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28. Kapitel

Wladimir hatte Blagonow fortgeführt, sobald das Gefolge entlassen war, denn der Kaiser pflegte auf seinen Ritten durch das Lager immer nur einige Generale und den Flügeladjutanten vom persönlichen Dienst mitzunehmen. Er fragte und fragte immer wieder nach allem, was zu Hause vorgegangen, und kam auch auf das tragische Ende des Sekretärs Sacharin zu sprechen, von welchem ihm seine Frau geschrieben. Wohl fiel es ihm auf, daß Blagonow bleicher und bleicher wurde, als er nähere Umstände von diesem so überraschenden Ende des bisherigen Vertrauten des Fürsten hören wollte, und daß er, immer finsterer und verschlossener, nur kurze und einsilbige Antworten gab, doch schrieb er diese Zurückhaltung und Verstimmung seines Freundes dessen Ermüdung durch die lange Reise und dem düsteren Eindruck zu, den derselbe von dem in seiner Gegenwart und durch seine Veranlassung stattgefundenen schauerlichen Ereignis behalten haben mußte.

Nlagonow erklärte denn auch bald, daß er auf das äußerste erschöpft sei, und zog sich, um zu ruhen, in das kleine Zimmer zurück, das für ihn während seiner Abwesenheit offen gehalten war.

Er hatte sich, während Wladimir ausgegangen war, um noch ausführlichere Nachrichten über die Ereignisse am Schipkapaß zu sammeln, auf sein Bett niedergeworfen – aber der Schlaf, den seine ermüdete Natur unter anderen Verhältnissen gefunden haben würde, wollte sich nicht auf sein Haupt niedersenken.

Er hatte aus seiner geöffneten Brieftasche ein weißes Blatt Papier genommen, auf welchem von Sacharins Hand nur der Name Jewjeni Mossejew geschrieben war. Dies Blatt hatte er in dem Schreibtisch des Sekretärs bei der Durchsuchung der Bücher und Papiere desselben gefunden, und der Name dieses geheimnisvollen Menschen, der ihm zweimal das Erkennungswort des geheimen Bundes zugeflüstert und sich nun im Hauptquartier befand, hatte ihn in Sacharins Papieren mit dumpfem Schrecken und unbestimmter Angst erfüllt. Nichts gab Aufschluß über die Bedeutung und den Zweck dieser Aufzeichnung des Namens jenes Menschen, den er einst in der Nacht von Wolotschina entführt hatte – und doch mußte diese Notiz bei dem so vorsichtigen Sacharin einen Zweck und eine Bedeutung haben. Es lastete auf ihm die unbestimmte Ahnung irgendeiner ungeheuren dunklen Gefahr, welche mit dem unter so auffallend veränderten Verhältnissen im Hauptquartier aufgetauchten Studenten zusammenhängen mußte, und der Druck dieser peinlichen Empfindung wurde so mächtig in ihm, daß er seinen Kommandeur bat, ihn mit der Meldung über die Marschroute der Garderegimenter nach dem Hauptquartier zu senden, was dieser um so lieber tat, als die anderen Offiziere mit ihren Vorbereitungen für den Feldzug vollauf beschäftigt waren. So war er denn angekommen, immer von seinen unruhigen, angstvollen Gedanken verfolgt, und in der Einsamkeit seines Zimmers hatte er wieder jenes geheimnisvolle Papier hervorgezogen, das er schon so viel hundertmal betrachtet, und an dem er doch immer wieder irgendein Zeichen zu finden suchte, das ihm Licht bringen könnte, in dem Dunkel, das ihn umgab.

Die Tür seines Zimmers öffnete sich vorsichtig und Stephan Sacharjew trat ein.

»Herr,« sagte er, ehrfurchtsvoll Blagonows Hand küssend, »Gott segne Euch, daß Ihr wieder da seid. Ich habe getreulich befolgt, was Ihr befohlen habt, und den verwünschten Studenten beobachtet auf all seinen Schritten, und richtig ist es nicht mit ihm, er gehört dem Teufel mit Leib und Seele, der ihn schon damals in Wolotschina in seinen Krallen hielt; bei Gott, Herr, wenn Ihr nicht wieder gekommen wäret, ich hätte ihn niedergeschlagen oder an einen Baum geknüpft, um ihn unschädlich zu machen.«

Blagonow war aufgesprungen, in höchster Spannung hingen seine Blicke an Stephan Sacharjew. »Was ist's mit ihm?« rief er; – »erzähle, was hat er getan?«

»Ja, wenn ich's genau wüßte, Herr,« erwiderte Stephan – »aber Unheil ist's gewiß, was er sinnt und brütet, denn die Nacht bringt nichts Gutes, und wer auf den rechten Wegen ist, scheut den Tag nicht.«

»Sprich deutlich,« sagte Blagonow ungeduldig, »erzähle nach her Reihe, was vorgefallen ist.«

»Lange«, sagte Stephan, »hatte ich nichts Außergewöhnliches und Verdächtiges bemerkt, als daß dieser elende Jewjeni Mossejew ein Leben in Überfluß und Übermut führte, während so viele brave Soldaten darbten, und daß er sogar mit seinen unverschämten Zudringlichkeiten die frommen Krankenpflegerinnen verfolgte, die Gott segnen möge. Ich habe ihn dafür derb zurechtgewiesen, und das schwöre ich Euch, Herr, er wird seine Unverschämtheiten nicht wieder versuchen, wenn ich in der Nähe bin.«

