Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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14

Die Entdeckungen

Die Gipfel der Berge erglänzten bereits im Gold der aufgehenden Sonne, während der Boden der Schlucht, durch die mein Weg führte, noch im tiefen Schatten lag, als ich die Geröllanhäufung erreichte, die mir die Lage von Antons Schloß bezeichnete.

Wehmütig blickte ich um mich. Alles schien mir entgegenzulächeln, aber es war ein Lächeln, wie es das Antlitz eines Sterbenden schmückt, ein Lächeln, zu heilig, als daß der erstarrende Tod es zu verdrängen wagte. Auch ich versuchte zu lächeln, allein es gelang mir nicht – kaum zweitausend Schritt von mir entfernt lag die Oberförsterei und hart neben mir Antons Schloß – o, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, zwischen diesen beiden Punkten zu wählen! – »Aber ich darf ja nicht,« seufzte ich vor mich hin, und langsam kletterte ich die Geröllanhäufung hinauf.

Mittelst der Kleidungsstücke und namentlich einer wollenen Decke, die mein Ränzel enthielt, gelang es mir leicht, auf dem duftigen Heidekraut ein erträgliches Lager herzustellen, auf das ich mich, oben angekommen, warf.

Ich versuchte über meine Lage nachzudenken, versuchte mir tröstliche Bilder von Johanna zu entwerfen, aber die Erschöpfung schloß mir bald die Augen und ich schlief so fest, als wenn ich von einer Betäubung heimgesucht gewesen wäre.

Fünf oder sechs Stunden hatte ich wohl in diesem für mich so glücklichen Zustande der Bewußtlosigkeit zugebracht, als eine warme Hand sich mit leichtem Druck auf meine Stirn legte.

Erschreckt fuhr ich empor; das mich umgebende Halbdunkel befremdete mich, und längere Zeit dauerte es, bis ich mich erinnerte, wo ich mich befand.

Anton saß neben meinem Lager auf einem Bündel Heidekraut, und vor ihm standen und lagen auf der Erde die Lebensmittel, die der brave Mensch für mich zusammengeschleppt hatte.

»Schon da, alter Freund?« fragte ich, mich aufrichtend und ihm zum Gruß die Hand reichend.

»Schon lange, länger als eine Stunde, der junge Herr schlief so schön; es geht nichts über den Schlaf; wenn ich schlafe, weiß ich nicht, daß ich ein armer, verachteter Krüppel bin.«

»Du hast recht, Anton, im Schlaf vergißt man Kummer und Trauer. Dennoch hättest du mich wecken sollen, indem du weißt, wie ungeduldig ich auf Nachricht von der Oberförsterei harre. Aber Johanna, Anton, sage mir vor allen Dingen, wie geht es Fräulein Johanna, du weißt, die junge Dame auf der Oberförsterei?«

»Ich weiß, junger Herr, das arme, arme Fräulein ist krank, sehr krank, und die Leute sagen –«

»Was sagen die Leute?« rief ich aus, indem ich, erfüllt von namenlosem Entsetzen, Anton heftig am Arm ergriff.

»Lieber junger Herr,« antwortete der Krüppel, mit dem Ärmel seiner Jacke über, seine Augen hinfahrend, »die Leute sagen, das arme liebe Fräulein muß sterben.«

»Sterben?« fragte ich wieder, denn in meiner Todesangst klammerte ich mich verzweiflungsvoll an die Hoffnung an, falsch gehört zu haben; »hast du sie gesehen? Wie ist es möglich, daß du zu Johanna gelangst, wenn sie auf dem Sterbebett liegt!?«

»Das Fräulein liegt nicht, es sitzt, und zu ihm gelange ich auch nicht; aber des Abends schleiche ich oft durch den Garten an des Fräuleins Fenster und schaue in das Gemach hinein. Ich sehe dann, wie sie auf einem großen Stuhl dasitzt und betet, ich sehe, wie ein schwarzgekleideter Mann, ein Kaplan, mit ihr betet. Der Kaplan ist ein frommer Mann, er will auch meinen Bruder bekehren, denn ich habe beide mehrfach gesehen, wenn sie im Walde spazierengingen und viel miteinander sprachen. Aber es wird ihm nicht helfen, der Andres ist noch nicht besser geworden, er flucht und schlägt mich jetzt noch mehr, als er früher getan hat.«

»Ein Kaplan bei Johanna?« stieß ich von den schwärzesten Befürchtungen ergriffen, mit schmerzlichem Erstaunen aus.

»Ein Kaplan mit langen Strümpfen und schwarzem Rock,« bekräftigte Anton, »auch sah ich, daß er mitten auf dem Kopf seine Haare abgeschnitten hat.«

»Aber um Gotteswillen, Anton, was sagt denn der Oberstleutnant dazu?«

»Der Herr Oberstleutnant sagt nichts, denn er kommt oft nicht zu dem Fräulein, und wenn er kommt, ist der Kaplan nicht da. Dann küßt er das Fräulein, und das Fräulein sagt, er solle auf dem Wege der Sünde umkehren und er wendet sich ab und geht wieder hinaus.«

»Und was sagt die Frau Oberstleutnant!?«

»Ach, die alte, freundliche Frau betet immer mit und liest dem armen Fräulein schöne Litaneien vor, und das Fräulein spricht diese nach.«

Verzweiflungsvoll warf ich mich auf mein Lager zurück, in meinem Kopfe wirbelte alles wild durcheinander, wie damals im Gefängnis, als ich von der schrecklichen Krankheit heimgesucht wurde. Gefoltert von namenloser Seelenqual wand ich mich stöhnend auf meinem Lager, daß selbst Anton dadurch von Angst und Schrecken ergriffen wurde.

