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Die Woche verging mir langsamer als gewöhnlich, obwohl ich die Kollegien regelmäßig besuchte und mich sogar in den müßigen Stunden ernstlich mit meinen Studien beschäftigte.
Ich sehnte den Sonntag herbei, den ich, wie verabredet, auf der Oberförsterei zubringen sollte; nebenbei erwartete ich ungeduldig neue Nachrichten über die geheime Verbindung und deren Zwecke, doch wurde die Zeit dadurch nicht beflügelt; im Gegenteil, sie schien immer träger zu rinnen.
Mehrfach begegnete ich Bernhard; sein Antlitz war stets ernst und undurchdringlich; er grüßte höflich, aber förmlich, und keine Muskel seines Gesichts verriet, daß er sich unseres Übereinkommens erinnere.
Anders war es mit mir; ich fühlte, daß bei seinem Anblick das Herz mir schneller schlug und der Wunsch rege wurde, entweder gar nicht an die Pforten des gefährlichen Geheimnisses geführt oder vollständig in dasselbe eingeweiht zu sein.
Der Sonntag war endlich angebrochen. In unbeschreiblicher Pracht entstieg die Sonne dem Siebengebirge; ihre Strahlen bildeten blendende Reflexe auf den kreisenden und wirbelnden Fluten des Rheinstromes, auf den Dächern der Häuser, auf den Kirchturmspitzen und auf den Lichtseiten der Bäume, wie um alle in ihrem Bereich befindlichen Gegenstände zur Feier des Tages nach ihren besten Kräften festlich zu schmücken.
Schon vor Tagesanbruch hatte ich mich auf den Weg begeben. Der Wunsch, so bald als möglich in Johannas liebe blaue Augen zu schauen, beflügelte meine Schritte, und so fröhlich und leichten Herzens wanderte ich auf dem Ufer des Rheins dahin, als wären Kummer und Sorgen für mich auf ewig aus der Welt verbannt gewesen.
Wäre auf diesem Spaziergang Bernhard mit seinen Vorschlägen vor mich hingetreten, dann würde ich schwerlich ohne Widerrede auf diese eingegangen sein. Ich befand mich eben in einer Stimmung, in der mir der Friede als der höchste Segen erschien und ich es für ein Verbrechen hielt, ihn leichtsinnig zu unterbrechen.
Um daher meine Heiterkeit nicht zu trüben, vermied ich es, über das nachzudenken, was mir von Bernhard anvertraut worden war. Ungestört und unbeeinträchtigt durch ernste Bilder wollte ich den herrlichen Morgen genießen, und nach allen Richtungen hin schweiften meine Blicke unablässig, um immer neue Eindrücke in mich aufzunehmen, immer neue Gegenstände zu entdecken, an denen sich mein von jugendlichem Frohsinn überfließendes Herz erfreuen konnte.
Ich ergötzte mich an den Hasen, die, eh' sie ihr Versteck aufsuchten, noch einmal auf der staubigen Straße mit dem Ausdruck der Müdigkeit rasteten und dann bei meiner Annäherung mit scheinbar schwerfälligen Bewegungen seitwärts im dichten Kraut verschwanden; ich ergötzte mich an den mancherlei Vögeln, die familienweise bald nach dem Strom hinabflogen, bald schwirrend sich erhoben und laut jubelnd nach allen Richtungen hin über das Land verteilten; an den Schmetterlingen und den Libellen, die, an Halmen und Blumen hängend, ihre ausgespannten Schwingen den warmen Sonnenstrahlen darboten, um den sie in ihren Bewegungen hindernden Tau von denselben forttrinken zu lassen.
Dazu schallte von beiden Seiten des Rheins aus Dörfern nah und fern, das Geläute, das zu den Frühmetten rief, gar feierlich zu mir herüber; und wo mein Weg an Gehöften vorüberführte, da gewahrte ich, daß sonntäglich geputzte Kirchgänger dem Ruf des bekannten Glöckleins Folge leisteten. Ferner bemerkte ich kleine Bauernjungen, die kaum wagten, sich zu rühren, aus Furcht, daß die neue Jacke mit dem hohen Kragen oder die Schleife des rotgeblümten Halstuches Schaden leiden könnten, während die kleinen Mädchen kokett ihre gefältelten Schürzchen glatt strichen und die kattunenen Ärmel in Puffen emporzupften.
