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In dem Lazarett des Hauptquartiers waren inzwischen die Tage ernst und trübe hingegangen. Immer noch hatte das russische Oberkommando geglaubt, die so plötzlich mitten in dem Siegeslauf emporgestiegene Gefahr mit der äußersten Kraftanspannung erdrücken zu können – immer von neuem waren die Sturmkolonnen gegen die Redouten von Plewna vorgeschickt – immer aber waren sie, trotz des großartigen Heldenmutes der Offiziere und Soldaten, wieder zurückgeworfen worden, denn hinter den Erdwällen hervor spien die türkischen Geschütze einen so dichten und unaufhörlichen Hagel von Kugeln und Geschossen hervor, daß ganze Reihen der Angreifer in wenigen Augenblicken den Boden bedeckten, ohne daß es möglich war, den Feinden ernsten Schaden zuzufügen oder nur eine ihrer Positionen zu erobern und zu behaupten. Zugleich begannen die Türken die russischen Stellungen auf dem Schipkapaß mit wilder Tapferkeit anzugreifen, und mühsam nur konnte der General Radetzki diesen für den ganzen künftigen Feldzug so wichtigen Übergangspunkt halten.
Die Lage von Bjela ließ Bedenken wegen der Sicherheit des Kaisers aufsteigen, auch war das Klima dort ungesund, so daß sogar der Kaiser an rheumatischen Schmerzen zu leiden anfing – daher wurde denn die Verlegung des kaiserlichen Hauptquartiers nach einem zentraler gelegenen Punkte beschlossen, und am 14. August begab sich der Kaiser nach Gornij-Studen, wo sich auch das Hauptquartier des Großfürsten Nikolaus befand, und der Kaiser also im Mittelpunkt aller Operationen seine Stellung hatte, zugleich mit dem offenen Rückweg nach der Donau.
Das Dorf Gornij-Studen liegt in einer weiten Ebene, an einer dieselbe durchschneidenden Schlucht, die einen Wasserlauf einschließt.
In der Ebene neben dem Dorfe befand sich das Hauptquartier des Höchstkommandierenden, die Flagge des Großfürsten wehte über den Zelten und Baracken – ringsum dehnten sich weite Truppenlager aus.
Unmittelbar am Abhange der Schlucht lag ein hohes hölzernes Haus, welches zur Wohnung des Kaisers erwählt wurde. Hier hatte der über die Reichtümer zweier Erdteile gebietende Monarch wenigstens ein festes Dach über sich – aber dennoch hätte kaum für einen einfachen Privatmann dieses »Palais«, wie es die Soldaten nannten, die gewöhnlichsten Bequemlichkeiten bieten können. Eine Außentreppe, ähnlich wie man sie bei den Schweizerhäusern findet, führte in das obere Stockwerk, und neben den beschränkten Wohnräumen des Kaisers fanden nur noch der Graf Adlerberg, der Kriegsminister Miljutin, der Fürst Suwarow und der General Rylejew Unterkommen in der kaiserlichen Residenz.
Auf der Straße vor dem Hause war in einer kleinen Hütte die Telegraphenstation des kaiserlichen Hauptquartiers eingerichtet, ein Heuschober nahm die Kanzlei und die Hofbeamten vom unmittelbaren Dienst auf. Daneben stand das Speisezelt – die sämtlichen übrigen Herren des Gefolges wohnten in Zelten, Baracken oder Bauernhäusern des Dorfes.
So war die Residenz des Kaisers in diesem bulgarischen Dorfe beschaffen, dessen Name vorher der ganzen Welt unbekannt war, und das während einer so langen Zeit voll qualvoller Unruhe und Erwartung den Mittelpunkt aller Fäden bilden sollte, welche das Schicksal des russischen Reiches und die europäische Politik bewegten.
Eine »Stadt der Geduld« nannte der Kaiser Alexander seufzend das durch die umliegenden Truppenlager so weit ausgedehnte Residenzdorf – denn er täuschte sich am wenigsten über die Unmöglichkeit, die Erdfestung Plewna durch Sturm zu nehmen, und zweifelte trotz der sanguinischen Hoffnungen, welche immer wieder im Hauptquartier des Großfürsten auftauchten, keinen Augenblick daran, daß nur durch eine ganz regelrechte Einschließung die Armee des tapfern und zähen Osman Pascha bezwungen werden könne. Dem Kaiser folgten die Lazarette und die Verpflegungsbureaus von Bjela nach Gornij-Studen.
