sieg zu gewinnen. Ich bitte Eure Majestät nun, mir mein Kommando abzunehmen und dasselbe würdigeren Händen anzuvertrauen.«

Ein Strahl von Freude flog über das Gesicht des Thronfolgers, zitternd stand der sonst so ruhige und unerschütterliche General Nepokoitschinsky da. Der Kaiser aber sah seinen Bruder, dessen Züge in diesem Augenblick dem gewaltigen Kaiser Nikolaus noch ähnlicher waren als sonst, mit wehmütigen Blicken an.

»Ich habe dich nicht verurteilt, mein Bruder,« sagte er sanft – »ich verurteile niemals den edlen Eifer, wenn er auf falschen Wegen das Ziel verfehlt – ich habe getan, was ich für notwendig erkenne, und wo es sich um das Heil des Vaterlandes handelt, darf es für mich keine andere Rücksicht geben, als meine Überzeugung. Ich weiß, daß du das Vaterland im Herzen trägst wie ich, im Namen des Vaterlandes, im Namen unseres Vaters, der in dieser Stunde auf uns herabsieht, mahne ich dich an die heilige Pflicht, die uns vor allem unser Blut auferlegt. Der Kaiser«, sagte er, sich hoch aufrichtend, »befiehlt dem General Nikolai Nikolajewitsch, das Oberkommando weiter zu führen – Alexander«, fügte er weich und innig hinzu, »bittet seinen Bruder Nikolai, ihn jetzt nicht zu verlassen.«

Der Großfürst schlug die Augen auf, vor dem bittenden, tränenfeuchten Blick seines kaiserlichen Bruders verschwand der finstere Unmut von seinem Gesicht.

»Du weißt es, Sascha,« sagte er, tief bewegt an die Brust des Kaisers sinkend, »ich kann dir nicht widerstehen, befiehl über mich, dir gehört meine Pflicht und mein Herz.«

Einen Augenblick hielten sich die beiden Brüder umschlungen, dann trat der Großfürst zu dem General Nepokoitschinsky, reichte ihm die Hand und sagte herzlich:

»Sie haben recht gehabt, Arthur Abrahamowitsch, ich danke Ihnen. Der ganze Feldzugsplan ist nun geändert«, sagte er dann; »da der Kaiser befiehlt, daß ich das Kommando weiter führe, so muß ich auch da sein, wo der Mittelpunkt unserer Aktion liegt; ich werde mein Hauptquartier vor Plewna nehmen, wenn es der Kaiser erlaubt.«

»Eure Kaiserliche Hoheit haben recht, tausendmal recht!« rief der General Nepokoitschinsky freudig bewegt – »dorthin gehört der Feldherr, denn dort ist die Entscheidung.«

Der Kaiser winkte entlassend den beiden Generalen, und als dieselben hinausgegangen waren, sagte er zögernd und fast schüchtern:

»Ihr seid verschiedener Meinung gewesen und tragt Groll im Herzen, das darf nicht sein. Wir stehen in gefahrvoller Stunde ernsten Kämpfen gegenüber; wie das ganze Rußland einig ist, so müssen es vor allem die Prinzen meines Hauses sein, in deren Adern das Blut der Romanow fließt – vergeßt euren Groll, reicht euch die Hände, ich bitte euch.«

Der Großfürst Nikolaus streckte seine Hand aus, der Cäsarewitsch stand unbeweglich da, die Augen zu Boden gesenkt.

»Ich will es!« sagte der Kaiser streng.

Langsam trat der Thronfolger einen Schritt vor und erfaßte die Hand seines Oheims, der Kaiser breitete die Arme aus und zog sie beide an seine Brust.

