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17. Kapitel.

Sternenhell breitete sich der nächtliche Himmel über das kleine Dorf Zaritza aus, dessen Name wohl kaum jemand in ganz Rußland kannte, und das dennoch für einige Stunden die kaiserliche Residenz geworden war, in welcher sich der das ganze weite Reich leitende Wille konzentrierte. Tiefe Stille herrschte in dem Hauptquartier, man hörte in den Zelten und im ganzen Dorfe nur hin und wieder das Schnauben der Pferde und das Klirren der Waffen von den ruhig und regelmäßig auf und ab schreitenden Posten. Alles schlief, und auch in dem kaiserlichen Zelt war lange schon das Licht erloschen.

Es war etwa zwei Uhr morgens, die ersten Lichtstreifen des langsam heraufdämmernden Tages wurden am Horizont sichtbar, als von der Straße her, an welcher etwas rückwärts die Brigade des elften Korps, die zur Deckung des kaiserlichen Hauptquartiers bestimmt war, ihr Lager aufgeschlagen hatte, der Hufschlag eines schnelltrabenden Pferdes vernehmbar wurde. Ein Kosak ritt an den rasch vortretenden Posten heran und erklärte demselben, daß er einen Brief an den General Schtscholkow zu überbringen habe. Der Posten führte den Kosaken bis zur nächsten Schildwache, hier mußte er sein Pferd zurücklassen und ging dann, von einem Posten zum andern geführt, bis zu dem kleinen Wiesenplatz hin, auf welchem neben dem kaiserlichen Zelte diejenigen für die Herren des unmittelbarsten Dienstes aufgeschlagen waren. Der Kosak trat in das ihm bezeichnete Zelt, in welchem der General Schtscholkow auf einem Deckenlager halb angekleidet ruhte.

Der General fuhr bei dem Eintritt des Soldaten erschrocken empor, nahm das nur leicht zusammengefaltete Blatt Papier, das ihm derselbe reichte, und zündete die Kerze in einer kleinen Handlaterne an. Er hielt das Blatt an das Licht und las:

»Die Türken stehen bei Sistowo; die Verwirrung ist allgemein; der Dienst unterbrochen.

Der Telegraphenstationskommandant.«

Bleich vor Schrecken fuhr der General empor, er befragte, während er sich rasch ankleidete, den Kosaken, welcher ihm bestätigte, daß in Sistowo allgemeine Verwirrung herrsche, daß die Landleute in die Stadt flüchteten und die Nachricht von dem Heranrücken türkischer Truppen brachten, aber er wußte Näheres nicht anzugeben, da der Telegraphenkommandant ihn sogleich mit der in Eile geschriebenen Meldung abgesendet habe.

Der General begab sich sofort in das Zelt des Kommandanten des Hauptquartiers, und dieser war nicht weniger erschrocken über die erhaltene Nachricht. Die Stadt Sistowo war von Zaritza nur etwa fünf Werst in gerader Linie entfernt, und wenn wirklich bedeutende türkische Truppenmassen bereits bei dem Abreiten des Kosaken vor Sistowo gestanden hatten, so konnte in jedem Augenblick eine Abteilung voranschwärmender Baschi-Bozuks vor dem kaiserlichen Hauptquartier erscheinen und die Person Seiner Majestät selbst in die höchste Gefahr bringen; war die Nachricht richtig, so mußte Baron Krüdener von Nikopolis zurückgeworfen sein und den Türken der Weg am Donauufer offenstehen.

Die beiden Generale weckten den Minister des kaiserlichen Hauses, Grafen Adlerberg, und den Kriegsminister Miljutin, denn selbst wenn die Nachricht nur auf einem bloßen Schreck beruhte und sich nicht in ihrem vollen Umfange bewahrheitete, so mußte dennoch unter allen Umständen die Person des Kaisers in Sicherheit gebracht werden.

Graf Adlerberg und der Kriegsminister traten in das kaiserliche Zelt, während die Generale Rylejew und Schtscholkow persönlich in die Zelte und Quartiere der Offiziere des Gefolges eilten, um dieselben in aller Stille zu wecken, da man durch Alarmschlagen die Aufregung und Unruhe nicht noch unnütz vermehren wollte.

Der Kaiser war bereits erwacht und fragte, ohne Schreck und Unruhe zu zeigen, nach der Ursache des ungewöhnlichen Geräusches. Als er erfahren, um was es sich handelte, sagte er kalt und ruhig: »Das wird ein Mißverständnis sein«, befahl aber gleichwohl den sofortigen Aufbruch und rief den Kammerdiener, um sich auf der Stelle ankleiden zu lassen. In weniger als einer Viertelstunde war das ganze Gefolge auf der kleinen Wiese versammelt. Der Kaiser erschien im Generalsüberrock mit den breiten silbernen Achselbändern.