In einem bequemen Wagen, nachlässig in die Polster gelehnt, fuhr Jewjeni Mossejew auf der Straße hin inmitten des Wagenzuges, welcher die am schnellsten erforderlichen Verpflegungsgegenstände für das kaiserliche Hauptquartier enthielt. Er blies wohlgefällig die duftigen, bläulichen Rauchwölkchen aus seiner vortrefflichen Zigarette in die Luft und blickte hochmütig auf die einzelnen Truppenabteilungen herab, welche er im Marsch auf der staubigen Straße in den glühenden Sonnenstrahlen begegnete. Wladimir hatte von dem Vorgange, dessen Zeuge er mit Blagonow in dem Intendanturgebäude geworden, dem Kommando des Hauptquartiers Anzeige gemacht – die Anzeige war der obersten Intendanturbehörde im Hauptquartier des Höchstkommandierenden mitgeteilt und sogleich eine Untersuchung eingeleitet worden. Herr Chwoschtschinski war aber am nächsten Morgen bereits nach seinem Etappenquartier in Rumänien zurückgereist und hatte seine Begleiterinnen wieder mit sich genommen.
Die Verwaltung des Bureaus, die Bücher und die Vorräte waren in vollkommener Ordnung befunden, alle vorgekommenen Taktlosigkeiten wurden auf die Rechnung Chwoschtschinskis geschrieben, so daß ein durchaus zufriedenstellender Bericht an das Oberkommando eingegangen war, in welchem der Vorfall als eine jener Unregelmäßigkeiten dargestellt wurde, wie sie im Lagerleben wohl vorkommen, und für deren Zulassung der Sekretär Mossejew einen strengen Verweis erhalten habe. Damit war die Sache aktenmäßig befriedigend erledigt – der Verweis, den Jewjeni Mossejew von einem der Hauptagenten der Gesellschaft persönlich erhielt, klang aus dessen Munde aber weit mehr wie eine Mahnung zur Vorsicht, und alles blieb, wie es gewesen, nachdem ein starkes Aktenfaszikel vollgeschrieben war.
Jewjeni hatte an Zuversicht gewonnen, er freute sich, in dem Gefühl des geheimnisvollen Schutzes, der über ihm schwebte und ihn selbst gegen eine Anklage aus der kaiserlichen Umgebung deckte, um so mehr der Annehmlichkeiten seiner Stellung, an die er sich bereits so sehr gewöhnt hatte, daß er sie als selbstverständlich betrachtete und weder darüber nachdachte, noch sich verwunderte, wie er aus seiner früheren Dunkelheit zu so genußvollem Leben emporgestiegen sei. Eine Abteilung Kosaken deckte, vor und hinter den Wagen reitend, den Proviantzug. Bei der schließenden Abteilung befand sich Stephan Sacharjew in der kleinen Dienstuniform der Chevaliergarden und vergnügt mit den Kosaken plaudernd, welche ganz stolz darauf waren, daß ein Soldat des ersten Kavallerieregiments der Armee und Diener eines kaiserlichen Ordonnanzoffiziers sich ihnen angeschlossen hatte.
Stephan hatte den Auftrag Blagonows nicht vergessen, dessen Ausführung so vollständig mit der Abneigung und dem Mißtrauen, die er gegen den Studenten empfand, übereinstimmte, und er hatte deshalb auch bei der Verlegung des Hauptquartiers von seinem Herrn Urlaub erbeten, um den Zug mit den Proviantwagen zu machen. So lustig er nun auch mit den Kosaken lachte und scherzte, so fleißig er seine große, wohlgefüllte Feldflasche herumreichte, so verlor er doch den Wagen, in welchem Jewjeni saß, nicht einen Augenblick aus den Augen, um das Versprechen, das er Blagonow gegeben, pünktlich zu erfüllen.
Vor dem Proviantzuge war ein Teil der Krankenwagen abgegangen, da auch die Lazarette des kaiserlichen Hauptquartiers, denen der Kaiser seine ganz besondere Sorgfalt widmete, von Bjela nach Gornij-Studen gebracht werden sollten.
Auf einem breiten Wagen saß Jewa Alexiewna, die Tochter des Kollegienrats von Dobbrodorow, neben dem auf einem Matratzenlager gebetteten Leutnant Rossianow. Ein Korbgeflecht mit einem Leinenvorhang deckte den Verwundeten nach der Sonnenseite hin vor den blendenden und glühenden Strahlen, während auf der anderen Seite der Vorhang geöffnet war, um dem frischen Luftzuge freien Zugang zu gewähren.