»Du hast recht getan,« sagte Blagonow, »doch weiter!«

»Da endlich, Herr, sah ich, daß er abends spät die Tür seines Hauses verließ und in der tiefen Dunkelheit auf das freie Feld hinausging. Ein Kosak folgte ihm. Lange sprachen sie eifrig miteinander, ich konnte mich nicht nähern, sonst hätten sie mich entdeckt. Endlich verschwand der Kosak, ich weiß nicht wohin, und Jewjeni kehrte wieder in sein Haus zurück, aber er sah blaß und verstört aus, als ob Schreckliches ihm widerfahren wäre, und seit jener Zeit sitzt er still und trübselig in seinem Hause; wenn er herauskommt, um Proviantsendungen abzunehmen, stiert er vor sich hin und fährt bei jedem Wort ängstlich zusammen, als ob er irgendein Unheil fürchte. Ja, ja, Herr, es ist wohl möglich, daß jener Kosak, mit dem er so geheimnisvoll auf dem Felde in dunkler Nacht verkehrte, der Teufel selbst gewesen ist, der ihn mahnte, daß seine Zeit abgelaufen sei, und von dem er noch eine kurze Frist gewonnen haben mag zu neuen Schandtaten. Nur abends verläßt er seit jener Zeit seine Wohnung, und dann schleicht er vorsichtig um das kaiserliche Hauptquartier herum, wie ein nächtliches Raubtier, das seiner Beute nachstellt.«

»Um das kaiserliche Hauptquartier?!« rief Blagonow, heftig Stephans Arm ergreifend.

»Ja, Herr, ja!« erwiderte Stephan; »es ist eigentlich nichts dabei, dieser verdammte Jewjeni trägt die kaiserliche Uniform der Intendantur und kann ebensogut wie jeder andere im Dorf und im Lager herumgehen und ebensogut neugierig sein, einmal einen Blick auf die Wohnung unseres allergnädigsten Zaren und in dessen Fenster zu werfen, und was sollte ein solch elender Wurm auch gegen unseren großmächtigsten Herrn tun können –, aber weiß Gott, Herr, es schnürt mir immer das Herz zusammen, wenn ich ihn da so herumschleichen sehe; wenn er nur einmal etwas gegen die Ordnungen und das Reglement getan hätte, so hätte ich ihn schon längst festgehalten und auf die Wache gebracht.«

Blagonow ging in tiefer Bewegung auf und nieder, er schien seine Gedanken zu sammeln, um das, was er erfahren, in seinem Geiste zu ordnen und mit dem geheimnisvollen Papier in Zusammenhang zu bringen.

»Du hast recht getan,« sagte er endlich, vor Stephan stehen bleibend, »ich danke dir – vielleicht ist das alles nichts, vielleicht aber knüpft sich dennoch ein Unheil an diesen Menschen, so elend und unbedeutend er auch ist. Höre weiter: verdopple deine Wachsamkeit, laß ihn keine Minute aus den Augen, sobald er sein Haus verläßt, ich werde wach bleiben, du findest mich stets hier oder dort drüben am anderen Ende des Dorfes bei dem Lager des kaiserlichen Konvois vor dem Zelte des Obersten Tscherewin. Sobald du siehst, daß jener Jewjeni sich wieder zur Nachtzeit dem Hause des Kaisers nähert, wirst du sogleich durch irgendeine Ordonnanz mich rufen lassen, du selbst aber wirst in seiner Nähe bleiben wie sein Schatten, bis ich komme.«

»Gut, Herr, gut,« erwiderte Stephan, »seid gewiß, daß ich alles genau so tun werde, wie Ihr befehlt, und sollte ich noch ein ganzes Jahr darum nicht schlafen können, wenn ich nur die Freude habe, zu sehen, daß dieser giftigen Natter der Kopf zertreten wird.«

Lange noch ging Blagonow in tiefen Gedanken auf und nieder, ohne daß er nur den Versuch machte, die Ruhe zu finden, deren er nach der langen Reife bedurfte.

Das Leben im Lager nahm seinen gewöhnlichen, Verlauf. Der Fürst von Rumänien reiste am nächsten Tage ab, um von Kerabia aus seine Armee in die bestimmten Stellungen bei Plewna zu führen, und mit Spannung erwartete man allgemein die Wiederaufnahme der Kämpfe, welche die Bewegungen der ganzen Armee wieder von dem plötzlich aufgetauchten gefährlichen Hemmnis befreien sollten.

Mehrere Tage waren vergangen, ohne daß Stephan etwas Neues zu melden gehabt. Jewjeni hatte seine Wohnung nicht verlassen und der arme Stephan Sacharjew vergeblich bis zum Morgenlicht seine müden Augen offen gehalten, um die Tür der Intendantur zu überwachen.

Am vierten Tage nach der Rückkehr Blagonows ins Hauptquartier hatten die Herren des Gefolges ziemlich spät das kaiserliche Speisezelt nach Aufhebung der Tafel verlassen. Der helle Schein, des Vollmondes lag über dem Lager, in welchem allmählich die lauten Stimmen des Tageslebens verklangen. In der Ebene und auf den Anhöhen schimmerten die Wachtfeuer, und die ganze Gegend bot einen wunderbaren Anblick voll Reiz und Poesie. Blagonow, welcher häufig die Einsamkeit suchte, um mit seinen, fest auf einen Punkt gerichteten Gedanken zu verkehren, schritt langsam, von dem Reiz der wundervollen Mondnacht, welche ihren silbernen Schimmer über all dies kriegerisch bewegte und doch äußerlich scheinbar so ruhige Leben ausgoß, überwältigt, durch das Lager hin. An der Seite des Dorfes, am Saume der Gebüsche, welche dasselbe umringten, war eine Reihe von Marketenderzelten aufgestellt; um die von Windlaternen erleuchteten! Tische saßen Offiziere und Soldaten beim Abendtrunk in lebhaften Gesprächen.