»Um Gottes willen, Majestät,« rief Graf Adlerberg, »nur nicht diese glänzende Uniform, die Eure Majestät auf weite Entfernungen hin zur Zielscheibe macht!«

»Wo die Gefahr ist, muß man den Kaiser kennen«, erwiderte der Monarch mit ruhiger Würde, dann, ohne weiter auf die bestürzten Mienen der Generale zu achten, befahl er dem Kriegsminister Miljutin, sogleich dem Kommandeur der Deckungsbrigade den Befehl zu bringen, daß er auf der Stelle nach Sistowo zurückmarschieren solle, um sich den dort herandrängenden Türken entgegenzuwerfen.

»Aber, um Gottes willen, Majestät,« rief der Kriegsminister, »wenn die Brigade zurückgeschickt wird, so bleibt ja nichts zu Allerhöchstihren eigenen Deckung als die zwei Kosakensotnien Ihres persönlichen Konvoi!«

»Sie werden genügen,« sagte der Kaiser, »die beste Deckung ist es jedenfalls, wenn die Türken bei Sistowo zurückgehalten werden; außerdem aber handelt es sich hier weit weniger um mich, denn wir müssen ja bald die vor uns stehende Armee des Thronfolgers erreichen, als um die Donauübergänge, von welchen die Sicherheit der ganzen Armee abhängt. Es muß um jeden Preis verhindert werden, daß die Türken die Brücken zerstören, und deshalb müssen alle verfügbaren Truppen dorthin zurückgehen.«

Der Ton dieser Worte schnitt jede weitere Bemerkung ab, und der Kriegsminister bestieg das Pferd eines Kosaken der kaiserlichen Begleitung, um dem Kommandeur ber Deckungsbrigade sogleich den kaiserlichen Befehl zu überbringen. Dann rief der Kaiser den in der Nähe stehenden Flügeladjutanten von Negendorf heran und befahl demselben, auf der Straße von Tirnowa nach Pawlo, dem Hauptquartier des Großfürsten-Thronfolgers, voranzureiten und dem Cäsarewitsch den Befehl zu bringen, daß er alle verfügbaren Truppen dem Kaiser auf der Straße entgegensenden solle.

»Sie sehen, meine Herren,« sagte er lächelnd, »daß ich auch für unsere Sicherheit sorge. Und nun vorwärts, wir wollen uns beeilen, die Armee meines Sohnes zu erreichen, damit uns diese gefährlichen Türken nicht einholen.«

Man führte das Pferd des Kaisers vor, es war ein großer Rappe ohne Abzeichen.

»Warum nicht der Schimmel?« fragte der Kaiser; »ah, ich verstehe,« sagte er dann lächelnd zum General Rylejew, »die Zielscheibe! Nun, es sei, ich will mir keine unnütze Unvorsichtigkeit vorwerfen lassen.«

Die Herren des Gefolges stiegen zu Pferde. Der Flügeladjutant Oberst Tscherowin, der Kommandant des persönlichen Konvoi, trat an das Pferd des Kaisers heran.

»Majestät,« sagte er finster, indem er mit fast trotziger Miene zum Kaiser aufblickte, »ich übernehme für diesen Marsch keine Verantwortung. Eure Majestät wissen, daß ich und meine Leute bereit sind, bis auf den letzten Mann zu fallen, und daß wir fallen werden, bevor ein Feind zu Eurer Majestät herandrängt, aber was vermögen meine zwei Sotnien, wenn wir wirklich dem Feinde begegnen sollten! Ich wiederhole, ich weise jede Verantwortung ab.«

»Du hast recht,« sagte der Kaiser, indem er dem Obersten freundlich auf die Schulter klopfte, »ich übernehme die Verantwortung; Sie hören es alle, meine Herren, und niemand soll dir irgendeine Schuld geben, was auch immer geschehen möge.«

Der Oberst Tscherowin sprang in den Sattel und sprengte dem Kaiser voran zu den auf der Straße nach Tirnowa haltenden Kosaken des Konvoi. Der Kaiser ließ sich eine Zigarette anzünden und ritt dann, während die Bagage in vollkommener Ordnung aufbrach, von der Wiese nach der Straße hin.

Als er hier angekommen war, ritt eine Eskadron des Tschugojewskischen Ulanenregiments, welche sich in Simnika der Bedeckung angeschlossen hatte, heran. Der Kaiser befahl dem Generalmajor Weymann von seiner Suite, mit dieser Ulanenschwadron sogleich nach Sistowo zurückzureiten und so genaue Erkundigungen als möglich darüber einzuziehen, was dort vorgefallen sei, und welche Wendung die Operationen des Generals Krüdener vor Nikopolis genommen hätten.

