Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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Die Töchter des Medizinmannes

Wohl zehn Minuten verharrte der Medizinmann in seiner nachdenkenden Stellung. Während dieser ganzen Zeit beobachtete ich ihn voller Spannung, aber vergebens suchte ich aus seinen Zügen herauszulesen, was in seinem Innern vorging. Die dicke Lage blauer und roter Farbe ließ seine Physiognomie undurchdringlich erscheinen.

Plötzlich wendete er sich mir wieder zu, und nachdem er mit beiden Händen leicht über seine Augen hingefahren war, wie um eine peinigende Vision zu verscheuchen, legte er seine rechte Hand auf meine gefesselten Arme.

»Haben Sie Geduld,« begann er ruhig und ernst und ohne jenes krankhafte Pathos, das er kurz vorher noch in seine Worte gelegt hatte, »ich werde Sie und meine Tochter retten oder vereinigt mit euch untergehen. Und nun hören Sie mir aufmerksam zu, Sie werden Wunderbares erfahren. Doch eh' ich beginne, wiederhole ich noch einmal: jene Weissagung erfüllt sich, und soll sich erfüllen.

»Da der Oberstleutnant Werker Ihnen die Geschichte seines unglücklichen Bruders mitgeteilt hat, da Sie selbst diese Geschichte niedergeschrieben haben, so brauche ich nicht mehr darauf zurückzukommen. – Wissen Sie, was aus jenem, um sein Lebensglück schändlich betrogenen Hans Werker geworden ist?«

Ich starrte den Frager verwundert an; klangen mir die bekannten Namen aus dem Munde eines Fremden seltsam, so überraschte mich diese Frage in noch höherem Grade. »Er soll sich das Leben genommen haben,« antwortete ich endlich zögernd.

»So dachte man. Aber er starb nicht, er entfloh nur,« entgegnete der Medizinmann düster. »Um aber einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf das Gemüt seiner ungetreuen Gattin zurückzulassen und dadurch die Zukunft seines holden Kindes gegen die Willkür fremder gewissenloser Menschen sicher zu stellen, entfloh er so heimlich, daß niemand einen Zweifel in sein durch einen Selbstmord herbeigeführtes Ende setzte. Er entfloh, doch nicht eher verließ er den europäischen Boden, als bis er sich überzeugt hatte, daß sein Zweck gelungen war, seine letzte Hoffnung sich erfüllte.

»Die pflichtvergessene Gattin bereute, das Kind wurde dem Einfluß der fluchwürdigen Politik einer gewissenlosen Geistlichkeit entzogen, und getreu dem einmal gefaßten Entschluß und beruhigt über die Zukunft meiner kleinen Johanna suchte ich das Weite.«

»Und Sie – Sie wären der Vater meiner armen unvergeßlichen Johanna?« rief ich erschüttert aus, indem ich, vergessend, daß ich gefesselt war, eine Bewegung machte, als hätte ich aufspringen wollen.

»Ja, der bin ich, der Vater derselben Johanna bin ich, die du einst so heiß geliebt hast,« antwortete Hans Werker, der totgeglaubte Bruder meines verehrten Vormundes; »der Vater deiner Johanna, der Vater deiner Schanhatta, der armen verlassenen Mandanen-Waise, und nun sage selbst, ob ich nicht Ursache hatte, dich, mein Sohn, auf die Prophezeiung hinzuweisen? Jeannette ist die Tochter von Johannas Vater, und was die Wahnsinnige einst planlos dichtete, was einst phantastische Träume bei dem jugendfrischen Studenten wachrief, das soll jetzt an dem gereiften Manne in Erfüllung gehen. Aber blicke mich nicht so starr an; ich weiß, was in deinem Innern vorgeht. Mich umgibt der Schmuck eines indianischen Zauberers, bunte Farben verunstalten mein Gesicht, aber glaube mir, unter den bunten Farben und dem Lederhemde verzehrt mich ein Schmerz, so tief und herbe, daß ich nicht begreife, wie ich so lange habe leben können. Doch ich will nicht mehr klagen, nur wenig Schritte von hier liegt meine Tochter, die Totgeglaubte, die ich in derselben Stunde wiederfand, in der die Gewißheit, mein teures erstes Kind, meine liebliche Johanna, dennoch durch die unheilvollen Ränke jener verbrecherischen Priestergemeinschaft verloren zu haben, mich niederschmetterte und mich von neuem in das dumpfe Brüten zu stürzen drohte, in dem ich bereits Jahre zugebracht haben muß. Freude und Schmerz kämpfen jetzt in meiner Brust um den Vorrang, innige Freude über meine Jeannette, tiefe Trauer um meine Johanna. O Gott, mein Gott, wie lange wirst du noch dulden, daß auch unter denjenigen, die die hehre Pflicht haben, deinen Namen zu verherrlichen, sich die schwersten Laster und Sünden vertreten finden, daß das Kleid der Kirche als Deckmantel für Verbrechen benutzt wird, daß man deine reinen Lehren dazu ausbeutet, den menschlichen Geist zu erniedrigen und zu verkrüppeln!«