Vor einem dieser Zelte vernahm Blagonow englische Worte, und unwillkürlich blieb er stehen, die Gruppe zu betrachten, welche bei einer dampfenden Punschbowle beisammen saß. Es waren Korrespondenten englischer Blätter, kenntlich an den Ärmelabzeichen, welche diese Herren tragen mußten, damit die Wachen sie der ihnen erteilten Erlaubnis gemäß passieren ließen.

»Sie werden sehen,« rief der eine der Engländer, »an diesem, Plewna geht die ganze russische Armee zugrunde, und der Übermut, mit welchem die Russen diesen Krieg begannen, um uns aus dem Oriente zu verdrängen, wird seine bittere und gerechte Strafe finden.«

»Das glaube ich nicht,« erwiderte ein anderer Korrespondent, welcher einen großen, militärisch geformten Helm von Guttapercha auf dem Kopfe trug, »und das kann ich als guter Engländer nicht wünschen; diese Russen sind vortreffliche Soldaten, ich bin überzeugt, daß, so viel Opfer es auch kosten mag, sie dennoch mit Osman Pascha fertig werden. Hätten wir ein Ministerium Gladstone, so würden wir nicht eine so törichte Politik machen und diese elenden Türken gegen die Russen unterstützen. Wir müssen uns offen mit ihnen verständigen und in den Orient teilen, die Welt hat Platz genug für uns beide; wir würden vereinigt Europa und Asten beherrschen, statt daß wir so unsere Kräfte aufreiben und vielleicht alles verlieren.«

Eine Zeitlang wurde das Gespräch lebhaft weitergeführt, jeder der Herren verteidigte seine Ansicht, und Blagonow, welcher die englische Sprache verstand, lauschte aufmerksam den entgegenstehenden Meinungen, welche für ihn den Wert objektiver, außerhalb des unmittelbaren Interesses stehender Urteile hatten.

»Und ich bleibe dabei,« rief der Herr mit dem Guttaperchahelm, »daß die Russen oben bleiben. Es gäbe«, fügte er hinzu, »nur ein wirkliches Unglück, das wäre,« sagte er, ein wenig die Stimme dämpfend, »wenn der Kaiser sich in irgendeinem Gefecht exponierte und von einer Kugel getroffen oder wenn in diesem Augenblick irgendein erfolgreiches Attentat unternommen würde. Dann allerdings wäre kaum abzusehen, was geschehen sollte, denn wenn diese auseinandergerissene, in so weiten Distanzen im feindlichen Lande stehende Armee plötzlich den Mittelpunkt verlöre, der sie innerlich verbindet und mit Siegesmut erfüllt, wenn dann etwa gar zugleich in Rußland selbst irgendeine revolutionäre Bewegung sich erhöbe, dann freilich wäre die Gefahr groß; aber ich bleibe dabei, auch dann würden wir wenig Vorteil von der russischen Niederlage haben, und es wäre immer besser für uns, wenn wir mit den Russen gemeinschaftlich Ordnung im Orient schaffen könnten.«

Das Gespräch wurde etwas leiser fortgesetzt, aber Blagonow hörte nichts mehr; die letzten Worte hatten ihn tief erschüttert, es war, als ob eine plötzliche Erleuchtung seinen Geist durchblitzte – ja, in der Tat, wenn der Kaiser jetzt verschwände, wenn der Armee und Rußland der Mittelpunkt genommen würde, dann wäre alles verloren, dann würde all der seit Jahren zusammengetragene Zündstoff, den er selbst so genau kannte, zu hellen Flammen auflodern, und Menschenalter würden vielleicht nicht hinreichen, den entfachten Brand zu löschen. Wie mit Flammenschrift trat Jewjenis Name aus jenem geheimnisvollen Blatt vor seinen Blick – er dachte an Stephan Sacharjew, der ihn vielleicht suchen würde, und mit schnellen Schritten eilte er weiter nach dem Lager des kaiserlichen Konvois.

Hier war vor dem Zelte des Flügeladjutanden Obersten Tscherewin eine große Hütte von Baumzweigen errichtet, aus welcher man durch die offene Langseite die lange Schlucht mit den gegenüberliegenden Abhängen und den Weg nach Plewna hin im Glänze des Mondlichtes wie ein Panorama übersehen konnte. In dieser Laubhütte pflegten sich abends, wenn der Dienst beendet und die kaiserliche Tafel aufgehoben war, die Offiziere des Gefolges zu traulichem Gespräch zu versammeln. Auch heute war das Zelt dicht gefüllt; man sah hier die Uniformen aller Waffen und Grade, Windlichter standen auf dem Tisch, und in zwanglosen Gesprächen schlürften die Herren die verschiedenen Getränke, welche die Gastfreundschaft des Obersten ihnen bot.