»So sind wir stark,« rief er ganz glücklich – »so von unserem Volk umgeben, werden wir eine Welt von Feinden überwinden!«

Der General Wajeikow, welcher als Hofmarschall des Hauptquartiers fungierte, trat ein und meldete, daß das Diner serviert sei. Der Kaiser begab sich mit den beiden Großfürsten nach dem großen Zelt, in welchem sich das ganze Gefolge in banger Erwartung befand. Wie mit einem Zauberschlage änderte sich die ängstliche und bedrückte Stimmung der ganzen Gesellschaft, als man den Kaiser so ruhig, ja von außergewöhnlich freudig strahlender Heiterkeit erblickte, und das Diner verlief an diesem Tage, der alle Herzen mit so banger Sorge erfüllt hatte, noch fröhlicher und heiterer als je vorher.

»Heute gibt es in Petersburg große Freude«, sagte der Kaiser im Laufe der Tafel so laut, daß alle seine Worte vernehmbar waren; »ich habe befohlen, daß die Garden herkommen, der General Gurko wird sie führen.«

Ein Augenblick tiefer Stille folgte dieser Mitteilung des Kaisers, feierlicher Ernst lag auf allen Gesichtern, jeder fühlte, daß die Gefahr, welche den bisherigen schnellen Siegeslauf unterbrochen hatte, groß und unmittelbar sei, aber jeder schöpfte aus den Worten des Kaisers die Überzeugung, daß alles geschehen werde, um den Sieg dennoch festzuhalten, und dies Bewußtsein verscheuchte alle Unruhe und alle Bangigkeit um die Zukunft.

Nach der Tafel rief der Kaiser den rumänischen General Prinzen Ghika, welcher sich als militärischer Vertreter des Fürsten Karl im Hauptquartier befand, zu sich heran, trat einige Schritte seitwärts von den übrigen und sagte mit einem Ernst, der den General erschrocken aufblicken ließ:

»Ich bin erstaunt, daß die rumänische Armee den General Osman Pascha nicht bei Widdin festgehalten, noch mehr aber, daß sie ihn nicht verfolgt hat. Ich erwarte, daß die rumänische Armee unverzüglich die Grenze überschreite und mit uns tätigen Anteil am Kriege nehme, denn bei ihrer bisherigen Haltung bin ich zweifelhaft, ob ich den Fürsten Karl für meinen Verbündeten halten darf.«

Bei diesen Worten des sonst so verbindlich artigen Kaisers verlor der Prinz Ghika fast alle Fassung.

»Wie wäre es möglich,« sagte er ganz verwirrt, »daß Eure Majestät an den Gesinnungen meines Herrn zweifeln könnten?«

»Gesinnungen«, fuhr der Kaiser in demselben strengen und rauhen Tone fort, »müssen sich durch die Tat ausdrücken. Fürst Karl ist mir wert, und ein Prinz des Hauses Hohenzollern – aber ich kann nicht leugnen, daß die Haltung Rumäniens mein Mißfallen in hohem Grade erregt. Sie werden Ihrem Herrn selbst einen Dienst leisten, wenn Sie sich unverzüglich zu ihm begeben und ihm meine Worte wiederholen – Kronen gewinnt man nur durch kühne Taten!«

Er wendete sich um und redete einen der in der Nähe stehenden Generale an.

Der Prinz Ghika blieb ganz niedergeschmettert stehen, unzusammenhängend nur antwortete er auf die an ihn gerichteten Worte; endlich verschwand er unbemerkt aus dem Zelt, um auf der Stelle sein Pferd zu besteigen und, von seinen bewaffneten Dienern gefolgt, auf der Straße nach Sistowo hinzureiten. Bald verließen auch der Großfürst Nikolaus und der Thronfolger das Hauptquartier; früh ging man an diesem Tage auseinander, und während in der langen Abenddämmerung immer noch die Landleute auf dem Festplatze jubelten, lag der Kaiser still und einsam, mit seinem Militärmantel bedeckt, auf dem eisernen Feldbett, seine herabhängende Hand ruhte auf dem Haupte des treuen Hundes, schwere, sorgenvolle Gedanken durchkreuzten sich in schmerzlicher Unruhe in seinem Kopf, und lange suchte er vergebens den Schlummer.


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