Der junge Offizier lag mit geschlossenen Augen da. Sein Gesicht war bleich und abgemagert, aber auf seinen Zügen lag glückliche, friedliche Ruhe – die Unruhe des Fiebers und die Qual der Schmerzen hatten ihn verlassen – seine Wunde heilte regelmäßig und es blieb zu seiner Wiederherstellung nur noch die tiefe Erschöpfung zu überwinden, welche der Blutverlust und das Fieber zurückgelassen. Er trug einen weiten Uniformüberrock, auf demselben war das Georgskreuz befestigt – er hatte, sobald sein Bewußtsein zurückgekehrt war, darauf bestanden, dies Ehrenzeichen, den höchsten Stolz des russischen Soldaten, auch in seiner Krankheit zu tragen, und während er nun schlummernd dalag, ruhte seine Hand auf diesem teuren Kreuz, das ihn für alle Schmerzen so reich belohnte.
Jewa saß in dem dunklen Anzuge der Krankenpflegerinnen neben ihm, sorgsam seinen Schlummer bewachend und zuweilen den Vorhang ordnend, wenn bei einer Wendung des Weges dennoch ein Sonnenstrahl das Gesicht des Verwundeten traf.
Immer mehr hatte sie sich verändert, nicht eine Spur mehr war auf ihrem blassen, feinen Gesicht von dem früheren kecken, leichtfertigen und trotzigen Sinne zu entdecken – ihre Miene war ernst, aber doch von ruhiger Freudigkeit erfüllt, und ihre Augen ruhten mit sinnenden Blicken wie fragend auf dem blassen Gesicht des Verwundeten, als ob sie ihre eigenen Gedanken ordnen oder sich klar machen wolle.
Es hatte sich während der stillen und einförmigen Tage in den dunklen Räumen des Lazaretts zwischen den beiden jungen Leuten ein ganz eigenartiges Verhältnis gebildet, welches Jewa Alexiewna mehr noch bewegte, als den immer wieder noch in seine schlummernde Erschöpfung zurücksinkenden Kranken.
Beide hatten sich früher nur äußerlich gekannt, ohne sich jemals näher zu treten. Der feurige, kühn und ideal angelegte junge Reiteroffizier hatte in der schönen Darja das Traumbild seiner Phantasie verkörpert gefunden und ihr sein Herz zugewendet. Wohl hatte er zuweilen die apathische Gleichgültigkeit des schönen jungen Mädchens wie einen erkältenden Hauch empfunden, aber seine eigene Leidenschaft und das Feuer seines jugendlichen Blutes waren davon nur in flüchtig vorübergehenden Augenblicken berührt worden, und seine lebhafte Phantasie gestaltete die kühne Gleichgültigkeit der Geliebten zu der Scheu edler Weiblichkeit aus.
Darjas Schwester Jewa, welche er selten in der Moskauer Gesellschaft und meistens nur im Hause des Kollegienrats von Dobbrodorow begegnete, war ihm vom ersten Augenblicke ihrer Bekanntschaft an unsympathisch gewesen. Die kecken Manieren der jungen Studentin, ihre freie, burschikose Sprache, die halb männliche Tracht, in welcher sie gewöhnlich erschien – das alles stimmte so wenig mit seinen Vorstellungen von wahrer Weiblichkeit überein, daß er seinen Verkehr mit Jewa auf einen kühlen Gruß und einige allgemein höfliche Redensarten beschränkte.
Jewa ihrerseits war so sehr in die liberalen und negierenden Ideen ihrer Kreise hineingelebt, daß sie von vornherein eine mit Verachtung gemischte Abneigung gegen einen Offizier empfand, der dem Despotismus diente und deutlich zeigte, daß er ganz und gar in den Anschauungen lebte, welche sie als blöde Vorurteile einer dem Untergange geweihten Kaste betrachtete. Sie hatte auch in ihrem Benehmen gegen den jungen Mann aus ihrer Abneigung kein Hehl gemacht und seine höflich kühlen Annäherungen trotzig und spöttisch zurückgewiesen; sie hatte auch dem Dienst der Krankenpflege sich weniger aus nationaler Begeisterung und patriotischer Hingebung gewidmet, als aus dem Drange nach praktischer Tätigkeit, welche ihr kräftiger, lebhafter Geist verlangte. Nachdem sie aber eine Zeitlang ihren Dienst versehen, waren ihre bisherigen Weltanschauungen bereits wesentlich erschüttert worden. Sie sah nach den ersten Gefechten schon so viele kräftige, in der Blüte des Lebens stehende Männer trotz der schweren Wunden, welche sie im Dienste des in den Hörsälen der Universität so bitter gehaßten und so höhnisch verspotteten Despotismus empfangen hatten, von freudiger Begeisterung für den Kaiser und das Vaterland erfüllt. Sie sah diese Männer in frommer Ergebung ihre Schmerzen tragen und den tröstenden Worten der Priester lauschen, welche sie ihrerseits nur zu verspotten gewohnt war; sie sah endlich die tapferen Krieger in der Blüte ihrer Jahre ruhig und heiter sterben in dem freudigen Glauben an eine künftige Welt und an eine ewige, göttliche Liebe und Barmherzigkeit.