Blagonow schloß sich dem Kreise an und wählte seinen Platz wie immer an der äußeren Seite der Hütte, so daß er vom Wege her gesehen werden konnte und auch imstande war, sich leicht und ohne Aufsehen zu entfernen. In der Mitte des Tisches saß der von der Balkanexpedition zurückgekehrte General Michael Dmitrijewitsch Skobeljew, ein junger Mann vom einunddreißig Jahren, mit langem, blondem Schnurrbart, die Burka über den Schultern. Sein jugendlich blühendes Gesicht hatte markige, ausdrucksvolle Züge, in welchen sich die frische Heiterkeit des Lebemannes mit der ernsten Strenge des Soldaten vermischte. Der General erzählte von seinen kühnen Zügen gegen die türkische Balkanarmee, und manches Abenteuer, das er in lebendiger Schilderung vortrug, würde bei den Zuhörern bedenkliches und ungläubiges Kopfschütteln hervorgerufen haben, wenn nicht sein tollkühner, vor nichts zurückschreckender Mut und zugleich seine persönliche Bescheidenheit so allgemein bekannt gewesen wären, daß es niemandem einfiel, einen Zweifel in seine Erzählungen zu setzen, so abenteuerlich dieselben auch klingen mochten.

»Ja,« rief der General, indem er ein Glas Punsch in einem kräftigen Zuge leerte, »ja, es ist wahr, die Türken sind gute Soldaten, aber waren sie auch noch einmal so tapfer, und stünde uns die dreifache Macht entgegen, so würde ich mich beim heiligen Georg nicht vor ihnen fürchten, und wir würden ebenso gewitzt mit ihnen fertig werden, wie unser großer Schutzpatron den Drachen überwältigte. Aber wir haben einen schlimmeren Feind, als die Türken, eine gefährlichere Schlange, als der Lindwurm des heiligen Georg war, und diesen Feind nähren wir an unserer eigenen Brust, das sind – das sind die Fremden, die sich in Rußland eingenistet haben, das ist diese verdammte sogenannte Zivilisation, mit der sie unser gesundes slawisches Blut vergiften, und, da sie den gewaltigen Arm unseres Volkes nicht lähmen können, seinen Geist und sein Herz langsam und allmählich umstricken und dem schwächlichen, verrotteten Europa Untertan machen wollen.«

»Aber, Michael Dmitrijewitsch,« sagte der Fürst Wittgenstein lächelnd, »da Sie von diesen Ihnen so verhaßten Fremden sprechen, auch mein Name und meine Abstammung sind deutsch, und doch werden die Herren mir hier gewiß glauben, daß ich keinen Augenblick zögern würde, mein Blut für Rußland und unseren Kaiser zu vergießen.«

»Gut, gut,« sagte der General Skobeljew mürrisch, »ich will es gern glauben, mein Fürst, daß Sie russisch denken und russisch zu fühlen gelernt haben – aber bei Gott« sagte er, seinen langen Schnurrbart streichend, »dann sind Sie eine Ausnahme, und die Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Ein Volk ist nur dann stark, wenn es unter sich ist, und Rußland hat keine Fremden nötig, es könnte nichts schaden, wenn man einmal eine große Reinigung vornähme, und ginge es nach mir, so würden auch unsere Großfürsten gute Russinnen heiraten, damit auch das Blut der Romanows von aller fremden Beimischung befreit würde.«

Niemand wagte, dem Gespräch auf dieses Gebiet zu folgen; eine augenblickliche Stille trat ein, und der Fürst Wittgenstein suchte durch einen harmlosen Scherz die allgemeine heitere Unterhaltung wieder herzustellen.

Blagonow hatte in tiefen Gedanken dagesessen und kaum gehört, was um ihn her gesprochen wurde, plötzlich sah er einen Kosaken aus dem Dunkel herantreten; derselbe näherte sich und flüsterte ihm leise einige Worte ins Ohr. Schnell erhob sich der junge Offizier und entfernte sich eiligen Schrittes auf der Straße nach dem Dorfe; sein Aufbruch blieb fast unbemerkt, da er an der Unterhaltung keinen Anteil genommen hatte, und da es häufig vorkam, daß einer oder der andere der Offiziere in irgendeiner dienstlichen oder persönlichen Angelegenheit abgerufen wurde.

In ungeduldiger Erwartung eilte Blagonow auf der Straße dahin, bald hatte er den Platz vor dem sogenannten Palais, dem einfachen, von dem Kaiser bewohnten Hause, erreicht. Aus den Fenstern der kaiserlichen Zimmer schimmerte Licht und erhellte den leicht umzäunten Hofplatz. Als Blagonow sich dem Hause näherte, trat eine dunkle Gestalt hinter dem Gartengebüsch eines der Nächstliegenden Bauernhöfe hervor.

»Herr,« sagte Stephan Sacharjew, ganz nahe zu Blagonow herantretend und in sein Ohr flüsternd, »ich habe Euch rufen lassen, wie Ihr befahlt, denn heute endlich ist dieser heimtückische Jewjeni wieder aus seinem Bau herausgekrochen – seht, dort schleicht er umher und späht nach der Wohnung des Kaisers, den Gott segnen möge, hinauf.«

In der Tat sah Blagonow, der Richtung von Stephans ausgestreckter Hand folgend, eine Gestalt im Uniformüberrock um die Ecke des kaiserlichen Hauses hervorkommen. Diese Gestalt, in welcher er ohne Stephans Versicherung in dem dämmernden Mondlicht den Studenten kaum erkannt haben würde, ging langsam um die Umzäunung des Hofes, der das kaiserliche Wohnhaus umgab, herum, und kaum würde dieser nächtliche Spaziergang eines Mannes in der russischen Uniform bei irgend jemand Aufsehen erregt haben. Blagonow aber, dessen Seele von argwöhnischer Unruhe bewegt wurde, bemerkte, daß der nächtliche Spaziergänger so viel als möglich die vom hellen Mondschein beschienenen Stellen vermied und sich im Schatten der Gebäude und des Zaunes hielt, auch näherte er sich an verschiedenen Stellen, der Umzäunung des Hofes und schien mit gang besonderer Aufmerksamkeit die erleuchteten Fenster des kaiserlichen Wohnzimmers zu beobachten.