Die mir begegnenden Bauernburschen, zwischen den Lippen eine grellfarbige Blume oder auch eine mit prächtigen Quasten behangene kurze Pfeife, boten mir stets einen »schönen guten Morgen« und fragten mich auch wohl, als Antwort auf eine scherzhafte Anrede, was ein Pfund Kienruß koste, womit sie die um meine Schultern wallenden dunkeln Locken meinten, wogegen die sie begleitenden Mädchen ihre Blicke mit dem Ausdruck des Wohlgefallens etwas länger auf mir haften ließen und zweifelsohne dabei dachten, wieviel schöner ihr Herzallerliebster sich mit langen Haaren, einem verwegenen Zwickelbart und einem Sammetröckchen ausnehmen würde.
Ja, so schweben mir jener Morgen und meine Fußreise in der Erinnerung noch immer lebhaft vor. Sonntäglich lachte die Sonne, sonntäglich prangten die Menschen, und sonntäglich waren auch die Gedanken. Ich fühlte meinen Frohsinn durch solche Eindrücke immer mehr gehoben; im Fluge enteilte mir die Zeit, im Fluge schien die Straße unter mir fortzugleiten, und als ich endlich vor Plittersdorf nach der Überfahrtstelle hinabschritt, war mir, wie wenn erst Minuten seit meinem Aufbruch von Bonn verstrichen wären.
Auf meinen Ruf kam der Fährmann mit den Rudern herbei. Ich stieg in das Boot, setzte mich nieder und tauchte, um mich zu erfrischen, meine Hände in die gegen das Fahrzeug tändelnden Wellen, als meine Aufmerksamkeit plötzlich auf den Schiffer hingelenkt wurde, der, während er die Kette löste, jemand mit barschen Worten zurückwies.
»Zweimal habe ich dich schon mitgenommen, ohne einen Pfennig dafür erhalten zu haben,« rief er aus, »jetzt magst du zusehen, wie du hinüber gelangst. Wenn du kein Fährgeld hast, dann bleibe ein andermal zu Hause.«
»Meinen letzten Groschen gab ich für Brot hin,« lautete die mit heiserer, unmelodisch klingender Stimme erteilte Antwort, »nehmt mich doch mit hinüber, ich bitte Euch darum. Gestern mußte ich den ganzen Tag auf der Straße liegen bleiben, ich war krank, konnte den Reisenden nicht folgen, um sie um eine Gabe anzusprechen, und die paar Pfennige, die mir mitleidige Menschen zuwarfen, verwendete ich dazu, meinen Hunger zu stillen.«
Ich blickte zu dem Bittenden hinüber; schon früher hatte ich ihn gesehen, ihm auch wohl ein Almosen gereicht, mich indessen nie weiter um ihn gekümmert. Indem ich ihn jetzt aber näher betrachtete und seine traurige Lage mit meiner eigenen glücklichen Lebensstellung verglich, wurde ich vom tiefsten Mitleid ergriffen. Und Mitleid verdiente er in der Tat, denn nicht nur, daß schielende Augen dem durch eine krampfhafte Verzerrung entstellten Antlitz einen trüben Ausdruck verliehen, seine rechte Hand und offenbar auch der rechte Fuß waren dergestalt im Gelenk verwachsen und gelähmt, daß beide Teile dadurch vollständig unbrauchbar für ihn wurden.
Sein Alter zu erraten hielt, bei der schrecklichen Entstellung seines Äußeren, schwer, doch konnte er das zwanzigste Jahr kaum erreicht haben. Seine Kleidung war sehr ärmlich, ohne indessen unsauber und zerlumpt zu sein; kurzgeschorene, hellblonde Haare bedeckten, außer einer alten Soldatenmütze, sein unförmliches Haupt, während seine Füße in sehr abgetragenen und durch den unbeholfenen Gang schief getretenen Schuhen steckten.
In der gesunden Hand führte er einen sehr starken, mit einer Krücke versehenen Kreuzdornstock, dessen er sich, indem er die Hüfte darauf stützte, zum Fortbewegen bediente, worin er im Lauf der Zeit eine große Gewandtheit erlangt zu haben schien.
So stand der Unglückliche da, seine trüben, schielenden Augen flehend auf den hartherzigen Schiffer gerichtet und besorgt dessen Bescheid entgegensehend.