Diese Vorgänge, welche sich täglich vor ihren Augen wiederholten, hatten jenen seichten Skeptizismus, den sie aus den medizinischen Vorträgen und aus dem Umgange mit ihren Gefährtinnen in sich aufgenommen, ganz wesentlich in seiner sicheren Selbstgenügsamkeit irre gemacht. Wenn so viel gute, brave Männer freudig in dem Kampfe für den Kaiser und das Vaterland ihr Leben einsetzten, so mußten eben der Kaiser und das Vaterland denn doch wohl etwas mehr bedeuten, als einen bloßen widersinnigen, unwürdigen, kalt grausamen Despotismus, wenn so viel junge, lebensfrische Herzen in freudigem, festem Glauben an Gott und ein ewiges Leben zu schlagen aufhörten, so mußte doch wohl in diesem Gebäude von Knochen, Muskeln und Nerven noch etwas anderes leben, als der pulsierende Herzmuskel, dem ihre Professoren allein die menschliche Existenz zuschrieben, da sie noch nie unter ihrem Seziermesser eine Seele gefunden hatten.
Während der Tage und Nächte, die sie an den Lagern der Leidenden zubrachte, sank ihre bisherige angelernte Weltanschauung immer mehr und mehr unter ihren aufsteigenden Zweifeln zusammen, und immer mehr entwickelte sich in ihr die Überzeugung, daß die ganze Welt, welche sie bis jetzt als eine nach selbsttätigen Gesetzen durcheinander wirbelnde Zusammensetzung von Atomen betrachtet hatte, doch von einem lebendigen, ordnenden, schaffenden und liebevoll sorgenden Geiste durchweht sein müßte.
In diesem Zustande innerer Arbeit und Umwandlung traf sie mit dem verwundeten Leutnant Rossianow zusammen. Als sie ihn erkannte, war ihr erster Gedanke, daß es ihre Pflicht sei, den Geliebten ihrer Schwester mit Aufbietung all ihrer Sorgfalt und Hingebung am Leben zu erhalten, und sie widmete sich seiner Pflege mit der ganzen Energie und Willenskraft ihres Geistes.
Der schöne, junge Mann, dessen Gesicht in fiebernden Schmerzen zuckte, flößte ihr tiefes Mitleid ein. Sie verfolgte mit angstvoller Teilnahme seine Atemzüge, und als endlich leise und allmählich seine Genesung begann, da betrachtete sie sein wiederkehrendes Leben fast als ihr Werk und ihre Schöpfung.
Seine erste Frage, als sein Bewußtsein wiederkehrte und seine Erinnerungen sich wieder zu ordnen begannen, galt dem Georgskreuz, das er aus der Hand des Kaisers empfangen hatte; er verlangte, daß dasselbe auf seine Brust gelegt werde – und von neuem erstaunte Jewa über die gewaltige Macht der Idee, welche in diesem kleinen Kreuze ihren Ausdruck fand. Als nun der junge Mann sich immer mehr und mehr erholte, als das Fieber ihn verließ, als er zu sprechen begann und die Ärzte ihm erlaubt hatten, ihn durch Unterhaltung zu zerstreuen – da war sie wieder in hohem Grade erstaunt über die vielseitige Bildung, über den Reichtum an Gedanken und Empfindungen, welche ihr aus den Gesprächen des jungen Offiziers entgegentraten, den sie der Auffassung ihrer Kreise gemäß für einen beschränkten oder heuchlerischen Söldling des Despotismus gehalten hatte.
Nicht minder wurden all ihre früheren Lebensanschauungen erschüttert durch ihre Unterhaltungen mit Stjepanida, welche sich innig an sie angeschlossen hatte. Die junge Bulgarin sprach so begeistert von ihrer Liebe zu Pawjel, sie war so unerschütterlich entschlossen, sich dem zu beugen, was sie für das göttliche Gebot erkannte, und dabei so gläubig vertrauensvoll, daß die himmlische Macht, die sie so wunderbar geführt und beschützt, auch ihre Liebe zu glücklicher Zukunft führen werde, daß die angelernten Zweifel an allem Heiligen und Göttlichen in Jewas Brust immer mehr vor der Reinheit und Glaubensfreudigkeit des lieblichen Naturkindes verstummten.
