Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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Zweite Abteilung

Am Missouri

 

19

Die Mandanen-Waise

Da sitze ich wieder in meiner alten Hütte. Statt der sieben Monate bin ich deren nur vier fortgewesen; aber was habe ich in diesem kurzen Zeitraum erlebt! War es nur ein Traum? Waren es wirre Bilder einer aufgeregten Phantasie? Nein, nein und nochmals nein! Ich habe alles erlebt, alles war Wirklichkeit und was mich jetzt umgibt, ist ebenfalls Wirklichkeit!

Hier ist meine Hütte, dort, wo das Feuer brennt, habe ich mein Manuskript unversehrt ausgegraben; nur einige Wölfe hatten in der Asche ihre Spuren abgedrückt, sonst ist alles unverändert geblieben. Alles unverändert, nur ich nicht.

Da liege ich mit wundem Knie vor dem bekannten, mir als Pult dienenden Felsblock; das Schreiben wird mir schwer, und oft frage ich mich: werde ich noch einmal vollständig geheilt werden oder sollen Schanhatta's Bemühungen sich als vergebliche ausweisen?

Das liebe Kind, mit welcher Sorgfalt und Gewandtheit es meine schwere Wunde behandelt und wie es mich mit rührender Aufopferung pflegt.

Was könnte ich der armen Waise hinterlassen, im Falle ich stürbe? Nichts, nichts als etwas Geld und Pelzwerk und endlich die von mir verfaßte Geschichte meines Lebens.

Ach, es ist dies sehr, sehr wenig, und in meiner hilflosen Lage kann ich nur versuchen, mein Manuskript zu vervollständigen und dadurch dessen eingebildeten Wert zu erhöhen. Doch wo beginnen? In meinem Kopfe wirbeln die Erlebnisse der letzten Monate wild durcheinander; aber ich muß mich beruhigen; ich will und muß da beginnen, wo ich kurz vor meinem Aufbruch im Frühling stehen blieb, also mit der Zeit, in der ich als heimatloser Fremdling in New-York landete.

Und dennoch, was haben mir die drei ersten Jahre meines Aufenthaltes auf dem amerikanischen Kontinent geboten? Im Grunde nichts, was der Erwähnung wert wäre. Nicht zum Kaufmann geboren, machte das Treiben in der mächtigen Weltstadt keinen freundlichen Eindruck auf mich. Verhältnisse und Menschen widerten mich an, und ohne erst Nachrichten aus der Heimat abzuwarten, begab ich mich gleich westlich, und zwar auf kürzestem Wege nach St. Louis, wo ich bei der Pelz-Kompanie eine Stelle zu erhalten hoffte.

Von jeher ein Verehrer der Jagd und in der Handhabung der Büchse nicht ungeübt, glaubte ich alle Fähigkeiten und Eigenschaften zu besitzen, die neben einem kräftigen und abgehärteten Körper zum Dienst in den fernen westlichen Wildnissen erforderlich seien.

Zwei Jahre schwerer Arbeit belehrten mich, daß ich meine Kräfte nicht überschätzt hatte, denn nach deren Ablauf war ich im Besitz solcher Erfahrungen, daß ich mich kühn zu den gediegensten und gewandtesten Jägern im Dienste der Kompanie zählen durfte.

Beim Stellen der Fallen kam mir zustatten, daß ich mich nicht nur auf das Erlernen der praktischen Handgriffe beschränkte, sondern auch aufmerksam die Natur und Eigentümlichkeiten der Biber, Moschusratten, Otter und sonstiger wertvollen Tiere beobachtete und erforschte. Auch in der Führung der Büchse brachte ich es durch die mit meinen traurigen Lebenserfahrungen im Einklange stehende Ruhe zu einer großen Meisterschaft.