»So bleibe noch einen Tag länger auf dieser Seite,« antwortete der Fährmann unfreundlich, »es ist heute Sonntag, die Fremden strömen nach Godesberg, und es kann nicht fehlen, daß du gute Geschäfte machst; morgen wirst du auch noch zur rechten Zeit nach Hause kommen und obenein das Fährgeld erlegen können.«
»Aber ich muß nach Hause«, flehte der Unglückliche.
»Dann kann ich dir nicht helfen«, erwiderte der Schiffer, die Kette ins Boot werfend und dieses vom Ufer aus abschiebend.
»Halt!« rief ich aus, »nehmt den armen Menschen mit hinüber, ich werde für ihn bezahlen!«
Ein dankbarer Blick aus den Augen des Krüppels traf mich, der Schiffer zog sein Fahrzeug wieder heran, und da ich ihn unterstützte, gelangte der unglückliche Wanderer mit verhältnismäßig geringer Mühe in das Boot.
»Der Herr scheint viel Geld zu haben«, bemerkte der Schiffer nach längerem Schweigen, während er das Fahrzeug dicht am Ufer stromaufwärts stieß.
»Wenn auch nicht zuviel, so besitze ich doch hinlänglich, um einem hilfsbedürftigen Mitmenschen einen kleinen Liebesdienst zu erweisen«, entgegnete ich.
Der Schiffer hustete, um seinen Verdruß zu verbergen, der Krüppel dagegen räusperte sich und wendete sich von mir ab.
Die ganze Szene, überhaupt schon der Anblick des so schrecklich entstellten Menschen, war nicht ohne Einfluß auf meine frohe Laune geblieben, so daß die Überfahrt unter Schweigen verlief.
Wie ich dem Krüppel in das Boot hineingeholfen hatte, half ich ihm auch wieder hinaus. Ich bezahlte sodann den Schiffer, und nach kurzem Abschied wandte ich mich der nach Königswinter führenden Straße zu, wo der mir vorausgeeilte unglückliche Reisegefährte meiner harrte.
»Ich wollte dem Herrn für seine Güte danken,« begann er, als ich mich ihm gegenüber befand, indem er mit seiner verstümmelten Hand die Mütze abnahm, »der Schiffer glaubte, ich habe Geld und wolle es nur nicht herausgeben; ich versichere den Herrn aber, daß ich nichts als dieses Stück Brot besitze, und warten konnte ich nicht länger, ich muß nach Hause, um nach meinem Jakob zu sehen. Jakob wird Hunger haben, und die Hälfte dieses Brotes ist für ihn bestimmt.«
»So ist Jakob wohl dein Bruder?« fragte ich, mich langsam in Bewegung setzend.
»Ach wenn Jakob mein Bruder wäre!« rief der Unglückliche aus, »nein, mein Bruder ist nicht so gut, mein Bruder schlüge am liebsten zuerst mich und dann Jakob tot. Ich habe es ihm aber versprochen, tut er meinem Jakob etwas zuleide, so lege ich Feuer an unser Haus; mich mag er schlagen, soviel er will. Aber gehen der Herr nur schneller, sein Weg ist der meinige, und wenn es dem Herrn nicht zu gering ist, und er es mir erlauben wollte, an seiner Seite zu gehen –?«
»Was denkst du?« antwortete ich, meine Schritte beschleunigend, »ich liebe Gesellschaft und will meine Eile ganz nach deiner Kraft bemessen.«
»Wie gut der Herr ist, und wie ich ihm für seine Güte danke,« erwiderte der Krüppel, sich jetzt so schnell vorwärtsbewegend, daß ich Mühe hatte, gleichen Schritt mit ihm zu halten, »ich höre nicht oft solch freundliche Worte, wenn ich sie aber einmal gehört habe, dann vergesse ich sie nie wieder. Ich heiße Anton.«
»Anton? Ei, das ist ein hübscher Name.«
»Viel zu hübsch für ein Geschöpf, das dazu geschaffen ist, andern Menschen Abscheu einzuflößen«, lautete die mit Bitterkeit gegebene Antwort.
»Du hast mir noch nicht gesagt, wer dein Jakob ist, jedenfalls ein braver Bursche, der dir immer freundlich begegnet«, bemerkte ich, um des armen Menschen Gedanken von seiner eigenen bedauernswerten Lage abzulenken.