Stumm vor Erstaunen blickte ich zu dem vielgeprüften Manne empor. Innige Teilnahme ergriff mich, indem ich den Unglücklichen näher betrachtete; was mußte er erduldet haben, um sich endlich heimisch in einer so verunstaltenden Verkleidung zu fühlen, und bis zu welchem Grade mußte die Gestörtheit seines Geistes reichen, daß die Indianer sich dadurch bewogen fanden, ihn zu nähren, zu kleiden und als einen hervorragenden Zauberer zu beschützen und zu ehren?

»Wenn ich nicht gefesselt wäre,« hob ich an, sobald Werker schwieg, »dann würde ich Ihnen die Hand drücken zum Zeichen meiner aufrichtigsten Freude, Ihnen, dessen Geschick mit dem meinigen so innig verflochten –«

»Geduld, mein Sohn,« unterbrach mich Werker mit bewegter Stimme, indem er seine Hand wieder auf meine Stirne legte, »ich weiß, was du sagen willst, verliere keine Worte mehr darüber; die Zeit enteilt, ich habe dir noch viel anzuvertrauen.

Höre darum weiter: als ich vor mehr als zwanzig Jahren der Heimat den Rücken kehrte, befand ich mich in einem Gemütszustande, der mich für den Verkehr mit weißen Menschen untauglich machte. Überall sah ich ehrlose Betrüger, überall Leute, die darauf ausgingen, ihre Mitmenschen ins Verderben zu stürzen und bei deren Verzweiflung aus vollem Herzen zu hohnlachen. Meine Reise über den Ozean und durch die kolonisierten Teile des nordamerikanischen Kontinentes glich mehr einer Flucht vor einem mich verfolgenden furchtbaren Phantom als einer zur Erreichung eines bestimmten Zweckes unternommenen Fahrt. Und im Grunde hatte ich ja auch keinen eigentlichen Zweck; ich wollte nur fort, fort, weit fort; mich trieb die Angst, daß diejenige, die mich einst treulos verriet, eine Ahnung von meinem Leben erhalten und infolgedessen, zum Nachteil meines armen Kindes, auf dem Pfade der Reue umkehren und sich den auf der Lauer liegenden jesuitischen Priestern wieder in die Arme werfen könne. Habe ich unrecht gehandelt, so mag Gott mir vergeben um der Qualen willen, welche ich erduldete.

Auf meiner fluchtähnlichen Reise ging ich so weit westlich, wie meine spärlichen Mittel reichten; ich scheute weder Gefahren noch Hindernisse. Wo ich noch ein weißes Gesicht erblickte, da trieb es mich fort; die Furcht vor den Weißen war zum drohenden Gespenst bei mir geworden. Mich leitete der unbestimmte Wunsch, meine Zuflucht unter Menschen zu suchen, die noch nicht gelernt hatten, solche Qualen, solche namenlose Leiden zu ersinnen, wie sie mir in meiner Heimat zugefügt worden waren.

So hatte ich denn endlich das Dorf der Mandanen erreicht, als sich zu meiner gänzlichen Erschöpfung noch eine schwere Krankheit gesellte und mich zwang, liegen zu bleiben.

Welche Art von Krankheit mich heimsuchte, weiß ich nicht, ich erinnere mich nur, daß ich glaubte, sterben zu müssen, und daß die wilden Heiden mich mit größter Sorgfalt pflegten.

Die armen Heiden, sie fragten nicht, woher ich komme, wer ich sei oder auf welche Art ich meinen Gott verehre; sie sahen, ich war krank und hilflos, für sie ein genügender Grund, mir ihre Gastfreundschaft im ungebundensten Maßstabe angedeihen zu lassen.