Die Häupter der Pelz-Kompanie erkannten diese Vorzüge sehr wohl an. Hatte es bei meinen Eintritt in ihre Dienste von meiner Seite vieler guten Worte bedurft, um überhaupt der ausgewählten Schar ihrer Voyageurs eingereiht zu werden, so machten sie mir nach Ablauf der ersten zwei Jahre wiederum ihrerseits die glänzendsten Anerbietungen, wenn ich den Posten eines Sekretärs auf einer ihrer abgelegenen befestigten Handelsstationen übernehmen wolle.

Doch mir sagte die tiefe Einsamkeit in einer wenig besuchten Wildnis mehr zu, und trotz aller Anerbietungen von seiten der Chefs erklärte ich zu Anfang des dritten Jahres, als unabhängiger Freitrapper mein Glück versuchen zu wollen.

Ausgerüstet mit zwei abgehärteten und ausdauernden Pferden, dem entsprechenden Pulvervorrat, einigen Fallen, Decken, Salz und zwei Säcken Mehl verließ ich beim ersten Beginn des Frühlings die westliche Kolonie St. Joseph. Mein nächstes Ziel war der Zusammenfluß des Yellow-Stone-Flusses mit dem Missouri, von wo aus ich meine Jagdausflüge zu unternehmen gedachte. Wo ich den Winter zubringen würde, wußte ich noch nicht; es sollte dies davon abhängen, wo sich mir in der Nähe von fließenden Gewässern nicht nur ein gutes Jagdrevier, sondern auch eine meinen Neigungen entsprechende Gelegenheit zur Gründung einer zeitweiligen und vor allen Dingen ungestörten Häuslichkeit bieten würde.

So zog ich auf dem rechten Ufer des Missouristromes aufwärts. Die vollständige Abgeschiedenheit in der romantischen Wildnis gefiel mir noch besser, als ich erwartet hatte; wo es mir behagte, blieb ich, und wo die Umgebung meinen Neigungen nicht entsprach, da ließ ich mich sogar nicht einmal durch Wildreichtum zum längeren Verweilen bestimmen. –

In kurzen Märschen hatte ich mich allmählich der Stelle genähert, auf der die letzten Spuren des einstmals so mächtigen und schönen Stammes der Mandanen-Indianer noch sichtbar waren. Seit wenigen Jahren erst war ihr Dorf verödet, jetzt schlichen Wölfe über die mit Rasen bewachsene Stätte, auf der einst braune Kinder sich in der Handhabung der Waffen übten, schwarzäugige Squaws Mokasins und Leggins mit den gefärbten Stacheln vom Stachelschwein und mit Riemenwerk sinnig schmückten und furchtbar bemalte Krieger mit wildem Geheul ihren tollen Reigen um die rauchenden Kopfhäute erschlagener Feinde aufführten.

Wo waren die tapfern Krieger, wo waren die Mütter von mutigem Herzen, wo die jungen Keime und Blätter des schönen Mandanen-Stammes geblieben? Sie waren dahin gegangen, wo keine Arbeit mehr den Rücken des Weibes beugt; wo die Jäger die Sehne mit dem befiederten Pfeil nur ans Ohr zu ziehen und zurückzuschnellen brauchen, um die junge Bisonkuh oder den Elkhirsch zu erlegen; wo die Kinder, ähnlich den Schmetterlingen, im ewigen Sonnenschein spielen; dahin, wo der große gute Manitou seine roten Lieblingskinder ruft; sie waren nach den glückseligen Jagdgefilden gegangen.

Manitou hatte ihnen gezürnt, jetzt aber war er versöhnt, und die Mandanen weilten in seiner nächsten Nähe.

Er hatte ihnen gezürnt, oder er hatte nicht zugegeben, daß die vereinigten Stämme der Siouxs in dunkler Nacht das stark bevölkerte Dorf der Mandanen überfielen und Männer, Weiber und Kinder im Schlafe würgten. Er hatte ihnen gezürnt, oder er hätte nicht, nachdem die wenigen überlebenden Familien sich wieder auf ihrer alten Stätte gesammelt hatten, jene furchtbare verheerende Krankheit gesandt, die auch noch diesen letzten Rest dahinraffte und die einzelnen verschont gebliebenen Mitglieder in alle Winde zerstreute.