Niemand erhob mehr Widerspruch gegen diese neue Schwächung der Bedeckung; der General Weymann sprengte mit den Ulanen davon, und der Kaiser ritt mit seinem Gefolge auf der südwestlich führenden Straße vorwärts.

Es war ein schwerer, angstvoller Ritt für die ganze Umgebung; alle waren ernst und sorgenvoll, selbst der Prinz Wittgenstein fand kaum zuweilen einen Funken seines sonst so sprühenden und zündenden Humors; ängstlich spähte jeder über die Ebene hin, neben welcher sich der schattenlose Weg hinzog, ob irgend etwas Verdächtiges zu erblicken sei, und das tiefe Schweigen, das ringsumher herrschte, machte heute einen unheimlicheren Eindruck als die unausgesetzte Kanonade der letzten Tage, denn jene Kanonensalven waren etwas Positives, Faßbares, an eine bestimmte Stelle Gebundenes, während man jetzt nach der geheimnisvollen Alarmnachricht irgendein plötzliches, aus der schweigenden Ruhe hervorbrechendes Schrecknis befürchtete. Es war in der Tat wohl Veranlassung zu der ernsten Sorge, welche sich auf allen Gesichtern malte, denn dieser glänzende kaiserliche Zug, der so wenig an den Krieg erinnerte, wie er mit seinen wenigen Bagagewagen und seiner unbedeutenden Kosakenbedeckung auf dem sommerlichen Wege sich dahinbewegte, befand sich noch weit von der Armee entfernt und in nächster Nähe von unaufgeklärten, drohenden feindlichen Truppenbewegungen, selbst ein versprengtes Streifkorps des Feindes konnte den Kaiser aufheben, mitten aus den russischen Stellungen heraus entführen und so dem Kriege ein ebenso plötzliches als entsetzliches Ende bereiten. Jeder hielt sich mehr und mehr zurück, fortwährend nach der hinterwärts liegenden Straße spähend. Einige der jüngeren Offiziere ritten oft weit seitwärts des Weges in das Feld hinaus, aber immer und immer zeigte sich nichts, alles blieb still und ruhig umher, wie im tiefsten Frieden, und die sämtlichen Begleiter des Kaisers wären ohne Zweifel noch lieber mitten über ein Schlachtfeld geritten, als hier durch diese öde, unheimliche und beängstigende Stille. Der Kaiser allein blieb unausgesetzt heiter und ruhig, wenn er auch das Schweigen nicht unterbrach und nicht, wie er sonst zu tun pflegte, die einzelnen Herren seines Gefolges heranrief, um sich mit ihnen zu unterhalten.

Man war einige Stunden vorwärts geritten, zuweilen im Trabe, dann wieder in langsamem Schritt, denn so sehr auch die Generale vorwärts drängten, da ja mit jedem Schritt, den man der Armee des Thronfolgers näher kam, die Gefahr sich verringerte, so verzögerte doch der Kaiser immer wieder den Marsch, um dem auf Erkundigungen ausgeschickten General Weymann Zeit zu geben, ihn wieder einzuholen, weil ihm vor allem daran lag, genaue Nachrichten über die Vorgänge an den Donauübergängen zu erhalten. Endlich erblickte man auf dem Wege voraus Staubwolken, und bald sprengte der Oberst von Negendorf heran, um zu melden, daß zwei Infanterieregimenter und eine Batterie von der Armee des Großfürsten, welche diesseits von Pawlo biwakiert hatten, zur Bedeckung Seiner Majestät heranrückten. Schnell ritt der Kaiser vor und begrüßte die mit musterhafter Präzision sich in langer Front aufstellenden und präsentierenden Truppen mit den laut schallenden Worten: » Sdorowo rebjata!« welche ungefähr ins Deutsche übersetzt heißen würden: »Prosit, Kinder!«

Die staubbedeckten Soldaten antworteten mit dreimaligem Hurra.

Die Kommandeure der Infanterieregimenter und der Batteriechef ritten heran, um sich zu melden. Der Kaiser befahl ihnen, auf der Stelle weiter auf der Straße nach Sistowo hin zu marschieren, um dort in den Kampf einzugreifen, welcher etwa um die Donauübergänge stattfinden könnte. Der General Rylejew wollte eine Einwendung machen, aber der Kaiser schnitt dieselbe kurz mit den Worten ab:

»Wenn diese Regimenter hinter uns sind, so decken sie uns ebensogut, als wenn wir in ihrer Mitte marschieren. Die Hauptsache ist, daß die Donauübergänge vor jedem Unfall gesichert werden, die sicheren Rückzugslinien sind die Fundamente des Sieges.«

Jeder weiteren Bemerkung ausweichend, sprengte er an der Front der längs der Straße aufgestellten Truppen vorwärts und setzte in scharfem Trabe seinen Weg auf der Straße fort; bald waren die auf den erhaltenen Befehl nordwärts marschierenden Regimenter aus den Blicken verschwunden, und abermals befand sich der kaiserliche Zug, nur von den Kosaken gedeckt, einsam auf der Landstraße.