Unter denjenigen, die mir in meiner hilflosen Lage die meiste Sorgfalt und Aufmerksamkeit schenkten, befand sich auch eine junge Indianerin, die älteste Tochter der Familie, in deren Zelt ich Obdach gefunden hatte.

Obgleich das Bild einer echten Indianerin, besaß sie selbst nach unseren Begriffen einen ungewöhnlichen Liebreiz, und namentlich ein Paar großer, unendlich freundlicher und sanfter Augen.

Zu verständigen vermochte ich mich mit meinen Gastfreunden nur mit Hilfe von Gebärden; es genügte dies indessen unsern Zwecken vollkommen, und namentlich zeichnete sich die junge Indianerin dadurch aus, daß sie mit wunderbarem Scharfsinn meine Wünsche erriet und sich dann stets beeilte, diese in Ausführung zu bringen.

Die freundliche Zutraulichkeit des jungen Mädchens verfehlte nicht, eine wohltätige Wirkung auf meine gedrückte Gemütsstimmung auszuüben. Ihre sichtbar wachsende Zuneigung veranlaßte mich sogar, dem Zureden einzelner Mandanen-Häuptlinge nachzugeben und in ihrer Mitte meine neue Heimat zu wählen. Wohin hätte ich mich auch wenden sollen? Ich befand mich, wie ich es so heiß ersehnte, fern jeder Spur der mir durch Erfahrungen der bittersten Art verhaßt gewordenen Zivilisation, durch die ich an meine herben Verluste hätte erinnert werden können, und die sehr wenigen Weißen, die sich damals erst in diese Regionen wagten, waren eben rauhe Pelzjäger, die sich in Sitten und Gewohnheiten kaum von den Eingeborenen unterschieden.

Meine rothäutigen Gefährten betrachteten mich bald vollständig als einen der ihrigen; ich begleitete sie auf ihren Jagdzügen und beteiligte mich an ihren wilden Festlichkeiten, so lange diese nicht einen meinen Gefühlen widersprechenden Charakter erhielten.

Für die mir bewiesenen freundlichen Gesinnungen erzeigte ich mich dankbar, indem ich bei Erkrankungen die mir von der Heimat her bekannten Hausmittel oft mit dem besten Erfolg in Anwendung brachte und meine Gastfreunde manche kleine Kunstgriffe lehrte, die ihnen hin und wieder die Arbeit und das Leben erleichterten. Man hielt mich infolgedessen für einen hervorragenden Medizinmann, und immer gewichtiger wurde meine Stimme im Rate der Krieger und weisen Männer.

Drei Jahre waren mir auf diese Weise unter den Mandanen in ungetrübter Ruhe hingegangen, und fünf Jahre, seit ich die Heimat verlassen hatte. Ich wohnte noch immer bei derselben Familie, als deren Mitglied man mich allgemein betrachtete, und in demselben Grade, in dem ich mich heimischer in meiner Umgebung fühlte, erbleichte auch die Erinnerung an diejenige, die einst kaltblütig mein Lebensglück zerstört hatte. Nur das Kind! Wie gern hätte ich dieses wiedergesehen, doch wie konnte ich mich ihm nähern, ohne mit der Mutter zusammenzutreffen, mit ihr, die mich für tot halten sollte? Trotzdem gewöhnte ich mich an den Gedanken, die Wildnis und die Mandanen nie wieder zu verlassen, und eine Folge dieses Entschlusses war, daß ich mich, zur größten Freude des ganzen Stammes, mit der Tochter meines Gastfreundes vereinigte und meinen eigenen Hausstand gründete.

Wiederum verstrichen mehrere Jahre. Ich war durch die Geburt einer Tochter, die ich nach mir und meiner fernen Johanna Jeannette taufte, beglückt worden, und die noch immer auf mir lastende Schwermut erhielt eine mildere Färbung durch die Hoffnung, dereinst der Lehrer meiner kleinen lieblichen Jeannette zu werden und sie, soviel in meinen Kräften lag, für ein besseres Los vorzubereiten und auf geeignetem Wege in andere, meinem eigenen Herkommen entsprechende Verhältnisse einzuführen.

So lieb ich meine indianischen Gefährten auch gewonnen hatte, widerstrebte es doch meinem Gefühl, mein Kind als eine Sklavin ihres dereinstigen Gatten aufwachsen zu lassen. Mein Haß gegen die Weißen, überhaupt gegen alles, was Zivilisation heißt, sollte in seinen Folgen nur auf mich beschränkt bleiben.