Der Stamm der Mandanen war seit jener Zeit verschwunden und die wenigen, zum Teil nicht mehr unvermischten Familien mieden die Stätte, auf der augenscheinlich ein schrecklicher Fluch lastete. Und der Fluch lebte ja noch fort, denn bald hier, bald dort, gleichviel bei welchem Stamme, tauchten die von den Weißen eingeführten Blattern plötzlich wieder auf, um erst, nachdem sie unbarmherzig eine genügende Anzahl von Opfern gefordert, sich nach einer andern, bis dahin noch unberührten Richtung hinzuwenden. –

Es war in der Frühe eines klaren, lieblichen Sommertages, als ich, meine beiden schwer beladenen Pferde am Zügel führend, langsam durch das verödete Mandanen-Dorf wanderte. Meine Aufmerksamkeit bald den das Missourital einfassenden Hügelketten, bald dem gelben, um gebleichte Treibholzklippen herumschäumenden Strome selbst zuwendend, gedachte ich des traurigen Geschickes, das die Eingeborenen des amerikanischen Kontinentes im allgemeinen verfolgt.

Auf den Sandbänken und den gestrandeten Treibholzstämmen saßen weiße und blaue Reiher den gekrümmten Hals eingezogen und den einen Fuß erhoben, nahmen sie sich aus, als ob auch sie über den Wechsel des Schicksals grübelten.

Hin und wieder erblickte ich auch einen schillernden Königsfischer, der, ebenso regungslos wie die Reiher, von einem über die Fluten emporragenden Zweige aus nach Beute spähte. Auch Präriewölfe bemerkte ich, die gleich mir stromaufwärts schlichen, und als ich mit den Augen der von ihnen innegehaltenen Richtung folgte, gewahrte ich in der Ferne einen Schwarm Raben und Krähen, die unruhig über einem bestimmten Punkt umherflatterten, während hoch über ihnen gierige Aasgeier ihre regelmäßigen Kreise zogen oder sich auch senkten, um auf den zerstreut umherstehenden Bäumen zu rasten.

Anfangs beachtete ich diesen Umstand kaum; ich vermutete daselbst eben nur die Überreste eines verunglückten Bisons, die von den Wölfen den Vögeln streitig gemacht wurden.

Erst als ich von einer Bodenanschwellung aus im Schatten einiger dicht belaubter Cottonwood-Bäume mehrere indianische Zelte entdeckte, wurde ich aufmerksamer, und nicht ohne Argwohn beobachtete ich die Tiere, die, ganz gegen ihre Gewohnheit, sich in die unmittelbarste Nähe von menschlichen Wohnungen wagten.

Leben war noch in den Zelten, darüber belehrte mich das scheue Wesen der Vögel und Wölfe; ob das Leben aber verborgenen Feinden oder einzelnen noch mit dem Tode ringenden Opfern angehörte, war nicht zu erkennen.

Jedenfalls schwankte ich keinen Augenblick, mich an Ort und Stelle von dem Vorgefallenen zu überzeugen.

In weitem Bogen näherte ich mich den Zelten, von denen ich kaum noch fünfzig Schritte entfernt sein mochte, als ich plötzlich eine klagende menschliche Stimme vernahm.

Lauschend blieb ich stehen; die Stimme klang jugendlich und bestand aus jenen gesangartigen Klagelauten, die bei den Indianern mehr von Seelenschmerz als von körperlichen Qualen zeugen. Ich hielt daher jede fernere Vorsicht für überflüssig, und nachdem ich die mit ankerähnlichen Haken versehenen Fangleinen der Pferde auf die Erde geworfen hatte, schritt ich auf das Wigwam zu, aus dem die Klagetöne hervordrangen.