Trotz dieses etwas sonderbaren Benehmens war dennoch nicht der geringste Verdacht gegen das Treiben des einsamen nächtlichen Wanderers zu ergründen, und auch eine bei neben dem Eingange zum kaiserlichen Quartier aufgestellten Schildwachen, an der er vorübergeschritten war, hatte ihn nicht nur, ohne jeden Anstand passieren lassen, sondern sogar das Gewehr vor ihm angezogen, da die Uniform der Intendantur in dem unsicheren Dämmerlicht dem Interimsüberrock eines Offiziers glich. Es lag also eigentlich gar keine Veranlassung vor, Jewjeni in seinem Gange zu hindern oder irgend etwas Außergewöhnliches oder Gefährliches bei ihm vorauszusetzen; dennoch aber empfand es Blagonow wie eine unumstößliche Gewißheit, daß er sich hier vor der Lösung des unheimlichen Geheimnisses befinde, das ihn so lange beschäftigt, und nur dieser seiner inneren instinktartigen Stimme gehorchend, schritt er leise Jewjeni nach, indem er Stephan befahl, ihm in einiger, Entfernung zu folgen und ohne seinen Befehl nicht näher heran zu kommen, was auch immer geschehen möge.

Er wartete, bis Jewjeni, der, ganz in seine Gedanken vertieft, unmittelbar neben der Einzäunung weiter fortschlich, an eine von dem Wachtposten ziemlich entfernte dunkle Stelle gekommen war; hier näherte er sich ihm urplötzlich mit einigen schnellen Schritten, faßte mit kräftigem Griff seinen Arm und sagte mit gedämpfter Stimme: »Halt, Jewjeni Mossejew, was tust du hier in einsamer Nacht?«

Unter gewöhnlichen Verhältnissen wäre von dem so plötzlich Angegriffenen eine unwillige Antwort zu erwarten gewesen, und Blagonow hätte kaum die Berechtigung gefunden, eine solche Antwort von dem ihm gar nicht verpflichteten Beamten zurückzuweisen. Statt dessen aber zuckte Jewjeni angstvoll zusammen, er wendete sich schnell um, und als er im Lichte des Mondes Blagonow erkannte, dessen Augen wild und drohend in sein blasses Gesicht blickten, stieß er einen halbunterdrückten Angstschrei aus und machte eine Bewegung, als ob er, von jähem Schreck überwältigt, in die Knie sinken wollte.

»Antworte,« sagte Blagonow, »was treibst du hier?«

»Habt Erbarmen, Herr, habt Erbarmen,« ächzte Jewjeni – »laßt mich fliehen, ich will weit fort von hier, ich schwöre Euch, daß man mich nie wiedersehen soll!«

Diese angstvolle Bitte überzeugte Blagonow immer mehr, daß er sich auf der Spur eines finsteren Geheimnisses befinde.

»Folge mir!« sagte er, Jewjenis Arm festhaltend und den Zitternden mit sich fortziehend.

Er sprach kein Wort und führte, indem er, rückwärts blickend, sich überzeugte, daß Stephan ihm folgte, den früheren Studenten nach seiner Wohnung, in welcher er sicher war, Wladimir noch nicht anzutreffen, da die Herren vor dem Zelte des Herrn Tscherewin meist bis tief in die Nacht zusammenblieben. Hier angekommen, stieß er Jewjeni vor sich her in sein Zimmer.

»Sorge, daß niemand hier eintritt,« befahl er Stephan Sacharjew – »auch der Graf Wladimir Ossipowitsch nicht, bis ich dich rufen werde.

Und nun«, sagte er, die Tür hinter sich schließend, zu Jewjeni, der zitternd und erdfahl vor ihm stand, »gestehe alles. Ich weiß es,« fuhr er mit scharfen, durchdringenden Blicken fort, »du hast einen geheimen Befehl erhalten, du bist des Todes, wenn du nicht die volle Wahrheit bekennst.«

Auf dem Tisch vor Blagonows Bett lag ein Revolver; Jewjeni sah die Waffe, einen Augenblick zuckte es wie ein verzweifelter Entschluß in seinen Blicken, aber schnell wie der Blitz hatte Blagonow seinerseits die Waffe ergriffen und richtete deren Mündung auf den entsetzt bis zur Wand des Zimmers zurückweichenden Studenten.