Wie sich in der weiblichen Seele alle Empfindungen immer um einen konkreten Gegenstand schlingen und mit demselben zusammenwachsen, so verbanden sich auch alle diese inneren Wandlungen, welche mit Jewa Alexiewna vorgingen, mehr und mehr mit dem Bilde des jungen Mannes, dessen Pflege sie ihre ganze Kraft und Hingebung zuwendete; sie sah in ihm gewissermaßen die Verkörperung eines ihr neu erwachenden Lebens, das sie so viel glücklicher machte, als ihre früher verneinende Weltanschauung, und ihr klarer, zu scharfer Kritik entwickelter Geist erkannte in unwillkürlicher Selbstprüfung mit Schrecken, daß ihr Herz sich immer inniger und fester an den jungen Mann anschloß, der ihr doch als der Geliebte ihrer Schwester ewig unerreichbar war.
Der Leutnant Rossianow seinerseits war nicht minder erstaunt, als er, zum Bewußtsein erwacht, in seiner Pflegerin Darjas Schwester erkannte, und in dem Verkehr mit derselben die früher seinem ganzen Wesen widerstrebende Studentin äußerlich und innerlich so gänzlich verwandelt fand. Die einfache weibliche Tracht der Pflegerinnen ließ Jewas Gesicht so viel edler und schöner erscheinen; die Augen, welche früher durch die blaue Brille verdeckt waren, blickten so klar, ruhig und sinnig, daß sie ihm jetzt, durch ihren edlen Beruf noch verschönt, wie das Ideal reiner und lieblicher Weiblichkeit erschien. Das kecke, trotzige Wesen, das ihn früher abgestoßen, war verschwunden, und ihre stille, demütige Haltung verstärkte den wohltätigen Eindruck, den sie auf seinen wiedererwachenden Geist machte – sie war jetzt das, was er in ihrer Schwester gesucht und zu finden geglaubt hatte, zugleich aber fand er in ihr, was er bei Darja oft schmerzlich, ohne sich selbst darüber Rechenschaft zu geben, vermißt hatte. Ihr lebhafter Geist wußte den Gesprächen, die er mit ihr führte, stets einen neuen Reiz zu geben, sie fragte ihn über so vieles, was ihn selbst lebhaft bewegte, sie lauschte verständnisvoll seinen Worten, und ihre Antworten oder weiteren Fragen regten immer wieder neue Ideen in ihm an, so daß ganz allmählich und ihm selber unbewußt ihr Bild in seinem Herzen an Darjas Stelle trat, nur daß er in seinem durch die Krankheit erschöpften Geist über diese Wandlung nicht so klar wurde wie sie, und das Gefühl, das ihn immer wärmer erfüllte, der natürlichen Dankbarkeit für die Wohltat ihrer sorgfältigen Pflege zuschrieb.
Oft waren in ihren Gesprächen ihre Worte inniger und vertraulicher geworden, ihre Blicke hatten, wie mit magnetischer Kraft angezogen, sich ineinander versenkt, ihre Hände hatten gezittert bei zufälliger Berührung – aber immer waren sie dann nach solchen Augenblicken wieder scheu und erschreckt zurückgewichen und hatten längere Zeit nur gleichgültige Worte gewechselt, bis sie doch wieder irgendein zufällig berührter Gegenstand zu lebhafterem und wärmerem Gespräch führte.
In diesem eigentümlichen, halb glücklichen, halb peinlichen Verhältnis, welches wie eine duftige Morgendämmerung der erwachenden und erwachsenden Liebe zweier Herzen vorangeht, standen die beiden jungen Leute miteinander, als sie auf der Straße zwischen Bjela und Gornij-Studen dahinfuhren, und wundersam widersprechende und miteinander ringende Gedanken bewegten das junge Mädchen, während sie, Rossianows Schlummer behütend, auf sein bleiches Gesicht niederblickte.
Da erreichte der Proviantzug die Krankenwagen, die Wagen der Intendantur fuhren etwas schneller, und nach kurzer Zeit befand sich die offene Droschke, in welcher Jewjeni Mossejew saß, auf der schmalen Straße unmittelbar neben dem Wagen des Leutnants Rossianow. Jewa achtete kaum auf den vorüberfahrenden Provianttrain, und nur die Staubwolke, welche derselbe verursachte, ließ sie unruhig und besorgt aufblicken, da sie den schädlichen Einfluß für den Verwundeten fürchtete.