Auf einen traurigen Anblick vorbereitet, hob ich den Vorhang des einzigen noch belebten Wigwams empor, aber ebensoschnell ließ ich ihn wieder fallen, da die mir entgegendringende Luft mir fast den Atem raubte. Ein lebendes Wesen hatte ich indessen flüchtig bemerkt, was für mich genügte, zugleich auf die Rettung desselben zu sinnen.

Schnell entschlossen zog ich mein Messer hervor und es in Mannshöhe durch die straffe Zeltwand stoßend, ging ich ganz um das Zelt herum. Als ich wieder da eintraf, von wo ich ausgegangen war, führte ich noch einen Längsschnitt nach unten, und die untere Hälfte des Zeltleders sank auf den Boden nieder.

Entsetzt starrte ich auf das Bild vor mir hin, entsetzt und zugleich von dem tiefsten Mitleid ergriffen.

Auf einer großen Büffelhaut, nur teilweise verhüllt von einer farbigen Decke, lagen nebeneinander zwei regungslose Gestalten.

Ihre Züge waren im Tode erstarrt; ihre halb offenstehenden Augen stierten ausdruckslos ins Leere und aus ihrem ganzen Äußern ließ sich entnehmen, daß sie bereits vor mehreren Tagen aus dem Leben geschieden waren, und zwar infolge der furchtbaren Blatternkrankheit.

Vor den beiden Leichen kniete eine junge Indianerin. Diese, den Kinderjahren kaum entwachsen, war von der Krankheit verschont geblieben.

Nach ihr hatte der Tod seine Hand nicht auszustrecken gewagt; es war, als habe er mit soviel Jugend und Schönheit Mitleid empfunden und das verwaiste Kind für spätere Tage, wenn der Frühling erst dem Herbste des Lebens gewichen sein würde, aufsparen wollen.

Als ich die junge Indianerin zuerst gewahrte, hatte sie mir ihr Profil zugekehrt, ein schönes, edel geschnittenes Profil, das mich lebhaft an meine unvergeßliche Johanna erinnerte. Allerdings war sie kleiner und schmächtiger, allein die sanft gebogene Nase, die langen Wimpern an den gesenkten Lidern und die vollen Lippen waren die Johannas, nur im verjüngten Maßstabe und sogar das lange, rabenschwarze Haar, das nicht schlicht, wie sonst bei den Eingeborenen, sondern in Wellenlinien zu beiden Seiten des abgehärmten Antlitzes bis tief über die Schultern niederfiel, trug dazu bei, mir Johannas Bild in das Gedächtnis zurückzurufen.

Ihr Oberkörper war unbekleidet, nicht einmal Spangen oder Perlenschnüre schmückten ihre kindlich geformten Arme oder den schlanken Hals. Dagegen hatte sie, zum Zeichen der Trauer, ihre runden Schultern mit befeuchteter Asche bestrichen und die Zieraten, die an ihrem feuerfarbigen, von den Hüften niederfallenden Rock befestigt gewesen waren, zum größten Teil abgerissen und den beiden Leichnamen auf die Brust gelegt.

Als die Zeltwände niedersanken und das volle Tageslicht zu der trauernden Waise hineindrang, blickte sie flüchtig zu mir empor; dann aber ihre großen, tränenlosen Augen wieder auf die entstellen Züge ihrer Angehörigen richtend, fuhr sie fort, ihre Klagen über diesen hinzusingen.

»Überlasse meine Tochter die Toten den Toten und begleite sie mich dahin, wo die böse Krankheit nicht mehr droht,« redete ich das arme Kind endlich in der Sioux-Sprache an, nachdem ich es eine Weile mit dem innigsten Mitleiden betrachtet hatte.

Die Indianerin schüttelte statt der Antwort leise den Kopf, und dann die Hände zu mir erhebend, verdeutlichte sie mir durch Zeichen, ich möge mich entfernen, wenn ich nicht ebenfalls sterben wolle.