Man kam an einen Abhang, welcher von einem schattigen Gehölz umgeben war und eine weite Aussicht über die Ebene bot; der Kaiser hielt sein Pferd an und sagte:

»Das ist eine hübsche Stelle, um ein wenig zu ruhen, wir und die Pferde haben Erholung nötig.«

Er stieg vom Pferde und befahl dem Generaladjutanten Wojeikow, ein Frühstück servieren zu lassen. Man hatte sich bereits gewöhnt, keine Einwendungen mehr zu machen, und die Rast im frischen, grünen Schatten lockte auch die Vorsichtigsten, denn die Sonne war schon hoch am wolkenlosen Himmel emporgestiegen, die Hitze begann sich mächtig fühlbar zu machen, und der Ritt auf der staubigen Landstraße nach der kurzen Nachtruhe hatte alle auf das äußerste erschöpft. Der General sprengte rückwärts zu dem unmittelbar folgenden Bagagewagen, welcher das persönliche Gepäck des Kaisers und die notwendigsten Küchenbedürfnisse enthielt. Herr Vavasseur ging sogleich ans Werk, um das befohlene Reisefrühstück mit derselben Ruhe, Sicherheit und Präzision anzuordnen, als ob er sich in den Küchen des kaiserlichen Winterpalais zu Petersburg befinde; er war ein Feldherr auf seinem Gebiet, kalt, ruhig und überlegen, und, würdig unterstützt von seinem Generalstabschef, dem Hoffourier Lebedjew, würde er es möglich gemacht haben, ohne mit einer Wimper zu zucken, mitten im feindlichen Kartätschenfeuer ein fehlerloses Diner servieren zu lassen.

Als der Kaiser im Begriff stand, über den Graben der Straße zu treten, um sich auf den Rasen des Bergabhanges zu begeben, hörte man rückwärts auf der Straße Pferdegetrappel. Der Kaiser blieb lauschend stehen; nach einigen Augenblicken schon erkannte man in der von einem leichten Windhauch zerteilten Staubwolke die Tschugojewskischen Ulanen, weit voraus an ihrer Spitze den General Weymann. Derselbe sprang in einiger Entfernung vom Pferde und näherte sich ganz erhitzt und bestäubt dem Kaiser, der erbleichend und mit unruhig bewegtem Gesicht ihm entgegenging:

»Nun, was war es – sind die Brücken in Sicherheit?«

»Es war eine übergroße Vorsicht des Telegraphenkommandanten«, erwiderte der General noch ganz atemlos. »Es hatte sich in Sistowo das Gerücht verbreitet, Nikopolis sei genommen und die von dort fliehenden Türken stürmten nun am Donauufer herab. Die Telegrafenleitung war allerdings unterbrochen, aber unsere Truppen des neunten Korps standen bereit, die fliehenden Türken, wenn sie wirklich herandrängen sollten, zu empfangen. Die Übergänge sind nicht bedroht, und auch von jenen Truppenzügen, auf welche der General Richter gestern aufmerksam machte, ist nichts mehr zu sehen; es müssen Truppen vom Widdiner Korps gewesen sein, die sich Wohl wieder zurückgezogen haben mögen, wenn wirklich inzwischen vor Nikopolis eine Entscheidung erfolgt ist. Ich bin nicht weiter dorthin vorgegangen,« schloß der General seinen Bericht, »habe auch nähere Nachrichten von dorther nicht abwarten mögen, um so schnell als möglich zurückzukehren und Eure Majestät nicht in Ungewißheit zu lassen.«

»Sie haben recht gehabt,« sagte der Kaiser, indem er, die Arme weit ausdehnend, erleichtert aufatmete, »fausse alerte!« rief er dann heiter, und nach dem Bergabhang hinschreitend, streckte er sich im Schatten eines Gebüsches auf den Rasen nieder, das Gefolge gruppierte sich um ihn, bald servierten die Lakaien ein kaltes Frühstück; nachdem die Befürchtungen vor einem feindlichen Überfall durch die Meldung des Generals Weymann zerstreut waren, stellte sich die allgemeine Heiterkeit wieder ein, und diese auf dem Rasen gruppierte, fröhlich plaudernde Gesellschaft, welche dem improvisierten Frühstück des Herrn Bavasseur alle Gerechtigkeit widerfahren ließ, machte den Eindruck einer sommerlichen Landpartie oder einer Manöverrast im tiefsten Frieden. Bald setzte man den Marsch fort, und als der Zug etwa noch eine Stunde geritten war, öffnete sich vor der sanft absteigenden Straße eine weite Talebene, in welcher man Reihen von weihen Zelten und Trainkolonnen erblickte.