»Oh, Jakob ist mein Kind, Jakob ist mein Freund und Spielgefährte, Jakob ist ein Rabe, so schön groß und schwarz, wie kein zweiter in der ganzen Welt zu finden ist. Und sprechen kann er, ich selbst habe es ihn gelehrt; er spricht wie ein Buch, er lacht und schimpft die Menschen, die den dummen Anton nicht leiden mögen. Auch meinen Bruder schimpft er, und der verdient es, denn der schlägt mich und stiehlt Holz und stiehlt mir die Pfennige, die mir die Leute geben; und meine Mutter sieht zu und sagt: Anton verdient, mit einem Stein am Halse in den Rhein geworfen zu werden.«
»Du mußt das nicht so wörtlich nehmen, Anton, die Leute sprechen manchmal etwas im Zorn und meinen es dabei gar nicht so böse. Wo wohnt deine Mutter?«
»Meine Mutter und mein Bruder wohnen in einer Seitenschlucht auf dem Wege nach der Löwenburg. Sie haben ein kleines Häuschen, einen Garten und zwei Ziegen.«
»Das kann ja nicht weit von der Oberförsterei sein?«
»Auf der Landstraße braucht man von uns bis zur Oberförsterei eine gute halbe Stunde, auf dem Waldpfade dagegen nur die Hälfte dieser Zeit. Mein Bruder haßt den Oberförster, weil er ihn nicht will Holz stehlen lassen. Ich aber nicht, ich hole mir dort manches Mittagbrot, habe den jungen Herrn auch schon mehrfach daselbst gesehen.«
»Ich dich aber noch nie.«
»Weil ich immer heimlich komme und nicht will, daß mein Bruder es erfährt; er denkt, ich will ihn anzeigen.«
»Bist du in dieser Woche auf der Oberförsterei gewesen?«
»In dieser Woche noch nicht, aber morgen gehe ich wieder hin; es ist jetzt so schön dort, daß ich immer da bleiben möchte.«
»War es denn sonst nicht ebenso schön auf der Oberförsterei?«
»Es war immer schön dort, denn der Herr Oberstleutnant schenkte mir oft einen Groschen, und die Frau Oberförsterin gab mir ein Butterbrot; jetzt aber ist jemand bei ihnen eingezogen, so gut und so schön, schöner noch als die Muttergottesbilder in der Kirche zu Königswinter.«
»Ei, ei, mein lieber Anton, wer mag es denn wohl sein, der dir so außerordentlich wohlgefällt?« fragte ich, obwohl ich wußte, daß er niemand anders als Johanna meinen könne.
»Eine junge, sehr vornehme Dame, und Johanna heißt sie. Oh, sie ist so freundlich und gut gegen den armen Anton; sie leidet nicht, daß jemand über den häßlichen Anton lacht, und wenn sie mich sieht, dann sagt sie jedesmal: ›Armer Anton, wie geht es dir? bist du auch hungrig?‹ und schnell eilt sie ins Haus zurück, um mir ein Butterbrot zu schneiden, so dick wie meine Faust.«
»Das muß ja ein wahrer Engel sein,« bemerkte ich, innerlich ergötzt über die Art, in der er den Wert des jungen Mädchens veranschaulichte, »gewiß liebst du die freundliche Dame sehr?«
»Ja, das Fräulein liebe ich mehr als mich selbst, mehr noch als meinen Jakob! Jakob kennt das Fräulein auch schon; ich habe ihm ihren Namen so oft vorgesagt, bis er ihn endlich gelernt hat. ›Tag Johanna, koch' Kaffee, Johanna!« ruft er hundertmal hintereinander, der gute Jakob.«
Während dieser Unterhaltung waren wir wacker vorwärtsgeschritten und erreichten bald ein ländliches Gasthaus, vor dem der Weg sich teilte.
»Komm, Anton,« sagte ich zu meinem Reisegefährten, indem ich auf den mit Tischen und Bänken besetzten Platz vor der Schenke zuschritt, »komm, ich habe Hunger und Durst, ein Schoppen Drachenfelser wird mir dienlich sein.«
Anton folgte mir bis an den Gartenzaun, dort aber zog er sein schwarzes Brot aus der Tasche, und nachdem er derb hineingebissen, traf er Anstalt, sich niederzulegen, um meine Rückkehr abzuwarten.