Aber Jeannette hatte noch nicht das zweite Jahr erreicht, als unser Dorf eines Nachts von den Blackfoot-Indianern überfallen und der größte Teil der Bevölkerung, dem es nicht gelang, zu entfliehen, auf grausame Weise niedergemacht wurde.

Ich kämpfte gegen die Übermacht mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln; ich kämpfte mit Erbitterung, denn ich kämpfte für Weib und Kind. Doch alles vergeblich. Ein furchtbarer Schlag mit einer kurzen Kriegskeule, von hinten gegen mein Haupt geführt, warf mich besinnungslos zu Boden, und was dann weiter mit mir vorging, liegt für mich im tiefsten Dunkel.

Als ich nach langer Zeit wieder zum Bewußtsein erwachte, da befand ich mich in dieser Hütte. Ich war gekleidet wie heute, so daß ich mich nicht wiedererkannte und die Beute eines wirren Traums zu sein glaubte. Einige alte Krieger richteten Fragen der seltsamsten Art an mich, die ich, ohne ihren Sinn in Erwägung zu ziehen, so beantwortete, wie es mir gerade einfiel, wodurch sie aber aufs höchste zufriedengestellt zu sein schienen und ich für einen weisen Medizinmann erklärt wurde.

Wie lange dieser gräßliche Zustand gedauert hatte, vermag ich nicht anzugeben; doch schwebt mir vor, daß ich damals über die Hagerkeit meiner Arme heftig erschrak. Nur Jahre konnten eine derartige zerstörende Wirkung auf meinen sonst so kraftvollen Körper ausgeübt haben.

Befremdet schaute ich umher, überall trafen meine Blicke auf mir vollständig unbekannte Gesichter, die mir mit dem gespanntesten Ausdruck zugewandt waren. Starr vor Staunen sah ich auf meine Hände; sie waren schwarz angestrichen; mit demselben Erstaunen bemerkte ich, daß meine Mokasins abgetragen waren, ein neuer Beweis, daß ich schon seit geraumer Zeit in diesem schlafähnlichen Zustande umhergewandelt war.

Da hörte ich das laute Weinen eines Kindes, das mich mehr noch zum Bewußtsein zurückrief, und mit Heftigkeit emporspringend, fragte ich drohend nach Weib und Kind.

Die alten Krieger berieten eine Weile untereinander, worauf sie den getrockneten Skalp eines Kinds und den einer Frau vor mich hinlegten. Sie sagten, es seien die letzten Überreste meiner Familie, und dann – und dann – ich betastete die seidenweichen Haare der kleineren Kopfhaut, worauf ich wieder lautlos einschlief. Nein – nein – eingeschlafen bin ich nicht!« unterbrach Werker sich hier mit einem wilden Ausdruck, der mich für die längere Dauer seiner Ruhe besorgt machte; »aber mein Herz wurde mir kalt, so kalt wie Eis,« fuhr er mit bebenden Lippen fort, »und ich verlor die Erinnerung an die Vergangenheit!«

»Lassen Sie die geschehenen Dinge ruhen,« tröstete ich jetzt freundlich, »Sie sind ja nur getäuscht worden, Ihre Tochter lebt, allein sie wird einem traurigen Geschick anheimfallen, wenn Sie sich in so hohem Grade aufregen, daß Sie unfähig werden, ihr beizustehen und sie zu retten.«

Werker strich sich über die Stirne, über die der Schweiß zusammen mit der öligen Farbe niederrieselte. »Ja, mein Sohn, du hast recht,« sagte er dann flüsternd, »ich darf mich nicht aufregen, sonst schlafe ich wieder ein – nein – verfalle ich wieder in meinen Wahnsinn. Ja, Wahnsinn muß es gewesen sein, was mich damals beim Anblick der gräßlichen Trophäen ergriff, denn ich verlor wohl die Erinnerung an die Vergangenheit, allein ich wußte doch, daß ich lebte und mich mit der Gegenwart beschäftigte.

Es bildete sich in mir die Idee, daß ich, indem man mich äußerlich umgewandelt hatte, überhaupt eine ganz andere Person geworden war und mithin das nicht erlebt habe, was in lichten Augenblicken wie ein unermeßlich hoher Berg auf meiner Brust lastete. Der Wunsch, ein vollblütiger Blackfoot zu werden, erwachte in mir, und alles, was ich dachte und was ich trieb, lief darauf hinaus, den Erwartungen, die man von mir als dem weisesten aller Medizinmänner hegte, zu entsprechen.

