Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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11

Im Kerker

»Gefangen«, welch schreckliches Wort, welche vernichtenden Gedanken reihen sich an diesen einen Begriff.

Nur verstohlen lugt das Tageslicht durch das kleine vergitterte Fenster herein, und dumpf schlägt das summende Geräusch des lebhaften Verkehrs in den Straßen an das ängstlich lauschende Ohr.

Wie die Minuten so langsam verinnen, wie die Stunden so endlos erscheinen!

Wieviel Minuten hat die Stunde? Wieviel Stunden der Tag, wieviel Tage das Jahr und wieviel Jahre zählt das Leben! Ist es denn möglich, solche Marter zu ertragen? Es kann nicht sein!

Nackte Wände umgeben mich; hier steht mein hartes Lager, dort der steinerne Wasserkrug; eiserne Stangen, kreuzweise miteinander verbunden, versperren die Fensteröffnung, und eiserne Schienen und schwere Riegel lassen kaum das Holz der Türe durchschimmern.

Traurig und langsamen Schrittes durchmaß ich meine düstere Zelle, und vergeblich versuchte ich die letzte Spur von dem jugendlichen Mut wachzurufen, der mich vor kurzem noch in so hohem Grade beseelte.

Mein Fenster lag nach der Straße hinaus; aus Besorgnis, daß ich oder andere, die mein Schicksal teilten, sich durch Zeichen mit den vorüberwandelnden Menschen verständigen könnten, hatte man vor den eisernen Gittern hölzerne, grün angestrichene Jalousien angebracht, deren Öffnungen aber nach oben wiesen. Man gönnte uns nicht den Anblick lebender Wesen; einige schmale Streifen des Himmels waren alles, was man uns ließ. Wie wenig, und doch schöpfte ich daraus so manchen Trost, so manche Hoffnung.

Stundenlang stand ich vor den knapp zugemessenen Öffnungen, die Blicke emporgerichtet. Die dahinziehenden Wolken schienen in meinen Augen Leben zu erhalten und ich beneidete sie um die weite Fernsicht, die ihnen dort oben offenstand. Erblickte ich gar eine Schwalbe, die fröhlich und sorglos meinen neidisch begrenzten Gesichtskreis durchsegelte, dann hätte ich weinen mögen vor bitterem Weh und Herzeleid.

Als die Schwalben zum letztenmal beim Herannahen des Winters geschieden waren, da zog in meine Brust der Frühling ein, und jetzt, da die Verkünderinnen des Frühlings wieder eintrafen, durchbebte winterliche Kälte meine Seele. Mein Lebensmut war gebrochen, und an den schönsten Traum meines Lebens durfte ich nicht denken, wenn ich nicht dem Wahnsinn anheimfallen wollte.

Ich wollte an Johanna schreiben, ihr mein Verhalten, so gut es in meinen Kräften stand, erklären und ihre Verzeihung erflehen, allein ich wurde als Hochverräter behandelt, der sogar nicht einmal in brieflichen Verkehr mit der Außenwelt treten durfte. Ebenso wurden auch alle Briefe zurückgewiesen, die an die Gefangenen einliefen. Es war ein grausames Verfahren, das man gegen uns einschlug, ich ertrug es aber mit verhältnismäßig ruhiger Ergebung, denn nachdem ich alles, alles verloren, gab es ja nichts mehr, das mich noch tiefer zu beugen vermocht hätte.

So verstrich die erste Zeit meiner Haft; mich kümmerten weder Verhöre noch Verurteilung. Ja, sogar meine Verurteilung zu lebenslänglicher Einschließung vernahm ich, ohne zu beben; ich zuckte höhnisch die Achseln, in der Überzeugung, daß mein Leben unter der Last der an meiner Seele nagenden Selbstvorwürfe von keiner großen Dauer sein könne.

In meinen Kerker zurückgekehrt, gab ich mich indessen wieder ganz meinem Brüten hin, so daß ich nur noch wie ein Schlaftrunkener vegetierte und weder den Schließer, noch den Gefängniswärter eines Wortes oder eines Blickes würdigte.