»Das ist Pawlo,« rief der Kaiser, »das ist die Armee des Cäsarewitsch!«

»Und trotz alledem und alledem«, sagte der General Rylejew, »bin ich froh, daß wir da sind, denn wenn auch alles glücklich abgelaufen ist, so werde ich doch mein ganzes Leben mit Schaudern daran denken, was hätte geschehen können.«

»Du siehst,« sagte der Kaiser lächelnd, aber mit einem tiefernsten Blick seiner großen, hellaufleuchtenden Augen, »daß Gott seine Hand über Rußland hält.«

Ein Reitertrupp sprengte aus der Zeltreihe hervor auf der Straße heran, auch der Kaiser setzte sein Pferd in Galopp, und bald begrüßte der Großfürst-Thronfolger mit seinen Adjutanten seinen kaiserlichen Vater. Hinter dem Cäsarewitsch ritt in der Weißen Kürassieruniform der Herzog Sergei Maximilianowitsch von Leuchtenberg, der Sohn der Großfürstin Maria, der Schwester des Kaisers. Der junge, neunzehnjährige Prinz war von blendender, an die edelsten und reinsten Formen der Antike erinnernder Schönheit, jugendfrischer Lebensmut blitzte aus seinen feurigen Augen, eine kindlich sorglose Heiterkeit lag auf seinen lächelnden Lippen. Der Kaiser betrachtete den schönen jungen Mann, der die dargereichte Hand seines Oheims ehrerbietig küßte, mit liebevoller Freude und ritt dann an der Seite seines Sohnes dem Lager zu.

Am Eingange desselben dehnte sich ein Barackenlazarett aus. Zelte von Filz und Leinwand, rund und oben zugespitzt, standen nebeneinander; die Dächer derselben ruhten auf festen Holzpfählen, die Seitenvorhänge waren ein wenig geöffnet, um der Luft überall freien Zutritt zu lassen. Vor dem ersten Zelt stand der Oberst Steponai, der Kommandant des Lazaretts, um sich zu melden; kaum erblickte ihn der Kaiser, als er sofort anhielt und vom Pferde stieg.

»Meine erste Sorge«, sagte er ernst, »muß überall den Verwundeten gehören, welche ihr Blut für das Vaterland vergossen haben. Laß uns«, fuhr er zum Thronfolger gewendet fort, »das Lazarett besuchen.«

Die biwakierenden Truppen hatten sich an der Seite des Weges zusammengedrängt, und unter ihren grüßenden Hurrarufen trat der Kaiser in die Baracke.

Es war ein schmerzvoll trauriger Anblick, die auf ihren Lagerstätten ruhenden Verwundeten zu sehen, aber doch flog ein freudiger Schimmer über das bewegte Antlitz des Kaisers, als er die vortrefflichen Einrichtungen des Lazaretts bemerkte; er ging von einem Bett zum anderen, überall einige freundliche Worte zu den Kranken sprechend. Zahlreiche Damen aus den vornehmsten Kreisen, in gleichmäßige graue Anzüge gekleidet, waren beschäftigt, die Verwundeten zu Pflegen; der Kaiser kannte mehrere derselben und sprach ihnen in herzlichen Worten seine Anerkennung für ihre Liebesdienste aus.

In einem der Zelte war ein Bett in die Mitte gerückt, auf demselben lag ein schwerverwundeter Soldat, mehrere Ärzte und eine Pflegerin waren um denselben beschäftigt, ohne sich durch das Erscheinen des Kaisers stören zu lassen. Der Cäsarewitsch wollte seinen Vater schnell zurückführen.

»Man operiert einen Verwundeten,« sagte er, »es ist ein zu schmerzlicher Anblick.«

»Nicht doch,« erwiderte der Kaiser, »sollte ich dem Anblick der Leiden dieser Tapferen ans dem Wege gehen?«

Er trat zu dem Bett heran; ein junger, kräftig gebauter Mensch lag auf demselben; er war totenbleich, die Pflegerin hielt sein Haupt in den Armen, einer der Ärzte war beschäftigt, einen Granatsplitter aus einer tiefen Brustwunde zu ziehen, zwei andere große Wunden waren bereits verbunden. Der durch Chloroform betäubte Kranke atmete schwer. Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte der Kaiser der Operation – nach wenigen Augenblicken kam der Granatsplitter zutage. Der Verwundete tat einen tiefen Atemzug und öffnete wie erstaunt umherblickend die Augen; schnell füllte der Arzt die Öffnung der Wunde mit Charpie aus.