Und das gelang mir; es wurde hinfort nichts mehr unternommen, ohne daß ich durch ein Zeichen, denn das Sprechen wollte ich mir ganz abgewöhnen, meine Zustimmung gegeben hätte, und niemand starb mehr im Dorf, ohne daß ich an seinem Lager die indianische Trommel rührte. Hahaha! Werker! Du warst der lustigste Offizier beim Regiment, du hast es endlich –«

»Halten Sie ein, um Gottes willen, halten Sie ein!« unterbrach ich flehend den schwergeprüften Mann, »fürchten Sie für Schanhatta und sammeln Sie Ihre Gedanken!«

»Nicht Schanhatta, sondern Jeanette heißt meine einzige Tochter,« entgegnete Werker erschreckt zusammenfahrend, »sie befindet sich nur wenige Schritte von hier, und ich will sie retten. Ich soll meine Gedanken ordnen, es ist wahr, ein Fehler von meiner Seite und ihr seid beide verloren. Du hast recht, mein Sohn, erinnere mich nur zur rechten Zeit, wenn der böse Geist über mich kommt – aber nun will ich weiter erzählen – die Last muß von meiner Brust herunter.

Lange, lange Jahre bin ich nun schon der erste Zauberer der Blackfeet gewesen und als solcher von ihnen mit der größten Achtung, auch mit einer gewissen Scheu behandelt worden. Wie viele Jahre, das mag Gott wissen, aber niemals sah ich in den Prärien den Schnee mit blumenreichem Rasen abwechseln.

Meine Rolle als Zauberer und ein mit übernatürlicher Macht ausgerüstetes Wesen habe ich gewissenhaft durchgeführt. Es war keine schwere Aufgabe. Den Pferdedieben riet ich zu Raub, den blutgierigen und rachedürstigen Kriegern, ihren unbezähmbaren Leidenschaften freien Lauf zu lassen, mit den Gefangenen, da ich sie doch nicht befreien konnte, nach Willkür zu verfahren. Ich war nahe daran, die mir selbst gestellte Aufgabe zu lösen, nämlich in den immer seltener wiederkehrenden Minuten, in denen ich, durch das Weinen von Kindern dazu veranlaßt, meiner Töchter gedacht, meine Erlebnisse für die eines andern zu halten.

Da traf Blackbird mit dir und Jeannette hier ein. Letztere und deine Papiere hatten Veranlassung zu Streitigkeiten unter den Kriegern gegeben. Die einen wollten ihre Ansprüche auf das Mädchen nicht aufgeben, die andern wünschten das sprechende Zauberpapier zu besitzen, und Blackbird wieder gedachte, beides für sich zu behalten. Der Streit hatte einen so ernsten Charakter angenommen, daß man ihn für wichtig genug hielt, deshalb die Ältesten des Dorfes zu einer Beratung zusammenzurufen.

Wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten wurde ich aufgefordert, mich an der Beratung zu beteiligen.

Man zeigte mir das Mädchen, das ich kaum eines Blickes würdigte, und man zeigte mir das Manuskript. Ich hatte beschlossen, Jeannette Blackbird zuzusprechen und die übrigen Krieger um das Manuskript losen zu lassen, als ich zum Glück noch rechtzeitig in letzterem zu blättern begann. Ich las bekannte Namen, ich las sogar meinen eigenen Namen und die meiner Töchter, und wie sonst das klägliche Weinen kleiner Kinder meine trüben Gedanken in eine andere Richtung zu lenken pflegte, so wurde ich beim Überfliegen der ersten Zeilen in ähnlicher, indessen weit erschütternderer Weise ergriffen. Je mehr ich las, um so klarer wurden meine Gedanken, um so lebhafter trat meine Vergangenheit mir vor die Seele.

Von diesem Augenblick an regten sich in mir wieder die Gefühle des weißen Mannes; ich erfaßte zugleich die Notwendigkeit, die Indianer zu täuschen. Dadurch wollte ich Zeit gewinnen, die Schrift durchzulesen und zu entdecken, inwieweit die beiden Gefangenen mit dem Inhalt der beschriebenen Blätter in Verbindung zu bringen seien.

Da ich sonst stets schweigsam war, so erregte es in der Versammlung kein geringes Erstaunen, als ich nach flüchtigem Durchblättern der Schrift zu reden anhob und erklärte, daß das sprechende Papier eine außerordentliche Zauberkraft enthalte. Da meine Zuhörer keinen Zweifel in meine Worte setzten, gelang es mir leicht, sie zu überzeugen, daß ich, eh' über das Geschick der Gefangenen entschieden werden dürfe, die gefährliche Zauberkraft genau kennen lernen müsse.