»Habt Erbarmen, Herr,« rief Jewjeni – »ich will alles gestehen – ich kann ja die Qual doch nicht mehr ertragen, ich kann doch nicht tun, was man von mir verlangt, ich will alles gestehen, wenn man mir nur das Leben läßt.«

»Ich kann dir dein Leben nicht verbürgen,« sagte Blagonow, »aber du weißt, daß ein offenes und freies Geständnis ein Recht hat auf Gnade für jedes Verbrechen, so groß es auch sein mag, und was ich tun kann um auch dir Gnade zuteil werden zu lassen, soll geschehen.«

»O Herr,« sagte Jewjeni, »Ihr kennt ja selbst jene furchtbar finstere, unerbittliche Macht, der ich mich zu eigen gegeben, und die mit erbarmungsloser Hand jeden festhält, den sie einmal ergriffen, Ihr müßt sie kennen, denn ich bin ja einst an Euch gewiesen worden, Euch mit dem Losungswort des Bundes anzureden, um von Euch aus dem Kerker gerettet zu werden. Wie Ihr Euch freigemacht habt von den finsteren Ketten, weiß ich nicht – oder,« rief er Plötzlich, indem noch größeres Entsetzen sich auf seinen Zügen malte, »gehört Ihr noch dazu, seid Ihr gekommen, mich wegen meines zögernden Gehorsams zu bestrafen?«

»Gleichviel,« sagte Blagonow, »sprich und vergiß nicht, daß dein Leben vom der Wahrheit deiner Worte abhängt.«

Zitternd und stockend, bald von seiner Furcht zurückgehalten, bald von noch größerer Furcht angetrieben, sich ganz rückhaltlos in Blagonows Hände zu geben, um dessen Beistand desto sicherer zu erlangen, erzählte Jewjeni, wie er von dem geheimen Bunde in die Bureaus der Intendantur gebracht und dann dem kaiserlichen Hauptquartier beigegeben, und wie er nun auf so furchtbare Weise aus seinem ruhigen Leben aufgeschreckt worden sei, indem er durch einen Boten des Bundes den Befehl erhalten, den Mordversuch gegen den Kaiser zu unternehmen.

»Lange«, fuhr er händeringend fort, »habe ich mit mir gekämpft und gerungen, ich schauderte zurück vor der entsetzlichen Tat, die man von mir verlangte, und doch wußte ich, daß ich verloren war, wenn ich nicht gehorchte, man hatte ja nur nötig, mich zu denunzieren, und die Bergwerke Sibiriens waren mir gewiß. Ich überlegte hin und her, wie die Tat auszuführen sein könnte, ich umspähte das kaiserliche Hauptquartier, und ich sah, daß es möglich sei, eine jener Kugeln von der äußeren Umzäunung aus durch das Fenster in das Wohnzimmer des Kaisers zu werfen. Wenn der Wurf gelang und richtig traf, so war der Kaiser verloren; in der Dunkelheit hätte niemand bemerkt, woher der Wurf gekommen, und in der allgemeinen Aufregung, die augenblicklich nach der Tat entstehen mußte, hatte ich fast die volle Gewißheit, unentdeckt zu entkommen. Und dennoch, Herr, dennoch, glaubt es mir, ich hätte es nicht vermocht, die vernichtende Kugel zu schleudern, die Kraft hätte mir versagt; oh, Ihr glaubt nicht, was ich gelitten habe in dieser Zeit, zwischen der Angst, die mich vorwärts trieb, und der Angst, die mich zurückschreckte. Jetzt, Herr, wißt Ihr alles, tut, was Ihr wollt, aber sprecht für mich, daß man mir das Leben schenkt – oh, nur das Leben,« rief er, wie von Fieberschauern geschüttelt, »nur das Leben, es ist so entsetzlich, zu sterben!«

»Ja,« sagte Blagonow finster, »es ist entsetzlich, zu sterben, wenn das Leben so schön und so reich an Glück und Hoffnung; doch hier gilt kein Zögern, kein Besinnen.«

Er rief Stephan Sacharjew in das Zimmer und sagte:

»Du stehst mir mit deinem Leben dafür ein, daß dieser Mensch das Zimmer nicht verläßt. Ich befehle dir, bei jedem Fluchtversuch, den er machen möchte, ihn niederzuschießen, tot oder lebendig muß ich ihn hier wieder finden.«

»Oh, ich werde nicht fliehen,« rief Jewjeni, »wohin sollte ich mich wenden, hier allein kann ich Schutz finden vor der furchtbaren Macht, deren Rache ich nun verfallen bin – und die Ihr kennt«, fügte er mit einem Blick auf Blagonow hinzu, aus welchem etwas wie hämische Drohung hervorblitzte, als ob er Blagonow daran erinnern wollte, daß er ihn durch seine Aussagen verderben könne, wenn ihm keine Gnade gewahrt werde.

»Nein,« sagte Stephan Sacharjow, indem er mit düsterer Freude aus Jewjeni blickte, der ganz gebrochen auf einen Stuhl niedergesunken war, »in Wolotschina hat dich der Teufel aus meinen Händen befreit, hier sollst du mir nicht entkommen, und käme der Satan in eigener Person, so soll er nur deine Leiche davonführen.«

Er nahm den Revolver fest in die Hand und setzte sich Jewjeni gegenüber. Blagonow faltete einen Augenblick die Hände und schien mit seinen düster aufgeschlagenen Blicken den Himmel um Mut und Kraft anzuflehen, dann ging er festen Schrittes hinaus und begab sich unmittelbar nach dem Hause des Kaisers. Er teilte dem Flügeladjutanten vom Dienst mit, daß er in einer Angelegenheit von der höchsten Wichtigkeit dem Kaiser ohne jeden Aufschub eine Meldung zu machen habe, und obwohl Seine Majestät sich bereits in das kleine Arbeitskabinett zurückgezogen hatte, trat der Adjutant doch unverzüglich ein, da der furchtbare Ernst, welcher auf Blagonows Zügen lag, keinen Zweifel daran erlaubte, daß seine Meldung wirklich von äußerster und unaufschieblicher Wichtigkeit sei. Der Kaiser saß in dem weiten Militärmantel an seinem Schreibtisch, noch mit der Durchsicht der eingegangenen Briefschaften beschäftigt; er blickte verwundert, aber wohlwollend und freundlich auf den jungen Offizier und schien kaum begreifen zu können, welche hochwichtige Meldung dieser ohne eigentlich bedeutungsvolle Diensttätigkeit dem Hauptquartier attachierte junge Mann ihm zu machen habe.

