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In demselben Augenblick, in dem ich Werkers Aufmerksamkeit nach den ausgespannten Büffelhäuten hinüberlenkte, mußte er das verdächtige Geräusch gehört haben, denn er ergriff meine Hand, und indem er sie krampfhaft drückte, schob er mich tiefer in meine Zelle zurück. Er bedachte nicht, daß sich unser gegenseitiges Verhältnis seit meiner Befreiung geändert hatte und mir, als dem Jüngeren, Kräftigeren und Gewandteren, jetzt wenigstens ebenso sehr oblag zu handeln wie ihm selber. Gleich darauf mußte er das aber einsehen, denn als ich mich dennoch an ihm vorbeidrängte und, nachdem ich das Messer aus seinem Gurt gezogen, mich vornüber neigte, um den eigentlichen Grund der Störung zu erspähen, da verhielt er sich ganz ruhig, nur daß er, wie um mich zur Vorsicht zu mahnen, seine Hand auf meine Schulter legte.
Glücklicherweise befanden wir uns im Schatten der schmalen Querwand meines abgesondert und kastenartig eingerichteten Gefängnisses, dessen Türöffnung nach der Tür der Hütte zu mündete. Der Schein des düster brennenden Feuers konnte mich also nicht blenden und ebensowenig verraten, und indem ich scharf hinüberspähte, gelang es mir allmählich, die einzelnen Gegenstände hinter dem innern Vorhange, wo noch immer eine letzte Spur der gedämpften Beleuchtung bemerkbar war, voneinander zu trennen.
Besorgnis empfand ich kaum, meine geistigen Kräfte vereinigten sich nur dahin, jeder Gefahr rechtzeitig zu begegnen und trotz aller sich uns entgegenstellenden Hindernisse dennoch unsere Flucht und zwar in Werkers Begleitung auszuführen.
Endlich, nach längerem Harren, gewahrte ich, daß die innere Büffeldecke, die von einer quer durch die Hütte gezogenen Leine wie ein Vorhang niederfiel, sich leise bewegte und nahe dem Erdboden behutsam emporgehoben wurde.
Der voll auf die Decke fallende Feuerschein gestattete mir sogar, eine Hand zu entdecken, die den Vorhang gerade hoch genug hielt, um einen Menschen bequem drunter hindurchspähen zu lassen.
Nach Verlauf einiger Minuten schob sich mit kaum wahrnehmbarer Bewegung neben der braunen Faust ein schwarz behaarter Kopf in den Schein des Feuers, und ich erkannte die unheimlich glühenden Augen und die grimmigen Züge Blackbirds, meines Todfeindes.
Offenbar galt sein Spähen dem Medizinmanne, den er auf der andern Seite des Feuers in tiefen Schlaf versunken glaubte, und deutlich bemerkte ich in seinem hochrot gefärbten Antlitz den wilden Triumph, den er darüber empfand, daß in der Hütte sich niemand rührte.
Werker hatte nämlich, als er sich zu mir begab, seine Decke, die er nach indianischem Brauch als Mantel trug, abgelegt und so über einige Reiser und Holzscheite hingeworfen, daß dadurch eine täuschende Ähnlichkeit mit einem unter der Decke ruhenden Menschen entstand.
Für Blackbird aber wurde die Ähnlichkeit dadurch noch vergrößert, daß gerade vor dem Feuer und in Armeslänge von der Decke das aufgerollte Manuskript lag, als wenn Werker während des Lesens in demselben von Müdigkeit übermannt worden wäre und sich zum Schlaf hingestreckt hätte.
Alles dieses sah und erfaßte der Indianer mit Gedankenschnelligkeit, und der hämische Ausdruck, der über seine Züge flog, bekundete, daß die Erwartungen, mit denen er in die Hütte eingedrungen war, noch übertroffen wurden.
Vorsichtig zog er bald darauf den Kopf wieder zurück und ebenso vorsichtig ließ er die Büffelhaut niedersinken.
Was er eigentlich bezweckte, erriet ich erst, als er nach kurzer Zeit an dem mir am entferntesten Ende des Vorhangs erschien, und, um diesen herumkriechend, sich unhörbar dem Feuer zu bewegte.
Behutsam lugte ich um die Ecke meines Gefängnisses; ich sah den halbnackten Krieger, wie er einer Schlange ähnlich dahinglitt, ich sah die aufgebauschte Decke, zugleich aber auch bemerkte ich die geöffnete Papierrolle, die die nahe Kohlenglut greller als alle übrigen Gegenstände beleuchtete.
Freier atmete ich auf, sobald ich überzeugt war, daß Blackbird nur danach trachtete, das Manuskript heimlich an sich zu bringen, denn als er das Feuer erreicht hatte, kroch er nicht um dieses herum, sondern streckte nur seine Hand nach der Papierrolle aus, und nachdem sie in seinem Besitz war, begann er sogleich wieder rückwärts zu kriechen, die von ihm in dem staubigen Erdreich zurückgelassenen Spuren sorgfältig mit den Händen verwischend.
Wieder hinter dem Vorhang angekommen, säumte er nur so lange, wie erforderlich war, das für ihn unschätzbare Zauberpapier auf seinem Körper zu verbergen und die weite wollene Decke, die er zurückgelassen hatte, um seine Schulter zu schlingen, worauf er leise und gewandt wie ein Marder auf Schanhattas Zelle zuschlich.