Da, etwa vier Monate mochte ich in meiner Haft zugebracht haben, trat ersterer eines Morgens zur ungewöhnlichen Stunde bei mir ein und überreichte mir zwei Briefe.

»Sie werden mich nicht verraten,« sagte er leise, »der eine Brief traf vierzehn Tage nach ihrer Verhaftung ein, der andere vor zwei Monaten. Ich unterschlug sie, anstatt sie zurückzusenden, und da nicht weiter nach Ihnen geforscht wurde, stelle ich sie ihnen jetzt zu.«

Dankend nahm ich die Briefe entgegen und leistete das feierliche Versprechen, nie ein Wort über ihren Empfang verlauten zu lassen.

Sobald ich wieder allein war, setzte ich mich auf mein Lager nieder. Lange und aufmerksam betrachtete ich die Aufschrift, die ich als von meinem Vormund herrührend erkannte. Ich fürchtete mich, den Inhalt kennenzulernen, denn was konnte er anderes enthalten als Versicherungen von Zorn und Verachtung? Da trat Johannas trauerndes Bild mir vor die Seele, und hoffend, von ihr oder über sie etwas zu erfahren, riß ich den älteren Brief schnell auf.

Das Schreiben war nur eine halbe Seite lang und ebenfalls von der Hand des Oberstleutnants. Ich las:

»Der Würfel ist gefallen; Du bist abtrünnig geworden und ich kann, ohne meinem Könige die Treue zu brechen, keine Gemeinschaft mehr mit Dir, dem Hochverräter, halten. Einen Mord hätte ich Dir verziehen, allein daß Du zu den Häuptern der Umsturzpartei gehörst, verzeihe ich Dir niemals. Hinter meinem Rücken, während ich Dir vielleicht mit väterlicher Zuneigung die Hand drückte, hast Du gegen unsere hohe Landesregierung konspiriert. Du erleidest jetzt die Strafe für Deinen Verrat, für die nicht einmal Deine Jugend eine Entschuldigung ist. Meiner Vormundschaft über Dich, die ohnehin nächstens abläuft, werde ich mich baldmöglichst entledigen und Dir den Rest Deines Vermögens zur Verfügung stellen. Es soll mich freuen, wenn die paar hundert Taler dazu dienen, Dir die wohlverdiente Strafe zu erleichtern.

Werker, Oberstleutnant und Oberförster.«

»Kein Wort über Johanna,« sagte ich erschüttert, indem ich den Brief, dessen Inhalt mich nicht im mindesten überraschte, wieder zusammenfaltete. Da fiel ein schmaler Papierstreifen, der zwischen den beiden Blättern des Bogens verborgen gewesen war, vor mir auf die Erde. Hastig griff ich danach und glaubte meinen Augen nicht trauen zu dürfen, als ich Johannas zierliche Schriftzüge erkannte. Offenbar hatte sie, da ihr das Schreiben untersagt worden war, den Papierstreifen heimlich in den schon versiegelten Brief hineingeschoben.

Meine Hand bebte bei dieser Entdeckung, und längere Zeit dauerte es, bis ich die vor meinen umflorten Augen ineinander verschwimmenden Buchstaben voneinander zu trennen vermochte.

»Gustav, ewig und innig geliebter Gustav, habe Vertrauen zu Deiner Johanna! Sage mir, wie ich Dir helfen kann, und sollte es mich das Leben kosten, beglückt gebe ich es hin, wenn es zu Deiner Rettung dient. Ich fühle mich stark und gesund, ich weine nicht mehr, aber Tag und Nacht sinne ich auf Mittel, Dich wiederzusehen, an Deinem treuen Herzen zu ruhen. Gott segne und beschütze Dich! ewig, ewig unveränderlich Deine Johanna.«

Von wildem Schmerz überwältigt sank ich auf mein Lager hin. Tränen entstürzten meinen Augen; obwohl ein Mann, weinte ich, wie in meinen ersten Kinderjahren, ich weinte so lange, bis ich keine Tränen mehr hatte und die Erschöpfung meine Geisteskräfte lähmte.