»Mein lieber, junger Herr Student!« rief er ächzend vor innerer Bewegung aus, indem er meine Hand küßte und mit Tränen benetzte, »seien Sie doch gut mit dem armen Anton; ich habe Sie ja nicht kränken wollen! Nur die Wahrheit habe ich gesprochen; hören Sie auf mich, schlagen Sie mich, aber sterben Sie nicht. O heilige Mutter Gottes, was soll ich anfangen, wenn mein einziger Wohltäter stirbt!« und seine verstümmelte Hand auf meine Brust legend, strich er mit der gesunden schmeichelnd meine Wangen.

»Armer, lieber Anton,« sagte ich endlich, nachdem ich mich einigermaßen gefaßt hatte, »ich muß Johanna sehen, und sollte es mich das Leben kosten; und an dir ist es, mir beizustehen. Antworte mir, Anton, glaubst du wohl, daß es dir möglich sein wird, mich unbemerkt an das Fenster zu führen, durch das du alles beobachtet hast?«

»Gewiß, lieber junger Herr, nicht bei Tage,« antwortete Anton, sich blitzschnell emporrichtend und mir gespannt in die Augen schauend. »Aber am Abend werde ich den jungen Herrn an das Fenster führen, daß er das liebe Fräulein sieht und vielleicht auch den Herrn Kaplan und den Herrn Oberstleutnant.« –

Der Abend rückte heran; aber erst als es vollständig Nacht geworden war, brachen wir auf.

Wir folgten demselben Pfade, auf dem Anton mich zum ersten Male, unmittelbar nachdem ich nähere Bekanntschaft mit ihm geschlossen, geführt hatte, doch brauchten wir die Vorsicht, daß nur Anton in dem Pfade selbst blieb, während ich etwas seitwärts in der lichten Waldung gleichen Schritt mit ihm hielt.

Wir waren in geringer Entfernung an seiner Hütte vorbeigekommen und schnell, wenn auch mit behutsamen Bewegungen, näherten wir uns der Landstraße, als Anton plötzlich stehenblieb und mich durch ein Zeichen zu sich heranrief.

»Jemand geht vor uns,« sagte er ängstlich flüsternd, »ich höre langsame Schritte.«

Ich strengte mich aufs äußerste an, irgend etwas zu unterscheiden, aber vergeblich. Nur das Geräusch vernahm ich, mit dem die Waldmäuse in dem dürren Laub umhersprangen.

»Anton, du hast dich wohl getäuscht,« unterbrach ich endlich wieder die Stille.

»Nein, nein, lieber Herr Student, Anton hört noch schärfer als Jakob; es geht jemand vor uns, er ist gleich an der Landstraße, ich höre es, ja, ich höre es ganz gewiß.«

Plötzlich unterschied ich einen fernen dumpfen Fall, und dann war alles wieder still.

»Er ist über den Graben in die Straße gesprungen,« sagte Anton mit überzeugender Entschiedenheit. »Wir können ohne Gefahr weitergehen, aber ganz leise, lieber junger Herr, denn ist es mein Bruder, der dort geht, so ist es schlimm. Er hört ebenfalls sehr gut und hat scharfe Augen. Er stellt in der Nacht Schlingen, um Hasen und Kaninchen zu fangen.«

Lautlos, jetzt aber nicht mehr voneinander getrennt, setzten wir darauf unsern Weg fort.

Etwa hundert Schritte mochten wir zurückgelegt haben, als Anton mich wiederum durch seine vorgehaltene Hand zum Stillstehen veranlaßte und, seinen Mund meinem Ohr nähernd, mit vor Angst bebender Stimme flüsterte: »Wir sind verloren, er kommt zurück, der wilde Andres, ich höre ihn husten.«

»Verbergen wir uns, Anton, und lassen wir ihn vorbeigehen,« sagte ich beruhigend zu dem armen Menschen, der über die Entdeckung den Kopf vollständig verloren hatte.

Indem ich noch sprach, glitt ich behutsam in den Graben hinein, der seitwärts der Landstraße sich hinzog. Erst als Anton erriet, was ich bezweckte, fand er seine Fassung wieder, und es bedurfte keines weiteren Zuredens mehr, sich, gleich mir, auf dem Boden des Grabens lang auszustrecken. Dieser war ungefähr drei Fuß tief, wohl ebenso breit und angelegt worden, um eine Grenze zwischen Straße und Forst, zum Schutz des letzteren gegen den Andrang vorbeigetriebener Viehherden zu ziehen. Wir lagen daher nicht nur trocken, sondern die auf den Ufern üppig wuchernden harten Gräser verbargen uns auch dergestalt, daß sogar am hellen Mittage wer weiß wieviel Leute hätten vorübergehen können, ohne uns zu entdecken. Bei der tiefen Dunkelheit, die durch die überhängenden Bäume noch verdichtet wurde, durften wir uns mithin als doppelt gesichert betrachten.