»Ah, meine schöne Krankenwärterin,« rief Jewjeni lachend, als er Jewas Gesicht unmittelbar neben sich sah, »Sie haben da eine recht schlechte und langweilige Gesellschaft; ein so hübsches, junges Mädchen wie Sie, ist wohl zu etwas anderem da, als neben einem Verwundeten zu sitzen, der kein Glied rühren kann und der kein Verständnis für das Glück hat, sich in so reizender Gesellschaft zu befinden. Lassen Sie den langweiligen Menschen ruhig weiter schlafen und steigen Sie in meinen Wagen – ich habe gesunde Arme, um Sie zu umarmen, und gesunde Lippen, um Sie zu küssen, und Sie werden mit mir eine viel amüsantere Fahrt nach Gornij-Studen machen, als mit dem halbtoten Krüppel, den Sie da neben sich haben.«
Die beiden Wagen fuhren unmittelbar nebeneinander. Jewjeni hatte sich herübergebeugt und sah Jewa mit unverschämten Blicken an. Einen Augenblick flammte helle Röte der Scham und des Unmuts in ihrem Gesicht auf; in früheren Zeiten, als sie noch die blaue Brille der Moskauer Studentinnen trug, würde sie vielleicht mit einem spöttischen Scherzwort oder einer schneidigen Abfertigung geantwortet haben, heute aber fühlte sie sich unendlich peinlich und demütigend berührt. Die Pflegerinnen wurden überall mit so viel Achtung und Ehrerbietung behandelt, daß es ihr fast schien, als ob sie in ihrer Erscheinung noch etwas von dem leichtfertig kecken, freien Geiste ihrer früheren Lebensauffassung behalten haben müsse, wodurch dem ihr ganz Unbekannten zu einer so impertinenten Annäherung Mut gemacht worden sei. Schweigend wendete sie sich ab, und schmerzlich senkte sie den Blick auf den schlafenden Rossianow.
Noch immer fuhren die Wagen nebeneinander.
»Nun,« rief Jewjeni, welcher Jewas Schweigen für eine indirekte Aufmunterung halten mochte, »erhalte ich keine Antwort – sind die schönen barmherzigen Schwestern nur barmherzig für die Verwundeten, und nicht für die Gesunden? Kommen Sie, Sie können leicht hier herübersteigen. Ich habe einen vortrefflichen Frühstückskorb hier im Wagen, und die Zeit soll Ihnen auf dem Wege nicht lang werden.«
Er beugte sich hinüber und faßte ihre Hand, um sie zu sich heranzuziehen.
Jewa stieß einen leisen Schrei aus und versuchte voll Schrecken und Abscheu ihn zurückzustoßen; er aber hielt sie fest und zog sie lachend näher zu seinem Wagen herüber.
Der Leutnant Rossianow fuhr aus seinem leichten Schlummer auf und sah, wie Jewa den Zudringlichen zurückzustoßen versuchte. Er richtete sich mit drohend blitzenden Augen ein wenig auf, aber die Kräfte versagten ihm und er vermochte nur mit einem Ruf des Zornes, der matt über seine Lippen drang, die Hand zu erheben.
Jewjeni war aufgestanden, hatte Jewa mit seinen Armen umschlungen und rief spöttisch:
»Wenigstens einen Kuß muß ich haben, kleine Widerspenstige, und wenn auch Ihr ohnmächtiger Galan da noch so wütend seine Augen verdreht.«
Schon näherte er, ihre abwehrende Hand zurückhaltend, seine Lippen ihrem flammenden Gesicht, als plötzlich ein kräftiger Arm ihn am Kragen packte und so heftig rückwärts riß, daß er mit schmerzlichem Aufschrei in seinen Wagen niedersank.
Stephan Sacharjew, welcher, hinter dem Zuge herreitend, den früheren Studenten nicht eine Sekunde aus den Augen verlor, hatte auch dessen zudringliche Annäherung an die Pflegerin und deren unwillige Zurückweisung bemerkt. Schnell wie der Blitz war er am Rande des Weges an den Wagen vorbeigesprengt und hatte das zitternde Mädchen auf so energische Weise von der unverschämten Liebeswerbung befreit. Jewjeni fuhr wütend empor, er erkannte in dem Soldaten, der, dicht neben dem Wagen reitend, den Arm noch über ihn ausgestreckt hielt, seinen verhaßten Landsmann aus Wolotschina.