»Nein, Anton, so war es nicht gemeint,« wendete ich mich zu dem überraschten Burschen, »spare das Schwarzbrot für deinen Jakob. Bin ich auch kein reicher Mann, wie der Schiffer meinte, so kann ich doch noch etwas weißes Brot, ein Stück Schinken und einen Schoppen Wein für dich bezahlen.«
Erstaunt blickte Anton zu mir empor. Seine breite Brust hob und senkte sich schwer. Hätte ich ihm einen blanken Taler geschenkt, seine Freude und seine Dankbarkeit hätten nicht größer sein können. Geschah es doch vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, daß ein anderer Mensch ihm als einem gleichberechtigten Wesen begegnete und sich seiner nicht schämte.
Obwohl er sich in meiner Gegenwart Zwang auferlegte, aß und trank Anton mit wahrem Heißhunger; ich gönnte ihm den seltenen Genuß von ganzem Herzen, und gab nicht eher das Zeichen zum Aufbruch, als bis er mit komischer Verlegenheit versicherte, daß er vollständig befriedigt sei.
Nach der kurzen Rast setzten wir unsere Reise in das Gebirge hinein fort. Anton sann wohl darüber nach, wie er mir auf seine Art eine Freude bereiten könne. Er fragte wenigstens mehrfach, ob ich Weidenflöten liebe oder schöne Steine und Blumen. Ich bejahte natürlich alles, und dann gelang es mir auch, ihn wieder auf die Oberförsterei und namentlich auf Johanna zu bringen, und eine freundliche Unterhaltung gewährte es mir zu hören, wie er in seiner kindischen und doch so aufrichtigen Weise Johanna bis über die Wolken erhob und zuletzt sogar den Heiligen gleichstellte.
So floh die Zeit mir schnell dahin und überrascht blickte ich empor, als Anton mir erklärte, daß wir nunmehr bei dem Richtsteig angekommen seien, auf dem ich in einer guten halben Stunde die Oberförsterei zu erreichen vermöge.
»Dann berühren wir wohl deine Hütte?« fragte ich, vergeblich nach einem Eingang in das dichte Buschwerk spähend.
»Nein, junger Herr,« lautete die Antwort, »um zu meiner Mutter Hütte zu gelangen, hätten wir schon früher abbiegen müssen. Diesen Pfad kennt außer Anton kein Mensch. Er ist auch schwer zu finden, denn schleiche ich in dieser Richtung durch den Wald, dann nehme ich mich stets in acht, dieselbe Spur nicht zweimal zu betreten. Oh, es ist ein schöner Pfad, er führt über Felsen und durch Schluchten, aber der lahme Anton ist nicht so einfältig, er kann klettern und kriechen und kommt hin, wohin andere Leute nicht gern gehen.«
So sprechend bog er auf der rechten Seite des Weges die Haselbüsche auseinander, die sich gleich darauf wieder hinter uns schlossen.
»So, lieber Herr, jetzt befinden wir uns auf dem Pfade«, sagte er nach einer Weile, als das Buschwerk sich etwas lichtete und zerstreut stehende verkrüppelte Eichen das Vordringen weniger erschwerten.
»Ich erkenne keinen Pfad, Anton, es sieht hier so aus wie dort, ich meine, als wenn noch nie ein Mensch in dieser Richtung gewandert wäre.«
»Es sollen auch keine Menschen hier wandern, es ist Antons eigener Weg und dann –«
»Und dann?«
Anton blieb stehen und wendete sich nach mir um, mich halb mißtrauisch, halb freundlich betrachtend.
»Der liebe junge Herr hat dem verachteten, häßlichen Anton eine große Wohltat erwiesen; er hat den Krüppel bei sich am Tisch sitzen lassen, mit ihm gegessen und getrunken. Andere Leute schlagen und stoßen mich, dann laufe ich davon und verberge mich, wo mich niemand finden kann. Selbst Jakob kennt mein Versteck nicht; Jakob ist dumm, er würde mich verraten und die Menschen zu mir führen. Der junge Herr dagegen ist ein gelernter Student und wird des armen Antons heimliche Zufluchtsstätte nicht meinem Bruder zeigen.«
Bei diesen Worten kehrte er sich kurz um, und wie um das Versäumnis einzuholen, hinkte er mit verdoppelter Eile immer tiefer in den Wald hinein.