Nicht lange hatten wir uns in dem Graben befunden, als ich das Geräusch der Schritte eines sich langsam nähernden Mannes vernahm. Bald darauf trat auch die gefürchtete Gestalt vor meine ängstlich spähenden Blicke. Gleichzeitig hörte ich noch andere Schritte.

Andres, der wohl noch dreißig Schritte weit entfernt war, hustete jetzt leise und der Wanderer, der auf der andern Seite von uns bis auf fast ebenso weit herangekommen war, antwortete in ähnlicher Weise. In der nächsten Minute bot Andres ihm gerade vor uns einen höflichen »Guten Abend«.

»Der Segen der heiligen Jungfrau sei mit Euch, mein Freund,« antwortete eine Stimme, die mir das Blut in den Adern zu Eis erstarrte, denn an seiner Redeweise und seinem Organ hatte ich Bernhard erkannt.

»Ich glaubte schon, der Herr Kaplan hätten mein Zeichen nicht bemerkt,« versetzte Andres in vertraulichem Tone.

»Ist es Wichtiges, was Ihr zu melden habt, guter Freund?« bemerkte Bernhard, den in Andres Worten enthaltenen Vorwurf nicht beachtend.

»Wichtig genug, Herr Kaplan! Er ist wieder los!«

»Wer ist los, mein guter Freund?«

»Nun, wer anders als der Student Wandel, der abgesetzte Bräutigam vom Fräulein auf der Oberförsterei.«

»O, darum hättet Ihr Euch nicht hierher zu bemühen brauchen, mein lieber Freund, das wußte ich bereits vor vierzehn Tagen aus den Zeitungen.«

Was die beiden weiter sprachen, ging mir verloren, denn bei dem letzten Teil ihrer Unterhaltung hatten sie sich bereits wieder auf die Oberförsterei zu in Bewegung gesetzt, und nur noch als undeutliches Murmeln drangen ihre Stimmen zu mir herüber. Ich hatte indessen genug gehört; meine Sinne schienen mich verlassen zu wollen, und erfüllt von grenzenloser Wut und Furcht für Johanna, preßte ich mein Antlitz in den Rasen.

»Mein Gott, mein Gott, ist es denn möglich, kannst du zugeben, daß unter dem Mantel des Allerheiligsten die gräßlichsten Schandtaten ausgeübt werden?« stöhnte ich verzweiflungsvoll. Da brachte Anton mich wieder zur Besinnung, indem er mir zuraunte, daß sie umgekehrt seien und zurückkämen.

Gleich danach verstand ich deutlich:

»Die Nachbarschaft der Oberförsterei muß am schärfsten bewacht werden, mein guter Freund, denn es steht zu erwarten, daß er alles aufbieten wird, eine Zusammenkunft mit dem Herrn Oberstleutnant zu erlangen.«

Was weiter folgte, erstarb wieder in einem undeutlichen Gemurmel. Ich verhielt mich ruhig, bis ich die beiden Verbündeten weiter unterhalb über den Graben springen hörte, und dann Anton ein Zeichen gebend, forderte ich ihn auf, mir nach der Oberförsterei hin voranzugehen.

Wir wechselten kein Wort mehr miteinander; ich bewegte mich wie ein Schlaftrunkener dahin, jeder Gedanke an eine Gefahr für mich war verschwunden; ich hegte nur noch den einen heißen Wunsch, die einzige Hoffnung, Johanna zu sprechen und zu warnen, und hätte ich dafür in der nächsten Stunde in den Kerker zurückgeschleppt werden sollen.

Kurz vor der Oberförsterei bogen wir von der Straße ab und auf einem Umweg gelangten wir in den Garten.

Meine Blicke waren auf das Haus gerichtet; ich betrachtete das erleuchtete Fenster, hinter dem ich meinen alten, würdigen Vormund wußte, und das Herz klopfte mir, als ob es hätte zerspringen wollen. Als aber endlich die Rückseite des Hauses vor mir lag und Anton, auf zwei matt erhellte Fenster deutend, mir leise sagte, daß dort Johanna sich aufhalte, warf ich mich auf den feuchten Boden nieder, um nach Fassung zu ringen.

Leise schlichen wir an das nächste Fenster heran. Eine Lampe brannte matt im Innern; nach kurzem Zögern faßte ich mir ein Herz, und mich auf die Brüstung lehnend, blickte ich durch die Vorhänge in das Gemach hinein. Anfangs sah ich nur den Lichtschimmer; denn alles Übrige erschien durch die Gardinen wie mit einem Nebel überzogen; doch je länger ich hinüberschaute, um so deutlicher traten die Formen der einzelnen Gegenstände hervor, bis endlich alles erkennbar vor mir lag.