»Keinen Vorwurf, keine Klage, sondern nur Liebe, reine, rücksichtslose, hingebende Liebe,« wiederholte ich unablässig. »Ich fühle mich stark und gesund, ich weine nicht mehr, ach, welche Welt voll Jammer und Schmerz liegt in diesen Worten! Und ich, ich allein habe alles verschuldet, habe das arme vertrauensvolle Mädchen mit mir in das Verderben hinabgerissen!«

Dann gedachte ich der Weissagung der Irrsinnigen, ich vergegenwärtigte mir die krankhafte Röte auf Johannas Wangen, ihren zarten Körper, ihr leicht erregbares Gemüt, und immer schwärzere Ahnungen tauchten vor meiner Seele auf. Ich kannte sie ja hinlänglich, um zu befürchten, daß ein so schwerer Schlag sie an den Rand des Grabes bringen könne. Doch der Leidensbecher, der mir an diesem Tage dargereicht wurde, war noch nicht bis auf die Hefe geleert. –

Lange dauerte es, bis ich es über mich gewann, auch den zweiten Brief zu erbrechen. Dieser war ebenfalls von meinem Vormunde, aber zwei Monate später geschrieben. Vorsichtig faltete ich ihn auseinander, ihn erwartungsvoll von allen Seiten bertrachend; kein freundlich tröstender und doch auch wieder soviel Jammer erzeugender Papierstreifen fiel mir entgegen. Johanna hatte also keine Gelegenheit gefunden, mir ein Wort der Liebe zukommen zu lassen.

Mechanisch richtete ich meine Blicke auf die bekannten Schriftzüge, aber nach Lesung der ersten stockte mir das Blut in den Adern.

»Unglücklicher,« begann der Brief, »nicht genug, daß Du schwarzen Verrat an König und Vaterland begingst und dadurch Deinen Vater im Grabe entehrtest, hast Du auch als Schurke an mir und meiner armen Johanna gehandelt! Im Vertrauen auf die Ehrenhaftigkeit Deines Charakters machte ich Dir über Johannas Eltern die umfassendsten und genauesten Mitteilungen. Anstatt, Deinem gegebenen Worte getreu, das tiefste Stillschweigen über alles, was Johannas Vergangenheit betrifft, zu bewahren, hast Du Mittel und Wege gefunden, ihr nicht nur das traurige Ende ihres Vaters bis in die kleinsten Einzelheiten zu schildern, sondern sie auch über den Lebenswandel ihrer Mutter aufzuklären! Wahnsinniger, weißt Du, was Du getan hast?! Du hast den ersten Nagel in den Sarg meiner armen Nichte geschlagen! Versuche es nicht, Dich zu entschuldigen; außer Dir und meiner Lisette wußte hier niemand um die Geschichte. Du hast den Frevel vielleicht mit der guten Absicht begangen, ihren schnellen Tod herbeizuführen und dadurch ihren Jammer um Dich Elenden abzukürzen. Freue Dich, triumphiere, Du hast Deinen Zweck erreicht! Niemand wird bei Johanna die Stelle des zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilten Hochverräters vertreten.«

Ich war wie erstarrt; ich las den Brief noch einmal langsam durch; meine Augen brannten in ihren Höhlen, und keine mitleidige Träne war da, den furchtbaren Brand zu kühlen, kein Seufzer stand mir zu Gebote, die auf meine Brust gewälzte Last zu erleichtern. In mich gekehrt und taumelnd, wie ein Berauschter, ging ich in meiner Zelle auf und ab.

»Wer hat so Furchtbares getan?« murmelte ich unausgesetzt vor mich hin. »Wer hat es getan? Der Schwarze; Vielleicht Bernhard. Hüte dich vor dem Schwarzen! Hüte dich vor dem Schwarzen; Bernhard war mein Feind, mein böser Geist! Arme Johanna, hüte dich vor dem Schwarzen«, keuchte ich noch mit letzter Kraft, als schon die Dämmerung die wenigen Gegenstände in meinem Gemach unkenntlich zu machen begann; und dann warf ich mich auf die harten Planken des Fußbodens nieder, meine brennende Stirn gegen das dicke Eisenblech der Tür pressend.