Anfänglich glaubte ich, sie habe mich nicht verstanden, und trat darum dicht zu ihr heran; dann wiederholte ich meine Aufforderung noch einmal durch Zeichen.

»Meine Mutter, der Bruder meiner Mutter,« entgegnete sie nunmehr in der Sioux-Sprache, auf die beiden Leichen weisend, und dann setzte sie ihren schwermütigen Gesang wieder fort.

Offenbar glaubte sie, es bedürfe nur dieser Worte, um mich zu überzeugen, daß sie sich nicht entfernen dürfe und an der Seite ihrer Angehörigen sterben wolle.

»Meine Tochter muß sich von ihrer Mutter trennen,« sagte ich jetzt wieder, »sie kann ihr nicht folgen auf dem Pfade nach den glückseligen Jagdgefilden. Ihre Mutter hat bereits einen Begleiter, ihr Bruder wird sie sicher führen.«

»Alle sind von mir gewichen, ich bin die Letzte,« erwiderte die junge Waise mit einer leichten Handbewegung nach den übrigen Zelten; »ich will ihnen folgen, ich will auf die Krankheit warten.«

»Meine Tochter kann warten, bis der Hunger ihr die Augen zudrückt, aber die Krankheit wird ihr fernbleiben,« fuhr ich fort; »die Krankheit wendet meiner Tochter den Rücken, meine Tochter ist ihr zu jung.«

»Sie nahm Kinder von den Armen der Mütter, sie nahm Leute mit Schnee in den Haaren,« sagte das Mädchen kaum verständlich vor sich hin.

»Hat sie denn alle Bewohner dieser Wigwams fortgerafft?« fragte ich weiter, um sie zum Erzählen zu bewegen und dadurch auf andere Gedanken zu bringen.

»Alle, alle, nur ich bin zurückgeblieben.«

»Zu welchem Stamme gehört meine Tochter? Ihre Hautfarbe ist lichter als die ihrer Mutter dort, und ihre Haare sind gelockt wie die Schweiffedern der wilden Ente.«

»Dies sind die Wigwams der Mandanen und ich bin die Letzte. Mein Vater war ein großer Zauberer; ich habe ihn nicht gesehen; sein Haar war aber lockig wie die Mähne des jungen Bisons und seine Haut hell wie Mondschein. Seine Feinde schleppten ihn fort zum Marterpfahl, als meine Füße noch zu schwach zum Gehen waren.«

Meine Blicke fielen wieder auf die grausigen Leichen und fest ergriff ich des Mädchens Hand, um es mit Gewalt aus der gefährlichen Nachbarschaft zu entfernen.

»Komm, meine Tochter,« sagte ich dringend, »komm mit mir, ich will dein Vater und deine Mutter sein, ich will dich zu guten, weißen Menschen führen.«

»Töte mich,« flehte das Mädchen mit unaussprechlich rührendem Ausdruck, »bleicher Mann, töte mich, daß ich sie einhole auf der weiten Wanderung; ich bin die Letzte der Mandanen und kann nicht zurückbleiben.«

Ich sah ein, daß, solange ihre Angehörigen sich noch in ihrem Gesichtskreis befanden, alle meine Mühe, sie fortzubringen, vergeblich sein würde. Ratlos blickte ich umher. Da fiel mir auf, daß die übrigen Opfer der Krankheit verschwunden waren; sie mußten also auf die eine oder andere Art entfernt worden sein.

»Weiß meine Tochter, wo die Leiber der Gestorbenen geblieben sind?« fragte ich sodann, indem ich auf die andern Zelte deutete.

»Dort,« antwortete das Mädchen, auf den nahen Strom weisend.

»Weiß meine Tochter, wer sie von dem Ufer in die Wellen hinabstieß? Meine Tochter ist schwach, sie kann es nicht getan haben.«

Da erweiterten sich ihre schwarzen Augen, und große Tränen rollten ihr über die abgehärmten Wangen.