Die Gattin meines Vormundes bemerkte ich zuerst; sie saß auf einem niedrigen Stuhl vor einem Tischchen, auf dem eine grün verhangene Lampe brannte. In ihren Händen hielt sie ein Buch, in dem sie eifrig las. Meine Augen rasteten indessen nicht lange auf ihr, unruhig forschte ich weiter, und mit den Blicken der Richtung folgend, in der die alte Dame von Zeit zu Zeit ihr etwas gesenktes Haupt emporhob, entdeckte ich endlich Johanna.

Der Atem stockte mir; ich fühlte, daß Träne auf Träne meinen Augen entrollte.

»Ist das Johanna oder ist es ein Gebilde aus Alabaster?« fragte ich mich, indem meine Blicke wie gebannt auf der noch immer lieblichen Erscheinung hafteten. »Ist das meine Johanna? Meine treue, jugendfrische Johanna, die vor zwölf Monaten ihr liebes Antlitz holdselig errötend an meiner Brust verbarg und mit beseligendem Ausdruck mir ihre Gegenliebe gestand?«

Nein, das war nicht die Johanna von früher, und dennoch, dennoch war sie es, aber verändert, entsetzlich verändert.

In einem Stuhl mit hoher Lehne saß sie da; ein weißes Nachtkleid verhüllte ihren Oberkörper, während eine Decke über ihren Schoß ausgebreitet war. Das Haupt hatte sie zurückgelehnt, die Augen geschlossen, als ob sie schlummere. Keine Muskel des bleichen Antlitzes regte sich, und scharf hoben sich die schwarzen Wimpern und Brauen von der weißen Haut ab. Die dunklen, seidenen Locken fielen in Wellenlinien zu beiden Seiten von den Schläfen und den eingefallenen Wangen über ihre Brust hernieder, und ihre um ein kleines Kruzifix gefalteten Hände ruhten nachlässig in ihrem Schoß. So saß sie regungslos da und ebenso regungslos starrte ich auf sie hin. Die leichten Tüllvorhänge hinderten mich nicht mehr, ich sah sie so deutlich, als ob ich vor ihr auf den Knien gelegen hätte, und unbewußt, wie um sie nicht zu wecken, hielt ich den Atem an.

Plötzlich hustete sie leise, die Oberförsterin blickte erschreckt zu ihr empor.

»Johanna, mein Kind, wachst du?« fragte sie mit halblauter Stimme.

Ein süßes Lächeln flog über die marmorbleichen Züge der Angeredeten, dann schlug sie als Antwort die Augen auf, schloß sie aber gleich wieder.

»Ich habe geträumt, meine liebe Tante,« sagte sie dann mit matter, aber noch immer melodischer Stimme, »ich sah meine Mutter und meinen Vater, meinen Vater, den ich im Leben nicht kennengelernt habe. Sie winkten mich zu sich und sagten, daß Gott ihnen um meinetwillen vergeben habe. Der Geist meiner Mutter hat seine Gebeine aus den Fluten des Rheins hervorgeholt, und ich habe beide von der ewigen Verdammnis gerettet.«

»Das hast du, mein liebes, teures Kind, und Gott wird es dir lohnen,« versetzte die Oberförsterin tief bewegt.

»Ach, wenn mein guter Onkel doch ebenfalls zur Erkenntnis kommen und auf dem Pfade der Sünde umkehren wollte; wie glücklich wollte ich sein, mit all' meinen Lieben dort oben zusammenzutreffen!«

»Bete für ihn, mein Kind, bete für ihn inbrünstig, wie ich schon seit vielen Jahren getan, und glaube; Gott wird mit seiner Seele Erbarmen haben und, seiner übrigen trefflichen Eigenschaften wegen, ihm seine religiöse Verirrung nicht so hoch anrechnen.«

Johannas Lippen bewegten sich, offenbar im Gebet, worauf sie das Kruzifix emporhob und es andächtig küßte.

»Heilige Maria, du schmerzensreiche Mutter des am Kreuze Gestorbenen, stehe mir bei!« sagte sie dann laut und klar, jedoch ersichtlich mit großer Anstrengung, »stehe mir bei in meinem Bestreben, die sündhaften Gedanken an das Irdische zu verscheuchen! Heilige Jungfrau, sein Bild, so treu, so schön, so verführerisch, tritt mir immer wieder vor die Seele. Erbarme dich meiner; ich sehe ihn mit schweren Fesseln an den Händen, seine Augen wehmütig auf mich gerichtet! Heilige Jungfrau, Königin der heiligen Heerscharen, erweiche seinen Sinn, sein Herz! Lenke ihn in seinen Handlungen, daß er in sich gehe und sich bekehre und mir die Hoffnung bleibt, ihn wenigstens im Himmel wiederzusehen – der Gedanke an meine Vereinigung mit ihm war ja so süß – so – so beseligend –«

Ein heftiger Hustenanfall erstickte ihre Stimme. Die Oberförsterin stand auf und ordnete sorgfältig die Kissen, die der armen Kranken hinter die Schultern geschoben worden waren; ich aber rang die Hände verzweiflungsvoll, und wenn ich jemals in meinem Leben aus tiefstem Herzensgrunde gebetet habe, dann geschah es in jenem Augenblick.