Was in nächster Zeit mit mir vorging, weiß ich nicht; ich gelangte in den Lazaretträumen des Gefängnisses nach langer schwerer Krankheit zum Bewußtsein. Ein hitziges Nervenfieber hatte mich an die Pforten des Jenseits geführt, mein kräftiger Körper dagegen dem Tode fast noch im letzten Augenblick seine Beute streitig gemacht.

O, wäre ich damals gestorben, wieviel Kummer und Herzeleid wäre mir erspart geblieben!

Langsam und allmählich erwachte ich wieder zum Leben, zu einem Dasein zwischen düstern Gefängnismauern, und als einen gräßlichen Hohn betrachtete ich es, daß man mich so sorgfältig pflegte, sich soviel Mühe mit einem zu lebenslänglicher Haft Verdammten gab; doch ich mußte es geschehen lassen.

Anfangs erschien mir alles wie ein wüster Traum, in dem zwei Briefe die Hauptrolle gespielt, bis der Schließer mir erzählte, daß er mich vor vier Wochen mit den zusammengeknitterten Briefen in den Händen bewußtlos auf der Erde liegend in meiner Zelle vorgefunden habe. Die Briefe hatte er sodann, bevor er Hilfe herbeiholte, an sich genommen, um einer etwaigen Entdeckung vorzubeugen. Seine Besorgnis war indessen damit noch nicht beseitigt gewesen, denn in meinen Fieberphantasien hatte ich soviel von Briefen, von Johanna und dem Oberstleutnant, von Fräulein Brüsselbach, dem Schwarzen und von Bernhard gesprochen, daß der Arzt sich mehrfach dadurch bewogen fand, nachzuforschen, ob auch wohl äußere Einflüsse mit dazu beigetragen hätten, mich in meinen hoffnungslosen Zustand zu versetzen.

Die vollständige Entkräftigung hinderte mich zunächst, mich anhaltend mit der mir von meinem Vormunde entgegengeschleuderten Beschuldigung zu beschäftigen, und als meine Kräfte und die Tätigkeit meines Geistes endlich wieder zurückkehrten, da suchte ich ohne Hast und Übereilung zu ergründen, von wem wohl ein so verderblicher Einfluß auf mein und Johannas Lebensglück ausgeübt sein möge.

Je mehr ich grübelte, desto mehr Nahrung erhielt mein Argwohn gegen Bernhard, und zum ersten Male fragte ich mich, ob die Ratschläge eines Mannes aufrichtig gemeint gewesen sein könnten, der, wie Bernhard damals am Godesberger Mineralbrunnen, seine Blicke mit einem so sprechenden Ausdruck unversöhnlichen Hasses in meine Augen gesenkt hatte.

Damals, als mich nur rosige Hoffnungen erfüllten, hatte ich seinen Blick des Hasses schnell wieder vergessen. Jetzt aber dachte ich anders darüber; es wollte mir scheinen, als ob Bernhard, indem er mit seiner ungewöhnlichen Überredungsgabe mich in die demagogischen Umtriebe verwickelte und dafür Sorge trug, daß ich mich öffentlich kompromittierte, ein mit vieler Überlegung und schlau eingefädeltes Verfahren gegen mich beobachtet hatte, um einem vielleicht aus Religionseifer entspringenden Gefühl des Hasses zu fröhnen. Hatte er selbst sich doch stets den Rücken frei gehalten und nie eine Blöße gezeigt, die als Handhabe zur Anklage gegen ihn hätte dienen können.

Unerklärlich war es mir dagegen, warum er auch Johanna kalten Blutes mit in das Verderben hinabriß; Johanna, diese unschuldige, reine Seele, diese Heilige, die als halbe Landsmännin von ihm weit eher auf seine warme Teilnahme Anspruch gehabt hätte.