»Majestät,« sagte Blagonow, welcher in dienstlicher Haltung neben den von einer einzigen Lampe beleuchteten Schreibtisch getreten war, »ich habe Allerhöchstihr edles und großmütiges Herz tief zu betrüben, und dennoch ist es meine Pflicht, keine Sekunde mit der Mitteilung der Entdeckung zu zögern, die ich soeben gemacht.«

Traurig sagte der Kaiser:

»Ich bin gewohnt, Schmerzliches zu hören, sprechen Sie!«

Blagonow erzählte nun kurz und klar, was ihm Jewjeni gestanden. Der Kaiser stützte den Kopf in seine Hände, eine Träne rann über seine Wangen und fiel auf das vor ihm liegende Papier nieder.

»Wie hart, wie schwer«, sagte er, »ist das Schicksal der Herrscher, welche die törichte Welt um ihre Macht beneidet! Da stehe ich von Feinden umgeben in diesem blutigen Kriege. Alle Schrecken, alle Leiden, unter denen ich fast erliege, wenn ich das Blut der Söhne meines Volkes in Strömen fließen sehe, ich ertrage sie nur um der Ehre und Grüße Rußlands willen, um mein Volk hoch und sicher unter den Nationen Europas zu stellen; für mein Volk leide ich, für mein Volk kämpfe ich und bete ich, und aus der Mitte dieses Volkes erhebt sich der Mord gegen mich.«

Eine Zeitlang saß er in trübes Sinnen versunken schweigend da.

»Majestät,« sagte Blagonow, »in diesem Augenblick, in welchem so Furchtbares droht, muß mein Kaiser alles wissen. Ich weiß es, daß ich das Todesurteil ausspreche über alles Glück und alle Hoffnung meines Lebens, aber dennoch darf auch nicht der leiseste Schatten von Dunkelheit auf dieser Sache ruhen. Auch ich«, fuhr er mit rauher, harter Stimme fort, »habe Eure Majestät verraten und betrogen, als ich diese Uniform anlegte, die Ihre Gnade mir gab; auch ich, Majestät, habe einst, von Haß gegen die Gesellschaft, die mich ausstieß, erfüllt, jenem Bunde angehört, der heute den mörderischen Arm gegen Sie erhebt.«

Der Kaiser machte eine unwillkürliche Bewegung des Entsetzens, dann aber sagte er ruhig mit strengem Ernst: »Und wie ist das geschehen – ich will alles wissen, ich allein will prüfen und richten, bevor ich so schwere Schuld dem Urteil anderer übergebe.«

Blagonow erzählte, wie er, arm und tief niedergedrückt durch die hochmütige Mißachtung der vornehmen Gesellschaft, sich dem geheimen Bund angeschlossen habe, welcher die Zerstörung jener Gesellschaft anstrebt, wie er aus Rußland geflohen sei, um den Tod in der serbischen Armee zu suchen, wie er dann mit Wladimir Ossivowitsch zusammengetroffen und durch des Kaisers Gnade zu so hohem, nie geahntem Glück erhoben worden sei.

»Damals schon«, sagte er, »schwebte das offene Geständnis meiner vergangenen Verirrung auf meinen Lippen, aber ich wagte es nicht, das herrliche Glück, welches das Leben mir plötzlich entgegentrug, zu verscherzen; war ich doch gewiß, daß ich den Eid der Treue, den ich Eurer Majestät schwur, das Gelübde der Dankbarkeit, das ich ablegte, unverbrüchlich halten würde. Und ich habe es getan, ich habe mich von jenem Bunde losgesagt, und bei Gott, ich würde keinen Augenblick gezögert haben, mein Leben für Eure Majestät zu lassen – jetzt aber zwingt mich dieselbe Treue, dieselbe Dankbarkeit, die ich gelobt und gehalten habe, zu sprechen: ich bin nicht so glücklich gewesen, mein Leben für Eure Majestät auf dem Schlachtfelde lassen zu können, nehmen Sie es hin und strafen Sie, wie es die Gerechtigkeit verlangt.«

Lange saß der Kaiser, als Blagonow geendet, in sich zusammengesunken da, den Kopf tief auf die Brust geneigt. Dann richtete er sich auf. Mit einem Blick voll unendlicher Milde sah er den jungen Mann an.

»Auch edle und treue Herzen können sich verirren; Gott verzeiht die sündige Tat; sollte ich eine Verirrung verurteilen, die niemals zur Tat geworden ist!«

»Und auch bei Gott niemals zur Tat geworden wäre, Majestät!« rief Blagonow – »denn selbst in jener finsteren Zeit, in welcher der Haß gegen die Gesellschaft mich gekränkt und niedergetreten hatte, mein Blut erhitzte, auch in jener Zeit hätte ich niemals meine Hand zum Morde erhoben, niemals dem Morde meine Zustimmung gegeben. Ich wollte offenen, ehrlichen Kampf; in den Reihen der Revolution hätte ich gefochten, aber im einsamsten Walde mit mir allein wäre Eure Majestät Ihres Lebens ebenso sicher gewesen wie im Winterpalais, von Ihren Garden umgeben.«