»Ha,« rief er knirschend, »tölpelhafter Bauer, wie kommst du hierher, du sollst deine Frechheit bereuen! Wie kannst du es wagen, Hand an die kaiserliche Uniform zu legen?«
»Jewjeni Mossejew,« erwiderte Stephan, immer den Arm über den Wagen hinstreckend, »du warst ein Bauer in Wolotschina wie ich, und hätte dich der Teufel nicht aus der schwarzen Isba befreit, so möchte dir wohl der Galgen nicht entgangen sein, den du redlich verdient hast. Heute bin ich Soldat in unseres allergnädigsten Kaisers Garde, und du bist ein verfluchter Mehlwurm, der den braven Soldaten das Brot kurz schneidet – aber das sage ich dir, wagst du es nur noch mit einem frechen Blick, diese Dame hier zu belästigen, so werde ich dich zusammenprügeln, daß du deine Knochen einzeln aus dem Graben am Wege aufsuchen kannst.«
Giftige Wut sprühte aus Jewjenis Augen, aber Stephan hielt die geballte Faust so nahe über seinen Kopf, und seine Miene drückte so deutlich den festen Entschluß aus, den Worten unmittelbar die Tat folgen zu lassen, daß Jewjeni keinen Widerstand für geraten hielt, um so mehr, da auch unter den Kosaken der Eskorte laute Rufe der Zustimmung zu Stephans energischem Vorgehen vernehmbar wurden. Dieser sprengte zu den ersten Proviantwagen vor.
»Vorwärts,« rief er, »vorwärts, macht daß ihr weiter kommt, ihr stört die Kranken!«
Die Kutscher wagten nicht, dem Befehl zu widersprechen, die Kosaken halfen durch Lanzenstöße die Pferde antreiben, und bald fuhr der Proviantzug in schnellem Trabe vor, auch die Krankenwagen weit hinter sich zurücklassend.
»Der Elende,« sagte Rossianow, welcher der ganzen Szene mit fieberhafter Unruhe zugesehen hatte, »oh, ich werde ihn wiederfinden, wenn ich wieder kräftig sein werde, er soll seine Verwegenheit büßen. Jewa, meine gute, liebe Jewa,« bat er das still weinende Mädchen, »sei ruhig, betrübe dich nicht, denn die Frechheit eines solchen Menschen kann dich nicht beleidigen – oh, warum bin ich so schwach und gebrochen«, seufzte er dann, die Augen schließend, während sein Gesicht sich mit tiefer Blässe bedeckte.
Die Sorge um den Kranken ließ Jewa alles andere vergessen, schnell nahm sie einen Arzneikasten aus einem im Wagen stehenden Korbe und flößte Rossianow einige stärkende Tropfen ein.
Er schlug die Augen wieder auf, seine Blicke ruhten voll tiefer, inniger Zärtlichkeit auf dem zu ihm herabgebeugten Gesicht Jewas, deren Augen noch von Tränen feucht waren.
»Dank, Jewa, Dank,« sagte er, indem er ihre Hand ergriff und sie an seine Lippen zog, »du bist mein guter Engel, dich hat mir der Himmel als meinen Schutzgeist gesendet.«
Errötend senkte sie die Augen vor seinen Blicken, in zitternder Verwirrung suchte sie ihre Hand zurückzuziehen; er aber hielt sie fest.
»Laß mir deine Hand, Jewa,« sagte er, »es tut mir wohl, sie zu halten, es ist, als ob ein warmer Lebensstrom sich von dir zu meinem Herzen ergieße.«
Sie mußte ihm ihre Hand lassen. Noch einmal drückte er sie an seine Lippen, dann schloß er glücklich lächelnd seine Angen, immer aber hielten seine schlanken, krankhaft weißen Finger ihre Hand fest, es schien in der Tat, als ob ihre Berührung ihm wohltätige Beruhigung gewähre, denn bald zeigten seine gleichmäßigen, leichten Atemzüge, daß ein sanfter Schlummer sich auf ihn herabgesenkt habe.
Jewa aber saß tief und schwer atmend neben ihm. Was sie lange erkannt und oft sich selbst zu verhüllen versucht hatte, das wurde ihr jetzt in überwältigender Gewißheit klar, daß ihr ganzes Wesen, all ihr Denken und Fühlen in unwiderstehlicher Liebe dem Kranken gehöre, dessen Leben sie behütet hatte, und dem sie die Lebenswärme ihres Blutes mitteilte. Wonnevolle Seligkeit erfüllte sie, als sie, so über ihn gebeugt, seine Atemzüge und die Schläge seines Herzens hörte – dann aber schnürte bitterer Schmerz ihr Herz zusammen, denn er konnte ihr ja nie gehören, und sie fühlte, daß sie sterben müßte, wenn das Schicksal sie von ihm losreißen würde.