Der Husten hatte nachgelassen, Johanna war erschöpft zurückgesunken. Meine Augen waren jetzt trocken, aber sie brannten mir im Kopfe, und der Schweiß rieselte mir von der Stirn; ich achtete weder auf Anton, der mich geängstigt und entsetzt anstarrte, noch auf meines Vormundes Lieblingshund, der mir nachgeschlichen war und sich zutraulich zu meinen Füßen niederkauerte. Meine Blicke hafteten fest an dem lieben Engelsbilde, an den geschlossenen Augen, an den eingefallenen Wangen, die die tödliche Krankheit mit einem flüchtigen, dunkeln Purpur unheimlich geschmückt hatte.

Ihre Lippen öffneten sich wieder, und noch dichter brachte ich meine heiße Stirn an die Fensterscheiben, um mir keinen Laut ihrer trauten Stimme entschlüpfen zu lassen.

»Die Tochter ihres Vaters – o, wie sündhaft, an irdische Weissagungen zu glauben – er wird in sich gehen und sein Spiel nicht mehr mit der Vorsehung treiben. Ich war nicht dazu bestimmt, ihn glücklich zu machen, sondern die Sünden meiner Eltern zu sühnen. Welch beseligendes Gefühl: für andere leiden zu dürfen! Ach, wäre es mir doch vergönnt, auch seine Schuld auf mich zu nehmen und abzubüßen! Tante, liebe teure Tante, was kann ich für ihn tun, um ihn auf den Weg des Seelenheils zurückzuführen?«

»Bete für ihn, mein Kind; vertraue auf die Gnade Gottes und die Fürsprache der Heiligen und bete für ihn und für dich. Aber mein Kind, schütte im stillen dein Herz vor dem Allmächtigen aus und sprich nicht so viel und so laut. Du hast auch Pflichten gegen dich zu erfüllen.«

Ein mehrere Minuten langes Schweigen folgte jetzt.

»Wieviel Uhr ist es?« fragte Johanna, ihre Augen aufschlagend.

»Halb zehn, meine Tochter.«

»Um zehn Uhr wollte er mit dem ehrwürdigen Vater Sebastian eintreffen, um mich von ihm segnen zu lassen.«

»Er wird kommen, baue fest darauf, meine Tochter, denn er sehnt sich nicht minder danach, dir geistlichen Trost zu gewähren, wie du, ihn entgegenzunehmen. Seine frommen, erhebenden Worte werden dich trösten, und Gott wird dir einen kräftigenden Schlummer senden.«

Nach diesen Worten schaute die Oberförsterin mit einer kurzen Bewegung nach der Tür hinüber. Es mußte geklopft haben, und in das Gemach trat mit vorsichtigen Schritten der alte Oberstleutnant.

Ein Lächeln des Willkommens belebte Johannas bleiche Züge, während die Oberförsterin ihrem Gatten die Hand reichte und traurig auf ihren geliebten Schützling deutete.

Ja, es war mein Vormund selbst; er zeigte noch immer die aufrechte, straffe Haltung von früher, allein in seinem Gesicht war eine große Veränderung vor sich gegangen. Der freundliche, joviale Ausdruck, der den alten Krieger so wohl kleidete, war verschwunden und an dessen Stelle ein so tiefer, schwerer Ernst getreten, daß sogar ein unbeteiligter Beobachter nicht auf ihn hätte hinsehen können, ohne die innigste Teilnahme zu empfinden.

Er trat dicht neben Johanna hin, und seine Hand behutsam auf ihr Haupt legend, fragte er scheinbar ruhig, wie sie sich befinde.

»Viel, viel besser, lieber Onkel,« lautete die mit rührendem Ausdruck gegebene Antwort, »indem meine Seele sich mehr zu Gott hinneigt, schwinden meine körperlichen Schmerzen; du glaubst nicht, lieber Onkel, welche treue Stütze die katholische Religion gewährt; legt sie es doch in die Hand der Menschen, nicht nur für ihr eigenes Seelenheil, sondern auch für das längst Verstorbener Sorge zu tragen. Denke nur an meine armen Eltern, wie glücklich für sie, daß ich ihre Sünden auf meine Schultern nehmen darf.«

Der Oberstleutnant warf einen leeren Blick durch das ganze Gemach, räusperte sich mehrere Male und zupfte an seiner Augenklappe, als wenn er sie hätte abreißen wollen, und dann legte er seine Hand wieder auf Johannas Haupt.

»Armes liebes Kind,« sagte er sanft, »laß die Verstorbenen, sie befinden sich bei unserm lieben Herrgott, und da sie ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, so ist es ihre eigene Schuld, wenn sie ihm keine guten Worte geben. Kümmere dich mehr um deine Krankheit, und nicht um der Pfaffen verd– ich wollte sagen, um die Religion im allgemeinen.«

Johanna schaute ernst zu ihrem Onkel empor, während ihn ein Blick milden Vorwurfs aus den Augen seiner Gattin streifte.

»Onkel, zürnst du mir?« fragte Johanna endlich nach minutenlangem Schweigen.