»Die Mutter gab dem Wasser ihr krankes Kind und sprang ihm nach; die kranken Söhne stürzten sich mit ihrem toten Vater hinab; alle, alle liegen sie auf dem Boden des großen Flusses; sie sind gesund; sie fühlen keine Schmerzen mehr. Ich bin schwach, ich vermag die Mutter nicht zu heben; aber der bleiche Mann wird mir helfen, sie auf das Ufer tragen, sie und ihren Bruder, daß ich mich mit ihnen hinabstürze.«

»Wir wollen ihnen eine Grube scharren und sie bestatten,« versetzte ich tröstend, »wir wollen sie tief in die Erde senken und Steine über ihnen zusammentragen, damit die Wölfe ihre Gebeine nicht benagen.«

Ein Blitz des Verständnisses leuchtete aus ihren großen, schwarzen Augen. »Tief in die Erde,« wiederholte sie nachdenkend, »guter, bleicher Mann, willst du mich neben sie legen?« fragte sie darauf, mich gespannt anblickend.

»Nein, meine Tochter,« antwortete ich in strengem Tone, hoffend, daß ich auf diese Weise meinen Willen bei ihr durchsetzen würde; »meine Tochter wird jetzt tun, was ich ihr heiße. Ich habe einen guten Traum gehabt und danach muß ich handeln. Ich werde eine Höhle scharren, breit und tief, ich werde die Gestorbenen hineinlegen, und meine Tochter soll mir helfen, sie mit Erde und Steinen bedecken. Meine Tochter wird aber von hier fortgehen und zusehen, wie ich grabe; ich will es so, die Letzte der Mandanen soll noch länger leben und nicht die böse Krankheit von ihrer Mutter trinken.«

Etwa eine Minute lang blickte die junge Indianerin mich schwankend an; dann aber stand sie auf, und gesenkten Hauptes vor mich hintretend, harrte sie der Befehle, die ich nunmehr an sie zu richten haben würde.

Ohne Widerrede leistete sie mir auch Folge, als ich sie aufforderte, eine Axt und eine Hacke, wie sie von den Eingeborenen zum Pflanzen von Mais benutzt werden, herbeizuschaffen.

Nachdem ich meine Pferde abgesattelt und auf einer grasreichen Stelle gepflöckt hatte, begann ich an einer geeigneten Stelle die Erde aufzuwühlen und eine Höhle, umfangreich genug, zwei Leichen zu bergen, auszuscharren.

Sobald die Gruft endlich die erforderliche Größe hatte, befahl ich dem mir jetzt ergeben gehorchenden Mädchen, in einem nahen Gebüsch Zweige vom duftenden Sassafras-Strauch zu brechen und herbeizubringen; ich wollte sie nicht zum Zeugen haben, wenn ich dem Grab seine stillen Bewohner übergeben würde. Als sie nach Verlauf einer Viertelstunde mit den Zweigen zurückkehrte, lagen ihre Mutter und deren Bruder bereits unten in der Erde friedlich nebeneinandergebettet.

»Bedecke sie mit dem grünen Laub, meine Tochter,« sagte ich ernst.

Mechanisch ließ sie einen Zweig in das Grab fallen, dann aber legte sie ihre duftende Bürde auf den Rand der Grube nieder und entfernte sich mit eiligen Schritten nach den Zelten hin.

Ich erriet, was sie beabsichtigte, und ließ sie gewähren.

Nach einigen Minuten kehrte sie zurück, beladen mit allen Gegenständen, die sie in der Hast zusammenzuraffen vermocht hatte. Für den jungen Mann brachte sie dessen Waffen und seinen grellfarbigen Kriegsschmuck; für ihre Mutter dagegen Decken, Glasperlen, Nadeln und zu Fäden gespaltene Wildflechsen, und nachdem sie alles vorsichtig zu den Toten in das Grab gelegt hatte, warf sie auch noch ein Säckchen mit ausgehülstem Mais und ein Bündel gedörrtes Büffelfleisch zwischen beide.