»Johannas Mutter stammte aus Italien, Bernhard ist ein Italiener,« grübelte ich, »sollte da nicht eine Verkettung mit frühern Zeiten und Umständen möglich sein?« Weiter drang ich mit meinen Mutmaßungen nicht durch; an diesem Punkte scheiterte mein Scharfsinn, und vergeblich trachtete ich, das hinter demselben in chaotischem Durcheinander Liegende zu enträtseln. Das Mißtrauen, das in meiner Brust Wurzel geschlagen hatte, genügte indessen, meine Gedanken immer und immer wieder auf diese Frage zurückzulenken. –

So schlichen mir die Tage in dumpfem, unheimlichem Brüten dahin. Die Außenwelt gewann für mich in der Erinnerung eine trübere, nebelhaftere Färbung. Sogar die schmalen Streifen am Himmel, auf die sich früher meine Augen so oft und so sehnsuchtsvoll richteten, verloren allmählich ihren Reiz für mich.

Einmal hatte ich versucht, in brieflichen Verkehr mit dem Oberstleutnant zu treten und ihn angefleht, mir Nachricht über Johanna zu geben. Als ich aber meinen Brief unerbrochen zurückerhielt, begriff ich, daß alle meine ferneren Versuche sich als ebenso nutzlos ausweisen würden.

Meinen Kummer mit einem Gemisch von Grimm und Ergebung in meine Brust verschließend, lebte ich von da ab, ohne die Zeit zu berechnen oder irgendeine schwache Hoffnung für die Zukunft zu nähren, ich lebte gewissermaßen wie ein vernunftloses Geschöpf in den Tag hinein.

Sechs Monate meiner lebenslänglichen Haft waren bereits verstrichen; beim Rückblick eine kurze Zeit, nach meinem Gefühl viel kürzer als jeder einzelne Tag, den ich noch verleben sollte.

Es war in der Dämmerungsstunde; ich hatte mich auf mein Lager gesetzt und, den Kopf schwer auf beide Hände stützend, versuchte ich, mich in einen Mittelzustand zwischen Wachen und Schlafen hineinzudenken. In meinen Betrachtungen störte mich das Geräusch, mit dem die Riegel von der Tür entfernt wurden.

Die Tür öffnete sich, ein heller Lichtstrahl drang zu mir herein und gleichzeitig vernahm ich des Schließers höfliches »dort sitzt er«.

Gleich darauf trat ein Mann mit festen Schritten zu mir heran und erfaßte mit prüfendem Griff meinen rechten Arm oberhalb des Handgelenkes, während seine andere Hand sich in die meinige legte und dieselbe heftig und bezeichnend drückte.

Ich wollte emporspringen, doch wurde ich niedergehalten, und als ich meine Blicke auf den seltsamen Ruhestörer richtete, sah ich in das mir vollständig unbekannte Gesicht eines ältlichen Herrn, der wieder mit dem Ausdruck wohlwollender Teilnahme zu mir niederschaute.

»Was verschafft mir die Ehre –?« fragte ich verwirrt.

»Nur ruhig, nur ganz ruhig,« unterbrach mich der Fremde in freundlichem Tone, und wiederum fühlte ich den heftigen Händedruck, »Sie dürfen sich unter keiner Bedingung aufregen, jede Aufregung kann ihrer Krankheit eine tödliche Wendung geben.«

»Aber ich bitte Sie,« entgegnete ich noch verwirrter, »es muß ein Irrtum obwalten –«

»Schließer, haben Sie die Güte und leuchten Sie hierher,« wendete er sich zu seinem an der Tür stehenden Begleiter, meine Worte offenbar absichtlich überhörend.

Der Schließer kam und leuchtete mir ins Gesicht, während der Arzt, denn ein solcher konnte es nur sein, noch immer meinen Puls prüfte und zum dritten Male meine Hand drückte.