»Wie könnte ich dir zürnen, mein Kind? Ich zürne dir nicht, und kämest du auf den Gedanken, mich auch noch um mein letztes Auge zu bringen.«

»Ach, Onkel, wenn du mich so sehr liebst, dann wirst du auch auf meine Worte hören, auf meine Worte, die vielleicht die letzten Wünsche einer Sterbenden enthalten. Onkel, du bist in deinem Leben vielleicht nie in der Lage gewesen, über die Zukunft nachdenken zu müssen, so wie ich jetzt; höre daher meine warnende Stimme, kehre um auf dem sündigen Wege, auf dem du wandelst, geh' in dich, bedenke, du stehst am Abend deiner Tage; aber noch ist es Zeit, und die Freude über einen reuigen Sünder wird im Himmel größer sein, als die über hundert Selige –«

»Sprich nicht soviel, mein Kind, ich bitte dich darum,« unterbrach sie der Oberstleutnant, vor verhaltenem Grimm und vor Trauer seinen weißen Schnurrbart rücksichtslos zerzausend, »es schadet dir. Damit du aber ungestörter bist, werde ich jetzt gehen. Gute Nacht, Schätzchen, sieh mich nur nicht so trübe an, ich will mir ja deine Worte überlegen, aber nun sei auch zufrieden.« Und ohne eine Erwiderung abzuwarten, küßte er sie auf die Stirn, und sich dann kurz umwendend, entfernte er sich mit festem Schritt.

Die letzte Szene schien wieder besonders erschöpfend auf Johanna eingewirkt zu haben, denn sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, wie zum Schlaf.

Da knurrte der Hund, und um das Haus herumeilend, stürmte er gemeinschaftlich mit den andern Hunden bellend und lärmend dem Hoftor zu.

»Jemand kommt,« bemerkte Anton ängstlich.

»Es werden die beiden Priester sein,« entgegnete ich, mich tiefer in den Schatten der entlaubten Apfelbäume zurückziehend, denn ich erinnerte mich, verstanden zu haben, daß Johanna deren Besuch noch erwartete.

»Sie gehen ins Haus,« flüsterte Anton weiter, »der Weg ist frei, kommen der junge Herr, wir wollen in mein Schloß zurückkehren.«

»Noch nicht, noch nicht,« erwiderte ich, sobald ich hörte, daß die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde, »ich muß die beiden Menschen erst sehen, die meine arme treue Johanna an den Rand des Grabes gebracht haben,« und so sprechend zog ich ihn nach dem Fenster hin, wo sich auch der Hund bereits wieder eingefunden hatte.

Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde, und leise, wie das Verbrechen unter dem Schutze der Nacht, schritt Bernhard, gefolgt von einem älteren, ebenfalls dem geistlichen Stande angehörenden Herrn, in das Gemach hinein.

»Gesegnet sei Euer Eingang und Euer Ausgang,« sagte die Oberförsterin, indem sie sich erhob und den beiden Herrn die Hand entgegenreichte.

»Friede sei mit Euch, nun und immerdar,« antwortete Bernhard, seine Augen mit den Lidern halb verschleiernd.

»Und mögen Gott und die heilige Jungfrau Maria Euch auf euren Wegen leiten, halten und beschirmen,« fügte der andere Priester hinzu, indem er zuerst gegen die Oberförsterin und demnächst gegen Johanna das Zeichen des Kreuzes schlug.

Die Oberförsterin verneigte sich fromm, Johanna dagegen blieb regungslos sitzen, aber aus ihren seltsam verzückten Blicken ging hervor, wie tief das Erscheinen der beiden Geistlichen sie ergriff, und wie schwer die Fesseln waren, in die diese ihr leicht empfängliches Gemüt zu schlagen verstanden hatten.

»Endlich,« sagte sie kaum verständlich, als Bernhard zu ihr herantrat und ihr die Hand reichte, »o, wie meine Seele nach Ihnen und Ihren göttlichen Offenbarungen gedürstet hat,« fuhr sie fort, seine Hand andächtig an ihre Lippen führend.

Bei diesem Anblick hätte ich vor Wut und unsäglichem Weh laut aufschreien, ihr zurufen mögen, sich nicht durch die Berührung des schwarzen Verbrechers zu beflecken.

Aber meine Besinnung kehrte bald zurück und zugleich durchströmte mich eine eisige Ruhe. Bis auf den letzten Tropfen hatte ich den Giftbecher geleert; es gab nichts, gar nichts mehr in der Welt, was mich noch tiefer zu erschüttern vermocht hätte. Jedoch alles, was ich dachte, hoffte und wünschte wurde zum Notschrei, zu einem Schrei der Rache und des Fluches, den ich aus tiefstem Herzensgrunde zum Himmel emporsandte.