Der Weg oder vielmehr der pfadlose Boden wurde jetzt so hindernisreich und unwegsam, daß die von uns innegehaltene Richtung sich nur notdürftig meinem Gedächtnis einprägte. So gelangten wir allmählich in eine bewaldete Schlucht, die nicht nur durch niedergebrochene Felstrümmer und schweres Gerölle unzugänglich erschien, sondern deren Einfassung auch auf kurze Strecken, bald auf der einen, bald auf der andern Seite, sich als schroffe Uferwände erhob und daher nur für Kräuter- und Beerensammler Anziehungskraft haben konnte.
Anton kannte indessen seinen Weg ganz genau, denn kein einziges Mal äußerte er Zweifel über die Richtung. Hier folgten wir dem Lauf einer spärlich durch das Moos hinsickernden Quelle, dort kletterten wir behutsam von Stein zu Stein, und machte sich auch in den oberen Luftschichten die Wirkung der höher steigenden Sonne fühlbar, so wurden wir bei unserer mühevollen Wanderung doch nicht durch die Hitze belästigt; denn die Schatten und die von dem Gestein ausströmende nächtliche Kühle vereinigten sich, unsern Weg in einen überaus angenehmen zu verwandeln.
Dabei stand die feierliche Stille, die in der Schlucht herrschte, im vollsten Einklange mit der wilden, malerischen Umgebung, und wenn hier, durch unsere Annäherung aufgescheucht, ein schlankes Wiesel zwischen dem Gerölle hervorschlüpfte, dort ein Eichhörnchen munter von Zweig zu Zweig sprang oder ein schillernd beschwingter Häher uns mit mißtönendem Schrei begrüßte, so trug das nur dazu bei, den Reiz der einsamen Wanderung zu erhöhen.
Etwa eine Viertelstunde hatten wir uns in der Schlucht fortbewegt, da blieb Anton plötzlich stehen, und nachdem er eine Weile in der Ferne gelauscht, flüsterte er mit geheimnisvollem Wesen: »Hier liegt das Schloß des verachteten Krüppels, es liegt sicher und schön, sogar die Hunde der Jäger sind schon vielfach dicht an seiner Tür vorübergegangen, ohne den armen Anton in seinem Versteck auszuwittern.«
Und mit seiner verstümmelten Hand auf eine steil aufstrebende Felswand weisend, sagte er kaum verständlich: »Dort ist es; aber folgen mir nur der junge Herr,« fuhr er fort, sich der bezeichneten Felsenmauer nähernd, »der liebe Herr müssen hinein, um es zu glauben.«
Er hatte Recht, denn selbst als wir am Fuß der Wand angekommen waren, sah ich nichts, als eine Anhäufung von Felstrümmern, die vom obersten Rande des Plateaus niedergestürzt waren und nunmehr bis zu einer Höhe von ungefähr zwanzig Fuß an der Wand hinaufreichten.
Vorsichtig folgte ich Anton, als er die wallartige Geröllanhäufung erkletterte und sich oben rastend niederließ.
»Hier ist des armen Antons Schloß,« sagte er, auf einen mäßig großen Felsblock deutend, dessen eine Hälfte von einer umfangreichen Stechpalme und verworrenen Brombeerranken vollständig verdeckt wurde; »die Hunde kommen hier nicht herauf, und kämen sie herauf, um mich zu beißen, so würden sie sich stechen und an den Dornen ihre Haut zerreißen.«
»Aber von dort unten kann dich jeder sehen, guter Anton,« versetzte ich, über die Einfalt des unglücklichen Menschen lächelnd.
»Ja, wenn ich hier sitze, aber nicht, wenn ich mich verborgen habe,« und indem er noch sprach, glitt er nach der freien Seite des Felsblockes herum, wo er sich sogleich niederlegte.
Ich folgte ihm und gewahrte mit Verwunderung, daß er zwischen dem Felsblock und der Wand, nachdem er einige die Öffnung verdeckende Ranken zurückgebogen hatte, in jene hineinkroch.
Nun glaubte ich die halb verschüttete Pforte eines aus dem Mittelalter herrührenden und nach einer der benachbarten Burgen hinauf führenden heimlichen Kellerganges vor mir zu sehen.