Jetzt erst, nachdem sie die Geister der Verstorbenen zu ihrer letzten Reise mit dem Allernotwendigsten ausgerüstet zu haben glaubte, bedeckte sie deren irdische Überreste behutsam mit den Zweigen, worauf ich schnell mit dem Zuschütten der Grube begann.

Was ich erwartet hatte, traf ein. Die junge Indianerin, nicht mehr die entstellten Leichen vor Augen, beruhigte sich, und als wir dann endlich das Grab durch eine feste Pyramide gegen die Angriffe der wilden Bestien gesichert hatten, da sank sie vor mir auf die Knie.

»Bleicher Mann,« hob sie an, ihre großen, melancholischen Augen vertrauensvoll zu mir aufschlagend, »jetzt bin ich deine Tochter; du hast es gesagt; mache mit mir, was du willst.«

»Du sollst meine Tochter sein,« antwortete ich gerührt, indem ich sie durch ein Zeichen bedeutete, sich zu erheben, »dein Manitou hat dich mir in den Weg geführt und ich will dein Vater sein.«

Dies waren die einzigen Worte, die wir betreffs der Zukunft miteinander wechselten; das arme verlassene Wesen schloß sich an mich an, wie das Kalb der erschossenen Büffelkuh dem Pferde des Jägers, der es seiner Mutter beraubte, überall hinfolgt. –

Am folgenden Morgen, bereits in aller Frühe, traten wir unsere Reise stromaufwärts an. Statt der früheren zwei Pferde besaß ich deren jetzt vier. Ich hatte mir nämlich aus der kleinen herrenlos gewordenen Herde diejenigen beiden Tiere ausgesucht, die mein Schützling als die ihrer Mutter bezeichnete. Zwei benutzten wir zum Reiten, die andern beiden trugen unsere Habseligkeiten. Wir reisten daher mit soviel Bequemlichkeit, wie man in der Wildnis nur immer verlangen konnte.

Die Erfüllung der Pflichten gegen meinen Schützling blieb für mich nicht ohne segensreiche Wirkung. Der finstere Ernst, der seit Jahren Besitz von mir ergriffen, begann sich zu lösen, und mit wachsendem Wohlgefallen beobachtete ich die Erfolge meiner erzieherischen Bemühungen, die bei der außergewöhnlichen Empfänglichkeit des Gemütes und der Fassungsgabe des aufmerksamen Kindes bald zutage traten. Indem ich die junge Indianerin Schritt für Schritt auf dem Wege der Bildung weiterführte, öffneten sich auch immer neue Seiten in ihrem Charakter, die mich innig erfreuten, so daß ich sie in Gedanken oft mit einem zarten Schößling verglich, der, aus erstickender Wildnis in edleren Boden verpflanzt, die sorgfältige Pflege des Gärtners mit der tadellosesten Blüte zu belohnen verspricht.

Mit großer Leichtigkeit erlernte sie die englische Sprache, und wie sie sich unter meinen steten Bemühungen geistig unglaublich schnell entwickelte, so gewöhnte sie sich auch von Tag zu Tag mehr daran, einen höheren Wert auf ihre äußere Erscheinung zu legen. Auch verschmähte sie bald, ihre Gesichtszüge durch Malereien zu entstellen, nicht zu gedenken, daß sie den Schnitt ihrer Kleidungsstücke nach meinen Angaben der in zivilisierten Ländern herrschenden Sitte etwas näher brachte.

So bot denn die junge indianische Waise, nachdem sie sich vier oder fünf Monate bei mir befunden hatte, ein wahrhaft bezauberndes Bild lieblicher Jungfräulichkeit. Ihre sammetweiche Gesichtsfarbe schien heller, ihr schwarzes Haar noch lockiger geworden zu sein, und wenn auch hin und wieder jugendlicher Frohsinn bei ihr zum Durchbruch kam und ein kindliches Lächeln um ihren zierlichen, mit unvergleichlich schönen Zähnen geschmückten Mund spielte, so thronte doch gewöhnlich ein sinnender Ernst auf ihren Zügen, der durch die großen melancholischen Augen einen noch charakteristischeren Ausdruck erhielt. Dabei war sie immer freundlich um mich besorgt, immer bereit, mir jede Arbeit abzunehmen oder mich nach meinen Fallen zu begleiten.