»Teure, überglückliche Tochter, die Sie Gnade gefunden haben vor dem Erlöser, auf meinen Knien danke ich Gott und Ihrem Schutzheiligen, daß ich elender Sterblicher zum Werkzeug auserkoren worden bin, Ihren Geist zu erleuchten und Ihnen den dornenvollen, aber einzigen Pfad zur ewigen Seligkeit zu zeigen und zu ebnen,« sprach Bernhard nach kurzem Sinnen mit heuchlerisch bebender Stimme zu dem armen, ehrfurchtsvoll lauschenden Opfer. »Ja, meine Tochter, Sie, eine der beneidenswertesten Ihres Geschlechtes, Sie, dreifach beneidenswert, weil es Ihnen vergönnt wurde, die Sünden Ihrer Eltern zu sühnen, Sie sollen von einer höheren, würdigeren Hand, als die meinige ist, gesegnet werden. Ich bringe Ihnen jemand, den ich und alle meine Brüder mit Stolz unser edles Vorbild nennen.«

Nach dieser Rede, die darauf berechnet war, Johanna aufs äußerste aufzuregen, trat Bernhard einen Schritt zur Seite, und als jene schüchtern emporschaute, blickte sie in die salbungsvollen Züge des andern Geistlichen.

Ein unbefangenerer Beobachter als sie hätte nur das gelbe Antlitz mit den halbversteckten, glühenden Blicken und den herabhängenden Mundwinkeln zu schauen brauchen, um sogleich ein Mitglied jener scheinheiligen Gesellschaft zu erraten, für die zur Erreichung ihrer Zwecke kein Mittel zu frevelhaft ist.

Ich selbst betrachtete ihn mit Abscheu, und eine innere Stimme sagte mir, daß ich denselben Geistlichen vor mir sehe, der bereits vor Jahren seine gierigen Krallen nach dem noch hilflosen Kinde ausgestreckt hatte.

War der Versuch bei dem Kinde mißglückt, so war er bei der Jungfrau von umso besserem Erfolg begleitet gewesen; die Mittel, deren man sich dazu bedient hatte, kamen ja nicht weiter in Betracht, wenn man nur den Triumph feierte, das reuige, verirrte Schaf nach dem ihren Lehren entsprechenden Ritus beerdigen und dem Volke ein neues schlagendes Zeugnis von der Allmacht und der Allwissenheit der Kirche liefern zu können.

»Die heilige unbefleckte Jungfrau Maria stärke dich im Glauben; der heilige Johannes von Nepomuk, dein Schutzheiliger, sei dein Vertreter vor dem Richterstuhl des Herrn,« sagte der fremde Geistliche, seine Hand segnend auf Johannas Haupt legend; »durch meinen teuren Amtsbruder erfuhr ich, daß Sie, meine Tochter, auch noch aus einem andern Munde als dem seinigen geistlichen Trost und Rat zu empfangen und die Bedenken und Zweifel gelöst zu haben wünschten, die Sie aus Ihrem frühern Zustande religiöser Hilflosigkeit mit herübergebracht haben. Mit Freuden bin ich darum hierher geeilt, und einen himmlischen Genuß soll es mir gewähren, wenn Sie, meine teure und vielgeliebte Tochter, aus meinen Worten ein neues Scherflein Zuversicht auf die Barmherzigkeit Gottes schöpfen. Sprechen Sie daher, sprechen Sie offen und frei, wie es den reuigen Sündern vor den Sendboten und Dienern des Herrn geziemt.«

»O mein Vater, so gestatten Sie, daß ich einen neuen Beweis meines schwankenden Vertrauens ablege,« sagte Johanna mit fester Stimme, und die Anstrengung und geistige Spannung prägten sich in der flammenden Röte auf ihren Wangen aus.

»Ich kämpfe mit aller Kraft, meine heiligen Pflichten als Kind sowohl, wie auch als rechtgläubige Christin gewissenhaft zu erfüllen; ich bete Tag und Nacht, ich strebe redlich, alle irdischen Gedanken von mir zu bannen, und dennoch schwebt mir sein Bild, das Bild meines früheren Freundes beständig vor. O, mein Vater, ich weiß es, es ist der Versucher, der mir in lieblicher Gestalt naht; helfen Sie mir, helfen Sie mir ihn verscheuchen, oder ich sinke unter der Wucht der mir auferlegten Prüfung zusammen!«

Nachdem ein neuer Hustenanfall bei der Ärmsten sich gelegt hatte, zog der Priester einen Stuhl zu Johanna heran, und sich niedersetzend hob er in sanfter eindringlicher Weise an:

»Versuchung ist es nicht, die Sie peinigt, sondern es lebt in Ihnen der unbestimmte Wunsch, denjenigen, der Ihnen einst das Teuerste auf Erden gewesen ist, ebenfalls auf den Weg des Heils zurückzuführen. Beten Sie für ihn und fahren Sie fort, seiner zu gedenken, aber gedenken Sie seiner wie eines Verstorbenen. Abgesehen von seiner unglücklichen, religiösen Richtung, abgesehen von seinen politischen Verirrungen war er stets ein achtbarer Charakter, der die freundliche Teilnahme seiner Mitmenschen wohl verdiente. Eine Versündigung ist es daher nicht, wenn Sie selbst in Ihren Gebeten seiner gedenken, aber er ist tot für sie. Ihr armer bedauernswerter Freund befindet sich zur Zeit auf der Reise nach fernen fremden Ländern, wohin der Arm der hiesigen Gerechtigkeit nicht reicht. Trübsal, Kummer und Elend werden auf ihn einstürmen und, so Gott will, sein Gemüt erweichen; beten Sie daher für ihn, daß er siegreich aus dem Kampfe hervorgehe und, sei es auch erst in der letzten Stunde seines Lebens, sich in die Arme der alleinseligmachenden Kirche werfe, um einst im Jenseits ein Wiedersehen zu ermöglichen. Er ist tot für sie, aber ohne Zweifel und Beängstigung zu empfinden, dürfen sie seiner gedenken, für ihn beten.«