Bei einer zweiten Zusammenkunft in der Hütte bekräftigte ich nur, was ich bereits angeraten hatte. Ich machte alle aufmerksam auf den Umfang des sprechenden Papiers und drang darauf, mich die Nacht über allein zu lassen, damit ich ungestört lesen könne. Ich vertröstete sie zugleich auf den innerhalb zweier Tage bevorstehenden Mondwechsel, vor welchem Zeitpunkt überhaupt an keinem Gefangenen das über ihn verhängte Urteil vollzogen werden dürfe, solle daraus dem Stamme kein Unglück erwachsen.

Man sah das Verständige meiner Ratschläge ein und entfernte sich; die Türöffnung wurde indessen auf meinen ausdrücklichen Wunsch auch noch von außen fest verrammelt. Ich wünschte vor meiner Zusammenkunft mit Ihnen und meiner Tochter noch mehr von dem Inhalte des Manuskriptes zu erfahren und später in meiner Unterhaltung mit Ihnen nicht unterbrochen zu werden. – Sie sehen, Herr Wandel, ich bin jetzt ruhig; die furchtbare Gemütsbewegung, welcher ich seit den letzten zwölf Stunden unterworfen gewesen, hat mich nicht getötet oder aufs neue meine Gedanken verwirrt. Im Gegenteil, mir ist, als ob meine Verstandeskräfte, seit mein Geist unausgesetzt nach der einen Richtung hin arbeitet, sich verschärft hätten. Meine Rolle als Medizinmann werde ich ebenso gut und täuschend durchführen wie zur Zeit, da mir dieselbe zur andern Natur geworden war, und immer möglicher erscheint es mir, daß es uns gelingt, zu entfliehen.«

Werker schauderte wie vor Kälte, und dann richtete er sich mit einer entschiedenen Bewegung empor. »Nun aber merke auf meine Worte, und handle, wie ich es dir vorschreiben werde, dein Leben und das Leben meiner unschuldigen Jeannette hängen von der pünktlichen Befolgung meiner Ratschläge ab.

»Morgen, oder vielmehr schon heute, denn die Morgendämmerung ist nicht mehr fern, werde ich den ganzen Tag abwesend sein. Dein Leben wird man während dieser Zeit nicht anzutasten wagen, noch weniger Jeannette irgendwelchen Zwang antun, aber es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß man dir unter gewissen Bedingungen die Freiheit verspricht. So seltsam und widersinnig diese etwaigen Vorschläge klingen mögen, weise sie nicht unbedingt zurück, aber nimm sie auch nicht unbedingt an; letzteres könnte Argwohn erwecken. Berufe dich auf mein Urteil, ohne indessen Teilnahme für mich zu verraten, und gib vor, daß du so handeln wolltest, wie ich es aus dem sprechenden Papier herauslesen würde. Das weitere überlasse mir; aber noch einmal, mein lieber Freund und Sohn versprich mir bei deiner Ehre, meinen Anordnungen, welcher Art sie auch sein mögen, blindlings Folge zu leisten, mich nach nichts zu fragen, und nicht anders zu sprechen, als wenn ich dich frage.«

»Ich verspreche alles,« entgegnete ich in überzeugender Weise, mit einer gewissen Ehrfurcht in die wohlwollenden trüben Augen blickend, »mag kommen, was da will, ich bin auf alles, selbst auf das Schlimmste gefaßt, und nehme daher mit um so dankbarerem Herzen jede freundliche Wendung meines Geschicks entgegen.«

»Gut, mein lieber Sohn,« versetzte Werker zufrieden, »ich scheide von dir, um dir Rettung zu bringen. Sei geduldig und bewege dich, soviel du kannst, deine Gelenke müssen geschmeidig bleiben; und nun lebe wohl, ich muß mich beeilen, denn bevor ich meine Rolle wieder übernehme, möchte ich gern noch einen Blick auf das Antlitz meiner Tochter werfen.«

Bei diesen Worten entfernte er das kleine Feuer aus meiner Höhle, und nachdem er dessen Spuren, so gut es eben gehen wollte, verwischt hatte, schloß er die Türöffnung wieder mit den bereitliegenden Holzstücken und Steinen.

 


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