Langsam perlten die Tränentropfen über ihre Wangen, während die Wagen nach Gornij-Studen weiterfuhren.
Der Proviantzug war schneller vorausgefahren und erreichte bald seinen Bestimmungsort, woselbst ein großer Holzschuppen für die Bureaus und Vorräte des kaiserlichen Verpflegungsamtes bereit gestellt war. Stephan Sacharjew nahm alle diese Räume genau in Augenschein, ohne sich um die wütenden Blicke zu kümmern, welche Jewjeni ihm zuwarf, denn er mußte ja die Ortsgelegenheit genau kennen lernen, um die von Blagonow ihm aufgetragene Beobachtung wirksam fortsetzen zu können.
Bald hatte Jewjeni sein Wohngemach und sein Bureau so bequem, als es sich in der Eile tun ließ, eingerichtet. Nachdenklich saß er auf dem breiten Polsterdiwan, der auf den Wagen mitgebracht war; er hatte in seinem ersten Zorn die Absicht gehabt, sich über Stephan Sacharjew zu beschweren, aber bei ruhigerer Überlegung dachte er daran, daß sein Benehmen gegen die Krankenpflegerin, das ja dann auch zur Sprache kommen mußte, dennoch unangenehme Folgen für ihn haben könnte – so behielt er sich denn vor, bei vorkommender Gelegenheit, die sich ihm bieten würde, sich an dem verhaßten Bauer, der hier so unerwartet wieder seinen Weg gekreuzt hatte, zu rächen und sich vorläufig für den gehabten Verdruß durch das angenehme Leben zu entschädigen, das seine Stellung ihm bot.
Während er in diesen Gedanken, seine Zigarre rauchend, auf dem Diwan lag, trat ein Ordonnanzsoldat ein, übergab ihm ein Paket Briefschaften und entfernte sich dann sogleich wieder, ohne eine Frage oder einen Befehl abzuwarten.
Jewjeni schickte sich gleichgültig an, die Briefe durchzusehen, als er ganz obenauf ein kleines Billett erblickte, auf dessen Umschlag sich ein mit roter Tinte geschriebenes N. befand, das man für ein Aktenzeichen oder für die Chiffre des Absenders halten konnte. Der junge Mensch erschrak, als er dies Zeichen erblickte; erbleichend öffnete er mit zitternden Händen das Billett. Dasselbe enthielt nur die wenigen Zeilen:
»Jewjeni Mossejew wird heute abend, sobald die Dunkelheit der Nacht vollständig hereingebrochen ist, sich an eine einsame Stelle auf freiem Felde begeben, um einen Befehl derjenigen zu erhalten, denen er zu gehorchen verpflichtet ist.«
Jewjeni starrte das Papier mit entsetzten Blicken an; er hatte sich an das sorglose und genußvolle Leben, das er führte, so sehr gewöhnt, daß er vollständig aufgehört hatte, darüber nachzudenken, woher ihm dasselbe kam, und kaum hatte er sich noch des Bundes erinnert, dem er willenlosen Gehorsam schuldig war, es schien ihm, als ob eine eisige Hand sich um sein Herz spannte, als er nun so plötzlich und unerwartet daran erinnert wurde, daß er nur ein Werkzeug für die Zwecke einer unbekannten, rücksichtslos gebietenden Gewalt war.
Angstvoll blickte er umher, schnell entzündete er das Billett mit seinem Taschenfeuerzeug und zerrieb dann die Asche sorgfältig auf dem Boden. Er hatte nicht länger Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, denn bereits traten seine Schreiber ein, um die laufenden, durch die Verlegung des Hauptquartiers gehäuften Geschäfte zu beginnen. Es waren die Vorräte zu inventarisieren und die Verbrauchs- und Verteilungslisten festzustellen – mühsam aber nur konnte der junge Mensch seine innere Bewegung unterdrücken, und oft erstaunten die Unterbeamten über die zerstreuten und verkehrten Antworten, die er auf ihre Fragen gab.
Bis Zum Abend dauerte die Arbeit, aber immer lag die Botschaft, welche er erhalten, wie ein finsterer Schatten auf Jewjenis Geist.