»Mein Vater,« sagte Johanna, ihre vor Entzücken strahlenden Augen mit flehendem Ausdruck auf den Geistlichen heftend, »dann gewähren Sie mir den Trost, gemeinschaftlich mit mir für das Wohl meines armen verlassenen Freundes zu beten.«

»Sie nehmen mir das Wort von den Lippen,« versetzte der Priester, sich erhebend, »vereinigt wollen wir für ihn beten, vereinigt zu dem Allmächtigen flehen, daß er ihn erleuchte und von der ewigen Verdammnis errette.«

Es folgte jetzt das Rücken von Stühlen, die beiden Geistlichen und die Oberförsterin bewegten sich mehrfach in stiller Geschäftigkeit aneinander vorbei, die Lampe wurde auf einen Stuhl gerade vor Johanna hingestellt und als dann wieder Ruhe eintrat, da kniete der ältere Geistliche mit einem aufgeschlagenen Buche grade vor der Lampe, und zu beiden Seiten von ihm knieten, mit gleich andächtiger Miene, der schurkische, heuchelnde Bernhard, und die von der unumstößlichen Wahrheit ihrer Religion tief durchdrungene alte Dame.

Johanna hielt das Kruzifix inbrünstig an ihre Brust gedrückt; ihren vor Mattigkeit halb geschlossenen Augen entströmten Tränen der Freude, und auf ihren eingefallenen Wangen wechselte wieder die krankhafte Röte mit der tödlichen Marmorfarbe.

Der Priester begann mit murmelnder Stimme ein lateinisches Gebet abzulesen. Es war dies das letzte, was ich hörte und sah.

»Anton komm,« sagte ich laut zu meinem erschreckten Begleiter, denn erfüllt von Abscheu und namenslosem Schmerz wäre mir in jenem Augenblick eine Entdeckung vollständig gleichgültig gewesen.

Ebenso schritt ich, trotz Antons dringender Warnungen, mitten auf der Landstraße offen einher; eine Begegnung mit dem wilden Andres hätte ich willkommen geheißen, und mit Entzücken würde ich ihn mit meinem schweren Wanderstabe erschlagen haben. –

Am folgenden Morgen, gleich nach Tagesanbruch, wanderte der getreue Anton nach der Oberförsterei. Er war beauftragt, einen kleinen, mit Bleistift geschriebenen Zettel dem Oberstleutnant persönlich einzuhändigen. Auf dem Zettel standen folgende Worte: »Nicht um seinetwillen, sondern um den unglücklichen Zustand Ihrer Nichte mit Ihnen zu beraten, wünscht ein Geächteter Sie zu sehen und zu sprechen. Der Bote ist sicher, der Aufenthaltsort des Verstoßenen nur ihm bekannt. Jeder Versuch, durch ihn das Versteck kennenzulernen, wird sich als erfolglos ausweisen.«

Nach zwei Stunden brachte Anton mir die Antwort. Er hatte den Oberstleutnant in seiner Stube allein angetroffen und ihm die Nachricht unverzüglich zugestellt. Nach seiner Mitteilung zu schließen, mußte diese wie ein Donnerschlag auf meinen Vormund eingewirkt haben, denn nachdem er einige Male in der Stube mit Heftigkeit auf und ab gegangen war, hatte er sich auf einen Stuhl geworfen und lange in tiefe Gedanken versunken dagesessen.

Dann war er plötzlich aufgesprungen, hatte schnell einige Worte auf einen Papierstreifen geschrieben und diesen, zusammen mit einem harten Taler als Belohnung für seinen Gang, dem überraschten Anton in die Hand gedrückt. Anton hatte darauf, meinem Rate gemäß, dem Oberstleutnant meine Lage geschildert und darauf hingewiesen, daß gerade in der Nähe der Oberförsterei die größte Gefahr auf mich lauere.

Als Anton endlich ging, begleitete der alte, gütige Herr ihn noch durch die Küche, wo er den Leuten befahl, dem armen Jungen für sich und seine Mutter ein warmes und reichliches Frühstück mit auf den Weg zu geben.

Das Papier enthielt nur wenige Worte: »Ich weiß alles, und was ich nicht weiß, ahne ich. Der Anblick des armen Kindes sollte Dir erspart bleiben, und darum wurdest Du angewiesen, am Siebengebirge vorbeizureisen. Trotz der drohenden Gefahr bist Du gekommen; ich habe es erwartet. Ich will Dich sehen, um mit Dir über Johanna zu beraten und Dir meinen Segen mit auf den Weg zu geben. Sei vorsichtig um Deiner selbst willen.«

 


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