Von Dornen verletzt, gelangte auch ich in den Felsen hinein, dessen Eingang sich schon nach einer kurzen, kaum zwei Fuß langen Strecke erweiterte, und als sich meine Augen einigemaßen an die in dem abgeschlossenen Raum herrschende Dämmerung gewöhnt hatten, überzeugte ich mich, daß der Eingang zu dem vermeintlichen schauerlichen Burgverließ nur eine, vielleicht durch vulkanische Erschütterungen entstandene Aushöhlung sei, die durch die von dem Plateau niedergebrochenen Gesteinstrümmer von der freien Luft abgeschlossen wurde.
Der Raum mochte, einige Unregelmäßigkeiten abgerechnet, ungefähr sechs Fuß im Durchmesser halten, was Anton allerdings für mehr als genügend erachtete, um die enge Höhle, in der er als Selbstherrscher residierte, mit dem prahlenden Namen: »Schloß« zu belegen. Die Hälfte der Bodenfläche war mit einer tiefen Lage Heidekraut bedeckt, außerdem stand in dem einen Winkel ein großer steinerner Wasserkrug, und in einer andern Ecke lag ein beträchtlicher Vorrat von Haselnüssen. Nachdem ich mich lobend über alles ausgesprochen und daran meinen Dank für das unbedingte Vertrauen geschlossen hatte, krochen wir wieder ins Freie hinaus; Anton reinigte meinen Samtrock und rüstig verfolgten wir dann wieder unsern hindernisreichen Weg.
Nach einer weiteren Viertelstunde öffnete sich die Schlucht, hin und wieder schimmerte eine Lichtung zwischen den Eichen- und Haselnußdickichten hindurch, und bald darauf bogen wir in einen schmalen, aber mehr betretenen Pfad ein.
»Dort liegt die Hütte meiner Mutter,« sagte Anton, auf dem Pfade rückwärts deutend, »und dort die Oberförsterei,« fügte er hinzu, in entgegengesetzte Richtung weisend.
»Dann gehe nur nach Hause, guter Anton,« versetzte ich, ihm ein Silberstück als Belohnung für seine Dienste darreichend, »gehe nur heim; dieser Pfad muß in die Landstraße münden, und bin ich erst dort, so befinde ich mich auf bekanntem Boden.«
»Oh, Jakob wartet noch etwas, und die Schläge von meinem Bruder werde ich noch früh genug erhalten,« erwiderte Anton bitter, indem er schnell vor mir her hinkte, »ich begleite den lieben, jungen Herrn bis an die Straße – oh, lieber, junger Herr, hörten Sie nichts?« unterbrach er sich plötzlich, mit dem Ausdruck des Entsetzens stehenbleibend und zu mir zurückschauend.
»Ja, Anton, ich höre das Bellen eines Hundes.«
»Noch mehr, lieber, junger Herr, noch viel, viel mehr, oh, der Hund, der Hund!«
»Es wird ein Hund des Herrn Oberförsters sein, der tut nichts, ich stehe dafür ein.«
»Aber Jakob, ich höre Jakob! Sie tun meinem Jakob ein Leid an! Jakob! Jakob!« und so ausrufend stürmte er mit aller ihm nur möglichen Eile vorwärts.
Ich aber überholte den jammernden und keuchenden Krüppel, und von dem Pfade in den Wald einbiegend, gewahrte ich den weiß- und braungefleckten Lieblingshund meines Vormundes, wie er grimmig bellend einen vor ihm im hohen Grase einherschlüpfenden schwarzen Gegenstand bald eifrig verfolgte, bald, wenn dieser sich in einen Strauch festgesetzt hatte, mit allen Anzeichen der feindseligsten Absichten ihn eilfertig umkreiste.
»Diana! hier heran! Diana! Diana!« rief ich fast atemlos. Der Hund erkannte meine Stimme, aber meine Eile für eine Aufmunterung haltend, sprang er mit verdoppelter Wut auf den Raben ein, und im nächsten Augenblick sah ich eine kleine Wolke schwarzer Federn emporwirbeln.
Der geängstigte Vogel mußte sich indessen nachdrücklich zur Wehr gesetzt haben, denn ebensoschnell sprang der Hund wieder zurück, einen kurzen, durchdringenden Schmerzensschrei ausstoßend.