»Ruhig, ich bitte Sie dringend, leider ein Rückfall,« wendete er sich dann mit unterdrückter Stimme an den Schließer, »sehen Sie diesen verstörten, leeren Blick, diese fieberhafte Röte; ein wahres Glück, daß ich, indem ich unten vorbeiging, sein Toben vernahm. Blieb er diese Nacht hilflos hier liegen, so war er verloren. Fühlen Sie sich noch stark genug, ohne fremde Hilfe die kurze Strecke nach dem Lazarett zurückzulegen?« fragte er darauf, indem er sich zu mir niederneigte, »nein, gut, ich dachte mir es schon,« fuhr er fort, ohne meine Antwort abzuwarten; »Schließer, gehen Sie doch und holen Sie Hilfe, damit wir ihn sogleich fortbringen können, wir haben keine Minute zu verlieren.«

Der Angeredete stellte den Leuchter auf den alten Bretterstuhl und entfernte sich schleunigst; kaum aber war er aus der Türe getreten, so neigte der Arzt sich wieder zu mir nieder.

»Herr Wandel,« flüsterte er geheimnisvoll und dringend, »es handelt sich um ihre Freiheit; Sie müssen mehrere Tage sehr krank sein; unbekannte Freunde wollen Ihnen zur Flucht verhelfen.«

»Wer?« fragte ich leise, und mein Puls schlug jetzt wirklich, wie im stärksten Fieberparoxysmus.

»Fragen Sie nicht, um Gotteswillen! Wollen Sie uns alle unglücklich machen? Ich werde Sie anstelle des auf kurze Zeit und auf Ihrer Freunde Veranlassung verreisten Gefängnisarztes behandeln. Wenn Ihnen um ihre Freiheit zu tun ist, so sprechen Sie nichts anderes, als was ich Ihnen in den Mund lege, und handeln Sie pünktlich so, wie ich es Ihnen in Form von ärztlichen Anordnungen vorschreiben werde. Rasen sie, toben und phantasieren oder schlafen Sie ununterbrochen; tun Sie, was Sie wollen, nur schwer krank müssen Sie sein und über die furchtbarsten Kopfschmerzen und unerträgliches Gliederreißen klagen – und nun versuchen Sie noch einmal aufzustehen,« fuhr er in plötzlich verändertem Tone fort, als der Schließer sich mit zwei Männern und einer Tragbahre näherte; »so – so – es geht schon besser, nun stützen Sie sich fest auf meine Schulter, hier herum, ihr Leute; aber recht vorsichtig, wenn ich bitten darf.«

Die Leute folgten dem an sie ergangenen Befehl, und ganz in die Zelle eintretend, stellten sie die mit einer Matratze bedeckte Bahre neben mich, worauf der Arzt mich auf dieselbe niedergleiten ließ.

»Wo haben Sie die größten Schmerzen?« fragte er dann.

»Im Kopf und in den Gelenken,« versetzte ich flüsternd und zugleich vor Verwirrung und Angst die Augen schließend.

»Hm, hm, gerade wie ich vermutete,« murmelte der Arzt, indem er den Kopf bedenklich schüttelte und wieder nach meinem Puls griff. »Ja ja, eine schwere Krisis ist im Anzuge, keine Minute dürfen wir verlieren,« und dann den Leuten ein Zeichen gebend, daß sie ihre Last aufheben sollten, schritt er, meine Hand fortwährend in der seinigen haltend, neben der Bahre her bis in das für mich bestimmte Zimmer.

Nachdem den in solchen Fällen üblichen Formen und Vorschriften genügt worden war, untersuchte der Arzt mich noch einmal sehr aufmerksam. Meinen Wächtern schärfte er die größte Gewissenhaftigkeit bei der Verabreichung der von ihm selbst angefertigten Arznei ein, die, wie ich herauszuschmecken glaubte, aus dem vorzüglichsten Madeira bestand. Auch befahl er ihnen, sobald ich in Raserei verfallen sollte, nach ihm zu schicken, und als er dann noch einmal sein Ohr an meine Lippen gelegt, wie um auf meinen Atem zu lauschen, in der Tat aber, um mir das Wort »Mut« zuzuflüstern, entfernte er sich mit dem Versprechen, mich am folgenden Morgen in aller Frühe besuchen zu wollen.