»Nun denn,« sagte der Kaiser, indem er sich erhob, »jene Zeit ist vorübergegangen, ich will Gott bitten, daß ebenso aus meinem ganzen Volke der finstere Geist des Hasses verschwinden möge. Feodor Michaelowitsch,« fuhr er in feierlichem Tone fort, »ich, dein Kaiser, lösche deine Vergangenheit aus, sie soll niemals dagewesen sein, und niemals will ich ein Wort hören, das an dieselbe erinnert, möge es mir kommen, wie und woher es wolle. Dein Leben soll beginnen von dem Tage an, an welchem du mir die Treue geschworen hast ich weiß, du wirst sie halten.– Könnte ich alle, die gefallen sind, erheben wie dich – doch an dieses herrlichste Vorrecht Gottes reicht keine irdische Macht.«

Er reichte mit einem milden Lächeln, das seinem edlen Gesicht eine wunderbare Schönheit gab, Blagonow die Hand; dieser sank stumm in die Knie und drückte seine Lippen auf die kaiserliche Rechte, er fand keine Worte, um seine Gefühle auszudrücken.

»Das war ein schöner Augenblick,« sagte der Kaiser – »nun an die schmerzliche Pflicht; doch auch jener Verbrecher soll seinen Teil an dieser Stunde haben, und wenn es möglich ist, soll ihm Gnade werden.«

Er rief den Flügeladjutanten und befahl ihm, sogleich den Kriegsminister, den Grafen Adlerberg und den Kommandeur des Hauptquartiers zu ihm zu bescheiden. Nach wenigen Augenblicken erschienen die ganz in der Nähe wohnenden Herren.

Eine kurze Beratung fand statt. Dann führte Blagonow eine Abteilung Kosaken nach seiner Wohnung, um Stephan Sacharjew von seiner Wache abzulösen, und Jewjeni, wie es der Kaiser befohlen, nach dem Palais zu führen.

»Sage die volle Wahrheit, so kannst du Gnade erhoffen«, war das einzige, was Blagonow dem jammernden Studenten sagte.

Der Kaiser ließ in seiner eigenen Gegenwart Jewjeni vernehmen, und dieser bestätigte in allen Punkten, was er Blagonow gestanden hatte. Ein Adjutant wurde nach Jewjenis Wohnung gesendet, um nach dessen Angabe die verhängnisvollen Kugeln nach einem freien Platz vor dem Dorfe zu schaffen, wo dieselben noch während der Nacht von Ingenieuroffizieren untersucht wurden. Der Kaiser war traurig, aber ruhig und gefaßt; er versprach Jewjeni selbst, bevor derselbe abgeführt wurde, daß ihm sein Leben gesichert sein solle, wenn er alles bekenne, was ihm bekannt, und befahl dann, daß über diese ganze Untersuchung das strengste Stillschweigen beobachtet werden solle. Jewjeni wurde in ein bisher von einigen Flügeladjutanten des Kaisers bewohntes Haus gebracht, eine starke Abteilung Kosaken bezog dort die Wache und erhielt den Befehl, niemand ohne schriftlichen Befehl des Kaisers eintreten zu lassen.

Als Jewjeni das für ihn bestimmte Zimmer betrat, hatte sein Gesicht einen fast glücklichen Ausdruck; er atmete, als er allein war, tief auf und sagte, weit die Arme ausbreitend:

»O welches Glück, nach so viel Qual und Pein endlich Ruhe und Sicherheit zu finden! Diese Wachen schützen mich, der Kaiser hat mir mein Leben versprochen, er wird sein Wort halten, tausendmal lieber will ich hinter den schützenden Kerkermauern leben als draußen in der Freiheit, wo die Hand dieser Entsetzlichen über mir schwebt.«

Er warf sich auf sein Lager nieder, und zum erstenmal, seit der geheimnisvolle Bote des Bundes ihm den Befehl gebracht hatte, schlossen sich seine Augen zu ruhigem, erquickendem Schlummer.

Blagonow kehrte nach seinem Quartier zurück, er fand Wladimir bereits dort. Bleich, zitternd und tief bewegt, aber mit wundersam leuchtenden Augen, umarmte er den Freund, und als dieser verwundert nach der Ursache seiner Erregung forschte, sagte er:

»Frage nicht, ich darf nicht sprechen, aber danke Gott mit mir, denn er hat mir und Marpha große Gnade erwiesen und zwei Menschenherzen vor Elend und Verzweiflung bewahrt.«

Wladimir schüttelte den Kopf, er begriff nicht und war geneigt, diesen Gefühlsausbruch auf die nervöse Überreizung des jungen Mannes zu schieben, doch drückte er dem Freunde herzlich die Hand, und Blagonow fand an diesem Abend, ebenso wie Jewjeni, zum erstenmal seit langer Zeit die Erquickung eines ruhigen, tiefen Schlafes.

Stephan Sacharjew aber ging vor das Dorf hinaus, setzte sich vor eine der noch geöffneten Marketenderbuden und trank für sich ganz allein ein großes Glas des besten Punsches, der sich aus den Vorräten des Händlers herstellen ließ, indem er, das heiße, duftende Getränk schlürfend, bald einen halblauten Fluch zwischen den Zähnen hervorstieß, bald ganz vergnügt lachend sich die Hände rieb. Als er dann wieder in seine Kammer neben Wladimirs Stall zurückkehrte, sank auch er zu festem, lange entbehrtem Schlaf auf sein Strohlager.


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