Über ihre Vergangenheit wußte sie wenig oder gar nichts zu erzählen. Sie war noch ein hilfloses Kind, als ihr Stamm zum ersten Male durch die Blattern und den hinterlistigen Überfall seiner Erbfeinde fast ganz aufgerieben wurde.

Daß sie die Tochter eines Weißen sei, wie deren viele bei den verschiedenen Stämmen eingebürgert als Jäger und Fallensteller lebten, bezweifelte ich nicht; ihr Äußeres verriet zu deutlich ihre Abstammung. Außerdem trug sie ein Zeichen, das unstreitig den Zweck hatte, ihre Verwandtschaft auszuweisen und dem Vater die Mittel an die Hand zu geben, daß er sein Kind, selbst nach vielen Jahren, wiederzuerkennen vermöge.

Anders vermochte ich mir wenigstens das rote Herz nicht zu enträtseln, das auf ihrer Schulter eintätowiert war. In dessen Mitte glaubte ich noch die etwas verwischten Spuren eines blauen Kreuzes und die nicht mehr zu entziffernden Linien zweier oder mehrerer miteinander verschlungener Buchstaben zu entdecken.

Den Namen ihres Vaters kannte sie nicht; sie wußte nur, daß man seiner zuweilen als eines Medizinmannes oder Zauberers gedacht und ihn mit dem allgemeinen, von den Seitengewehren der Weißen abgeleiteten Namen »Waschitscho« oder langes Messer bezeichnet hatte. Sie selbst war Schanhatta genannt worden, ein Wort, das sie mir nicht zu deuten wußte.

Beschäftigt mit der doppelten Aufgabe, durch Jagd und Tauschhandel etwas mehr, als zu unserm notdürftigen Unterhalt erforderlich war, zu erwerben, ferner meine freundliche Schanhatta soviel wie möglich zu unterweisen und zu belehren, verstrichen mir die Tage schneller als je, seit ich meine Heimat verlassen hatte. Und als wir in einem abgeschiedenen Distrikt, von dem ich wußte, daß er während des Winters weder von weißen noch von rothäutigen Jägern besucht wurde, uns häuslich einrichteten, da erschien es mir, als ob die Sommer- und Herbstmonate ebenso viele Wochen gewesen wären. Mit ausreichenden Schreibmaterialien hatte ich mich versehen; ich sah daher dem strengen Winter mit jener Ruhe entgegen, mit der ich wohl im fernen Heimatlande den ersten Schneefall beobachtete und dabei des warmen Ofens, der langen, behaglichen Abende und der Vergnügungen auf dem Eise und in glänzend erleuchteten Hallen gedacht hatte.

Die Wintermonate verstrichen denn auch im Fluge, und nur daran berechnete ich die Länge der Zeit, daß mein Manuskript einen beträchtlichen Umfang erreicht hatte und daß in der kleinen Indianerin eine auffallende Veränderung vor sich gegangen war.

Sie hatte sich in dem Jahre unseres Zusammenlebens nicht nur geistig auf überraschende Weise entwickelt, sondern war auch größer, stärker und schöner geworden.

Mit den Gedanken an ihre Zukunft beschäftigte ich mich denn auch vorzugsweise, als wir, unsere vier schwer bepackten Pferde vor uns hertreibend, im Frühjahr am Missouri stromaufwärts der nächsten Pelztauscher-Station zuzogen und Schanhatta in ihrer kindlichen, aber sinnigen Art mich auf dieses oder jenes aufmerksam machte und sich über alles, was ihr fremdartig oder unerklärlich erschien, Belehrung erbat.

 


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