»Ist es gelungen,« fragte der Kaiser, »wird er leben?«

»Wenn er nicht in den nächsten Augenblicken stirbt,« erwiderte der Arzt, »so ist alle Hoffnung vorhanden, daß kein edler Teil verletzt wurde.«

Der Kaiser blickte in atemloser Spannung auf den Verwundeten. Dieser dehnte sich einigemal, dann atmete er tief auf, sein Gesicht drückte freudige Erleichterung aus.

»Ich hoffe gewiß,« sagte der Arzt, »daß er gerettet wird – die Gegenwart Eurer Majestät hat ihm Glück gebracht.«

»Majestät!« stammelte der Ulan mit seinen bleichen Lippen, »o mein Gott, es ist der große Zar selbst!«

Er machte eine Bewegung, als ob er sich vom Lager aufrichten wollte, aber kraftlos sank er zurück und vermochte nur wenig seine Arme zu erheben. Der Kaiser reichte ihm die Hand, die er mit aller Anstrengung seiner schwachen Kräfte an die Lippen führte.

»Sei ruhig, mein Sohn, sei ruhig,« sagte der Kaiser, »Gott wird dich erhalten für den Dienst des Vaterlandes. Wer bist du? Wo hast du deine Wunde erhalten?«

Der Verwundete versuchte zu sprechen, aber die Stimme versagte ihm, es drang nur ein leiser Hauch über seine Lippen.

»Es ist ein Ulan. Majestät,« sagte die Pflegerin, ein junges Mädchen mit frischen, fast kecken Gesichtszügen, welche in diesem Augenblick durch den Ausdruck inniger Teilnahme verschönert wurde – »er heißt Provirij Bolanjac und hatte drei schwere Wunden in der Brust, aus denen jetzt glücklich die Granatsplitter herausgezogen sind.«

»Er hat diese Wunden erhalten,« sagte der Oberst Steponai, »als er seinen vom Pferde gefallenen Offizier gegen den Feind deckte; seinem Heldenmut ist es gelungen, den Offizier zu retten.«

Die Augen des Kaisers wurden feucht.

»Wie herrlich ist es,« sagte er, »an der Spitze einer solchen Armee zu stehen! Du hast deine Schuldigkeit getan, mein Sohn, nimm hier den Dank deines Kaisers, der euch alle liebt wie seine Kinder.«

Er löste das kleine Georgskreuz von seinem Rock und legte dieses edelste militärische Ehrenzeichen Rußlands auf die blutige Brust des Verwundeten. Dieser breitete die Arme aus – auch jetzt kam kein deutliches Wort über seine Lippen, aber das glückselige Entzücken, das aus seinen Augen leuchtete, bewies, daß er diesen Augenblick freudig mit dem Leben bezahlt haben würde.

Die Verwundeten auf den anderen Lagern des Zeltes blickten mit gefalteten Händen herüber; einige Augenblicke herrschte eine feierliche Stille ringsum.

»Und Sie, mein Fräulein,« sagte der Kaiser, »wer sind Sie? – Auch Ihnen habe ich zu danken, daß Sie diesen Braven gepflegt.«

»Ich heiße Jewa von Dobbrodorow«, erwiderte das junge Mädchen, »und bin die Tochter des Kollegienrates von Dobbrodorow in Moskau.«

Der Kaiser neigte freundlich grüßend das Haupt, indem er halblaut den Namen wiederholte, als ob er sich denselben einprägen wollte; dann verließ er das Zelt, und als er dem Verwundeten noch einen letzten Gruß mit der Hand zuwinkte, raffte dieser all seine Kraft zusammen, ein leises, kaum hörbares Hurra klang von seinen Lippen, und glückliche Freude verklärte das Gesicht des Kaisers – dieser matte Gruß des an den Grenzen des Todes schwebenden Soldaten traf sein Herz inniger und wohltuender als die brausenden Jubelrufe, welche ihm bei den großen Revuen auf dem Marsfelde in Petersburg entgegentönten. – Er bestieg darauf mit dem Großfürsten einen Wagen und fuhr durch das ganze Lager, um überall die Truppen zu besichtigen.

Als er dann nach Pawlo zurückkehrte, überreichte ihm der General Schtscholkow ein inzwischen angekommenes Telegramm; der Kaiser öffnete dasselbe und las, während die Offiziere der Suite sich in höchster Spannung um ihn drängten, mit lauter Stimme:

»Ich habe das Glück, zu berichten, daß Nikopolis nach einem ungemein heftigen, von gestern morgen vier Uhr bis zur Nacht dauernden Kampfe zu Eurer Majestät Füßen liegt. Die Festung hat sich heute bei Tagesanbruch bedingungslos übergeben. Alle Befestigungsraine wurden nacheinander erobert. Eurer Majestät Truppen schlugen sich mit beispiellosem Heldenmut.
Zwei Paschas und sechstausend Mann gefangen.
Generalleutnant Baron Krüdener.«

Der Kaiser stimmte selbst das Hurra an, das sich von seiner Suite aus durch das ganze Lager hin fortsetzte.