Erst als ich mich mit meinen beiden Wächtern allein befand, gelang es mir, meine Gedanken notdürftig zu sammeln. Die Verwirrung, in der ich so lange geschwebt hatte, war mir zustatten gekommen, sodaß ich mich nur mechanisch und wie ein Trunkener bewegt hatte. Die darauf folgende Ruhe und der Umstand, daß ich wie betäubt, mit geschlossenen Augen dalag, dienten jetzt dazu, meine Wärter zu beruhigen, so daß sie sich gegen Mitternacht mit einem »Gott sei Dank« auf ihren Stühlen ausreckten und ein Stündchen zu schlafen suchten.

Mich selbst ließ die Aufregung nicht zum Schlaf kommen; ich verhielt mich indessen still bis zum Morgen, und eine unbeschreibliche Beruhigung gewährte es mir, als endlich der Arzt eintrat und sich bei den Wärtern in geschäftsmäßiger Weise erkundigte, wie ich die Nacht verbracht habe.

Mit einem wohlwollenden Lächeln meinen Puls prüfend, setzte er sich neben mein Lager hin. Teilnehmend fragte er nach diesem und jenem, mehrfach zustimmend nickend, und dann wieder bedenklich die Achsel zuckend.

»Ich finde Sie besser,« sagte er dann so laut, daß die Wärter seine Worte verstanden, »viel besser, als ich Sie zu finden erwartete. In den nächsten vier Tagen werden Sie aber das Bett unbedingt nicht verlassen dürfen; denn fühlen Sie den Tag über Ihren Kopf auch freier, so bezweifle ich doch nicht, daß gegen abend das Fieber sich wieder einstellt. Am Tage wird daher ein Aufwärter bei Ihnen genügen; sprechen Sie aber so wenig wie möglich, am besten ist es, Sie sprechen gar nicht, und bemühen Sie sich, alle aufregenden Gedanken von sich fernzuhalten.«

Bei diesen Worten drückte er mir bezeichnend die Hand, ich dankte mit leiser Stimme für seine Güte, und dann empfahl er sich mit einem freundlichen Kopfnicken.

Mein am Tage und in der kommenden Nacht zu beobachtendes Benehmen hatte der Arzt mir also vorgeschrieben und auch noch eine Erneuerung der schon erwähnten Arznei hinzugefügt.

Selbstverständlich leistete ich pünktlich Folge. Ich schlief, ich fieberte, ich phantasierte und schlief wieder, und als es dann aufs neue Tag wurde, bekam ich abermals meine Verhaltungsregeln für die nächsten vierundzwanzig Stunden.

Am neunten Tage endlich erhielt ich die Andeutung, daß die Stunde der Entscheidung nahe und ich mich bereit zu halten habe.

Nachdem nämlich der Arzt in der Frühe sich von den Wärtern den gewöhnlichen Bericht hatte erstatten lassen und sich sehr zufrieden über den Verlauf der Krankheit ausgesprochen hatte, wendete er sich mir zu.

»Ich gratuliere zur baldigen Genesung,« sagte er, bei welchen Worten ich fühlte, wie mir das Blut bis in die Schläfen hinaufstieg.

Die stumme Äußerung meiner Freude mußte ihm aber gefährlich scheinen, denn er mahnte mich durch einen Blick zur Vorsicht, und mir die Hand auf die Brust legend, fuhr er fort: »Sie sind jetzt außer Gefahr; nur behutsam und vorsichtig müssen Sie sein. Ein Rückfall, und Sie sind, nach menschlicher Berechnung, verloren. Sollten Sie vielleicht während des Restes der Nacht einige Unruhe empfinden, so suchen Sie dieselbe niederzukämpfen, und seien Sie überzeugt, daß Sie sich morgen sehr gekräftigt von ihrem Lager erheben werden.«

Er drückte mir noch einmal herzlich die Hand, worauf er mit seinem eigentümlichen herablassenden Kopfnicken gegen die beiden Wärter schied.

 


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