Ehe er seinen Angriff erneuern konnte, war ich heran, ein leichter Hieb mit meinem Ziegenhainer trieb ihn zurück, und schnell näherte ich mich dem Raben, um zu sehen, inwieweit er Schaden genommen habe. Anfangs glaubte ich, es sei um ihn geschehen; denn er saß in einem Grasbusch da, als ob beide nach oben gerichteten Flügel gelähmt gewesen wären, und erst als ich mich zu ihm niederneigte und er Miene machte, mich die Wucht seines mächtigen Schnabels fühlen zu lassen, schwand meine Besorgnis.
In dem Äußern des ergrimmten Vogels lag übrigens etwas merkwürdig Dämonisches; den Hals hatte er in die gesträubten Federn zurückgezogen, den Schnabel zur Hälfte geöffnet, und indem er den Kopf bald mir, bald dem abwärtsstehenden Hunde zuwendete, blitzten seine runden schwarzen Augen so feindselig, als hätte er uns beide mit seinen Blicken durchbohren mögen.
In der nächsten Minute kam Anton herbeigehinkt. »Jakob, Jakob!« rief er laut klagend aus, während Tränen über seine wettergebräunten Wangen rollten; »Jakob, ich komme, Jakob! Jakob!«
»Johanna, koch' Kaffee!« antwortete Jakob mit einer Stimme, die sich kaum von der Antons unterschied, und dann, seine Federn glättend und den Hals reckend, hüpfte er furchtlos an mir und dem Hunde vorüber auf seinen jammernden Gebieter zu.
»Jakob, was haben sie dir getan!« schrie Anton, als der Vogel, anstatt wie gewöhnlich auf seine Schulter zu fliegen, sich mit emporgehaltenen Schwingen vor ihm niederkauerte.
»Spitzbube! Spitzbube!« sprach der Rabe, seine klugen Augen auf Anton richtend.
Bitterlich schluchzend kniete dieser neben seinen einzigen Freund nieder, ihn mit rührender Sorgfalt von allen Seiten betastend.
»Oh. sie haben ihm die Flügel gebunden!« rief er gleich darauf schmerzlich aus, »die Flügel gebunden, damit die Hunde ihn zerreißen sollen! Das hat mein Bruder getan, und meine Mutter hat zugesehen! Aber unser Haus verbrenne ich, wenn Jakob stirbt. Armer Jakob, sei nur ruhig, ich habe dir Brot mitgebracht, auch ein Stückchen Fleisch; der junge Herr gab es mir, und ich habe bei ihm am Tische gesessen, ich, der arme, verachtete Krüppel!«
Der Rabe, als hätte er seines Herrn Trostesworte verstanden, warf mir einen flüchtigen Blick zu, worauf er ein Lachen ausstieß, das dem Antons so ähnlich war, daß ich unwillkürlich mitlachen mußte.
Endlich war es Anton gelungen, die fesselnde Schnur von seines Lieblings Flügeln zu entfernen, und atemlos vor Furcht und Spannung richtete er sich auf, um zu sehen, wie der Rabe sich nunmehr gebärden würde. Dieser, sobald er sich befreit fühlte, reckte zuerst den einen und dann den andern Flügel prüfend aus, schlug seinen Schnabel mehrere Male mit lautem Geräusch zusammen, ging einige Schritte zurück, wie um einen Anlauf zu nehmen, und im nächsten Augenblick saß er zu Antons unaussprechlicher Freude auf dessen Schulter, seinen Kopf schmeichelnd an dessen rauher Wange reibend.
»Er ist noch gesund, er lebt noch, und der liebe, junge Herr hat ihn gerettet«, sagte der arme Bursche, mit Tränen der Dankbarkeit in seinen Augen.
»Wenn ich nicht ein so unglücklicher Krüppel wäre, fände ich vielleicht Gelegenheit, dem Herrn Studenten wieder zu dienen.«
»Danke, danke, mein lieber Anton, ich bin schon vollständig mit deinem guten Willen zufrieden, laß dich nur öfter einmal auf der Oberförsterei sehen, Fräulein Johanna –«
»Johanna, koch Kaffee!« unterbrach mich der Rabe krächzend.
»Gewiß, Jakob, sie wird euch einen guten Kaffee kochen,« fuhr ich fort, und dann Anton zum Abschied die Hand reichend und den Hund an mich lockend, schritt ich quer durch das Gebüsch der nahen Landstraße zu.
Einmal noch schaute ich zurück; Anton hatte sich auf den Rasen niedergelassen; auf seinen Knien saß der Rabe, die Brocken verzehrend, die sein Freund ihm darreichte.