Vor dem Hause des Cäsarewitsch war das Diner serviert, und als man sich von demselben erhob, fuhren schnell mehrere Wagen, von einer starken Abteilung Kosaken begleitet, heran. Aus dem ersten derselben sprang ein Offizier, dessen ganze Uniform von dichtem Staube fast unkenntlich bedeckt war, während sein Gesicht und seine Hände der Pulverdampf beinahe schwarz gefärbt hatte. Als der General näher herantrat, rief der Großfürst-Thronfolger heiter:

»Wahrhaftig, es ist Graf Tolstoi – wo kommen Sie her?«

»Von Nikopolis«, erwiderte der General mit einer Stimme, welche von der Überanstrengung fast unverständlich heiser geworden war. »Ich komme. Eurer Majestät die Einnahme der Festung zu melden und den Kommandanten Hassan Pascha als Kriegsgefangenen vorzuführen.«

»Sie konnten in keinem besseren Ehrenkleide vor mir erscheinen,« sagte der Kaiser, dem General herzlich die Hand reichend, »als in diesem Rock, auf welchem der Staub und der Pulverdampf des Heldenkampfes ruhen. Führen Sie den Pascha heran; der tapfere Feind ist unserer Achtung wert.«

Der General eilte zu dem Wagen zurück und führte dann einen kleinen, gedrungenen und untersetzten Mann vor den Kaiser; derselbe trug einen weiten Überrock von grobem Tuch mit goldenen Achselschnüren, einen roten Fes auf dem Kopfe, und war ebenso mit Staub bedeckt und von Pulverdampf geschwärzt, wie der General. Das gebräunte, kräftige Gesicht des gefangenen Pascha, mit seiner stark vorspringenden Nase und seinen kleinen, schwarzen, stechenden Augen, drückte wilden Haß und zurückgehaltene Wut aus. Er trat vor den Kaiser, blickte ihn starr an, legte mit kurzem militärischen Gruß die Hand an seinen Fes und blieb unbeweglich stehen. Die ganze Erscheinung des Gefangenen schien auf den Kaiser einen unangenehmen, peinlichen Eindruck zu machen. Er richtete durch den Dolmetscher des Großfürsten einige kurze Fragen an denselben und entließ ihn dann mit dem Befehl, ihm ein passendes und seinem Range angemessenes Quartier anzuweisen, bis er zu seiner Internierung im Innern Rußlands abgeführt würde. Der Pascha grüßte ebenso kurz als vorher, musterte das kaiserliche Gefolge mit einem grimmigen Blick und kehrte dann zu seinem Wagen zurück, welcher unter Kosakenbegleitung und von einem Adjutanten des Cäsarewitsch geleitet nach dem Dorfe fuhr.

Der General Tolstoi hatte in einem nahegelegenen Zelt sein Gesicht und seine Hände so gut als möglich von Pulverdampf gereinigt und mußte nun dem Kaiser und dem Großfürsten, umgeben von der aufmerksam lauschenden Suite, den ganzen Gang des Entscheidungskampfes vor Nikopolis ausführlich erzählen. Er tat dies mit der Lebhaftigkeit des Augenzeugen und Soldaten, und die tief erschütterten Zuhörer glaubten das blutige Ringen mit all seiner Spannung, all seinen wechselnden Hoffnungen und all seiner endlichen jubelnden Siegesfreude vor ihren Augen sich abspiegeln zu sehen.

»Es ist ein großer Erfolg,« schloß der General, »daß wir Nikopolis in unseren Händen halten, diesen Platz, der fortwährend die Donauübergänge und unsere Verbindungslinien bedrohte – aber«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, indem er die Hände wie beschwörend ausstreckte, »noch ist nicht alles getan, noch sind wir nicht sicher, ich habe die Gegend hier studiert, es gibt einen Punkt, der furchtbarer und gefährlicher ist, als Nikopolis es war, und dieser Punkt, Majestät, ist Plewna. Dort hat die Natur Befestigungen geschaffen, welche uneinnehmbarer sind als die Wälle von Nikopolis, und welche einer ganzen Armee Deckung geben können.«

»Plewna,« sagte der Kaiser, wie erschrocken zusammenfahrend – »wieder Plewna, immer klingt mir dieser Name wie eine finstere Mahnung entgegen – und woher«, fragte er dann, »soll die Armee kommen, welche uns von dort bedrohen könnte, wenn jene Stellungen wirklich so stark, so unnahbar sind, wie Sie sagen?«

»Bei Widdin, Majestät,« erwiderte Graf Tolstoi, »standen starke türkische Truppenmassen; man hat sich nicht um dieselben gekümmert, wir wissen nicht, wie groß sie sind, doch fürchte ich, daß sie stärker sein möchten, als man glaubt. Man hat angenommen, daß sie dort oben durch die Rumänen festgehalten würden, aber die Rumänen rühren sich nicht, und Osman Pascha, der dort befehligt, ist nach allem, was ich von ihm gehört habe, nicht der Mann, um lange still zu liegen und unnütz Kanonenkugeln über das Donauufer zu werfen. Wir haben von Nikopolis aus türkische Marschkolonnen gesehen, welche nur von Widdin herabkommen konnten; jetzt sind sie wieder verschwunden, Gott gebe, daß sie nicht wie ein Schreckbild aus der Erde auftauchen und, während unsere Vortruppen über den Balkan schwärmen, im Herzen unserer Stellung erscheinen. Wir müssen Plewna besetzen und festhalten, Majestät, ehe es zu spät ist, denn dort lauert das schwarze Gespenst der Zukunft.«

Ungläubig lächelnd schüttelten einige der umherstehenden Generale den Kopf.

»Plewna ist nicht übersehen«, sagte der Kaiser ruhig; »ich habe meinen Bruder noch besonders darauf aufmerksam gemacht, und vielleicht wird es in diesem Augenblick schon von uns besetzt.«

»Gott gebe es!« sagte der General seufzend.

Der Cäsarewitsch aber schüttelte unmutig den Kopf.

»Wenn es so ist, wie der General sagt,« bemerkte er, »so kommt es vor allem darauf an, genügende Kräfte nach Plewna hinzuwerfen, damit wir gewiß dort die Übermacht haben und der Erfolg keinem Zufall ausgesetzt wird.«

»Der Höchstkommandierende wird das Nötige befohlen haben«, sagte der Kaiser mit einem leisen Anklang von Strenge in seiner Stimme; schnell sich abwendend, brach er das Gespräch ab und unterhielt sich noch eine Zeitlang mit einzelnen Generalen in heiterer und leichter Weise; dann zog er sich zurück, und alle Welt suchte nach diesem ermüdenden und ereignisreichen Tage die Ruhe in den Zelten, welche für die kaiserliche Suite vor dem Quartier des Thronfolgers aufgeschlagen waren. Nur der General Tolstoi schien die Ruhe nicht finden zu können; seine Hände zitterten unruhig, seine Augen leuchteten fieberhaft, die Überanstrengung mochte seine Nerven in eine krankhafte Aufregung versetzt haben. In eifrigen Gesprächen suchte er jeden der sich zurückziehenden Offiziere noch festzuhalten, immer setzte er von neuem die verhängnisvolle Bedeutung von Plewna und die Notwendigkeit, diese Position unverzüglich zu besetzen, auseinander, und als endlich auch selbst die jüngeren Offiziere, welche sich vor Müdigkeit kaum aufrecht halten konnten, sich fast rücksichtslos, die Unterhaltung unterbrechend, von ihm verabschiedet hatten, kam er mehrfach noch aus seinem Zelt hervor, um überall einzutreten, wo er noch Licht hinter der Leinwand hervorschimmern sah. Er setzte sich vor die Feldbetten und wiederholte den schlaftrunkenen Offizieren fortwährend seinen mahnenden Ruf: »Nehmt euch vor Plewna in acht!« – bis diese endlich verzweiflungsvoll das Licht verlöschten und den Kopf in die Decken begruben, um die Stimme des aufgeregten Generals nicht mehr zu hören. Als er dann endlich nirgends mehr Licht fand und völlig erschöpft in seinem eigenen Zelt auf das Lager niedergesunken war, klang immer noch aus dem unruhigen Schlummer der Übermüdung heraus von seinen zuckenden Lippen das unheimlich mahnende Wort: »Hütet euch, hütet euch, nehmt euch in acht vor Plewna!«

Still und sternenklar lag die Nacht über dem weiten Lager; vom Kaiser bis zu dem geringsten Soldaten füllte Siegesfreude und Siegeshoffnung alle Herzen und belebte alle Träume mit freudigen, glänzenden Bildern; niemand mehr hörte das Wort, das immer leiser verhauchend von den Lippen des Generals Tolstoi klang, und doch lag in diesem Wort, das der Nachthauch flüchtig davontrug, die Beschwörung des neidischen, finsteren Dämons, der sich anschickte, schwarze Wetterwolken über alle Siegesfreude und Siegeshoffnung des Augenblicks heraufzuführen.


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