Schanhattas Zelle, die der meinigen in der Entfernung von höchstens sechzehn Fuß gerade gegenüberlag, war nur durch Anlehnen einiger loser Holzscheite abgeschlossen worden.
Die leidenschaftliche Aufregung, in die Blackbird bei dem Forträumen der Holzstücke geriet und die ihn daran hinderte, mehr auf seine persönliche Sicherheit bedacht zu sein, machte ich mir zunutze, denn noch war die Türöffnung nicht ganz frei, da stand ich bereits im undurchdringlichen Schatten hinter der ausgespannten Büffelhaut, also ziemlich in der Mitte zwischen den beiden Zellen und zugleich nahe genug bei dem Indianer, um ihn mit einem einzigen Sprunge erreichen zu können. Ich wartete sodann nur noch darauf, daß Werker, der auf einen Wink von mir nach dem Feuer hingeschlichen war, durch das Entzünden einer Anhäufung von dürren Reisern und leicht brennbarer, hanfartiger Pappelweidenrinde eine plötzliche Helligkeit verbreiten sollte.
Werker, dadurch begünstigt, daß die Ecke von Schanhattas Zelle dem schwer und tief atmenden Indianer die Aussicht nach dem Feuer raubte, löste seine Aufgabe so geräuschlos und mit einer solchen Gewandtheit, wie man es dem frühzeitig alt und morsch gewordenen Körper kaum zugetraut hätte; und erst ganz zuletzt, als er die knisternden Reiser ergriff und sie auf die eben aufflackernde Baumrinde legte, beugte Blackbird sich um die Ecke von Schanhattas Gefängnishöhle herum, um sich zu überzeugen, inwieweit der nach seiner Meinung erwachte Medizinmann ihn in seinem Vorhaben stören würde.
Diesen Augenblick nun hatte ich ängstlich erwartet, um handelnd einzuschreiten. Um nicht im freien Gebrauch meiner Hände gehindert zu sein, nahm ich das von Werker entlehnte Messer zwischen die Zähne, und darauf meinem Oberkörper einen heftigen Schwung gebend, gelangte ich, trotz meines steifen Kniegelenkes, blitzschnell bis dicht hinter den siegesbewußten Indianer. Eh' dieser sodann Zeit gewann, sich nach dem von mir erzeugten Geräusch umzuwenden, hatte ich ihn umklammert, und zwar so, daß er weder seine Arme noch seine Hände zu rühren, am allerwenigsten aber nach seinen Waffen zu greifen vermochte.
Wohl versuchte er, durch eine plötzliche gewaltige Bewegung seinen nackten glatten Oberkörper meinen Armen zu entwinden, allein ebenso leicht hätte er die ganze Hütte über uns niedergerissen. Denn einesteils war ich ihm an Körperkräften weit überlegen, dann aber auch war das Bewußtsein, daß mein Leben und mit diesem Schanhattas und ihres Vaters Geschick von meiner Ausdauer und meinem schließlichen Siege abhänge, mir ein mächtiger Bundesgenosse.
Niemand begriff dies besser als Blackbird selbst, denn als die Reiser hoch emporflammten und er, über die Schulter zurückblickend, mir gerade in das Gesicht schaute, da schienen seine Sehnen plötzlich zu erlahmen, und während seine Augen sich vor Haß und Wut aus dem Kopf drängten, glitt ein leiser Laut des Erstaunens über seine schmalen Lippen.
Seine Eitelkeit und sein Stolz hielten ihn ab, durch einen Aufschrei die außerhalb der Hütte befindlichen Wachen herbeizurufen, denn lieber wäre er gleich in meinen Armen gestorben, als daß er die jungen Krieger zu Zeugen seiner Schmach, von einem weißen und obendrein halb lahmen Jäger überlistet zu sein, gemacht hätte.
»Mein weißer Bruder ist sehr listig,« sagte er leise, und ich gewahrte, daß seine rechte Hand verstohlen nach dem Messer in seinem Gurt suchte, »er hat eine glatte Zunge, will er etwa noch die alte häßliche Blackfoot-Squaw zum Weibe nehmen?«
Ich schwieg, denn um zu sprechen, hätte ich meine Waffe fallen lassen müssen. Als Blackbird aber, im Vertrauen darauf, daß er meine Vorsicht eingeschläfert habe, mit einer hastigeren Bewegung sein Messer zu erreichen trachtete, warf ich ihn zur Erde nieder, und mit meinem gesunden Bein auf seinem linken Arm kniend, seinen rechten dagegen mit meiner linken Hand haltend, setzte ich ihm die Spitze meines Messers auf die Kehle.
Hatte mein unerwarteter Angriff Blackbird in Erstaunen versetzt, so schien er seinen Augen nicht zu trauen, als plötzlich Werker mit einem flackernden Feuerbrand erschien, und anstatt sich feindlich gegen mich zu kehren, mit allen Zeichen freundschaftlicher Übereinstimmung flüsternd eine Frage an mich richtete.
Was er mich fragte, begriff der Indianer bald genug, denn Werker löste den Gurt von seinen Hüften, und nachdem er dem Häuptling ein zusammengerolltes Stück Leder zwischen die Zähne geschoben hatte, befestigte er diesen Knebel mittelst seines Gürtelschals derart, daß der Indianer eben nur noch so viel Luft einatmen konnte, wie zum Leben erforderlich war. Sodann schnürten wir ihm mittelst zäher und scharf in das Fleisch einschneidender Riemen die Hände auf dem Rücken zusammen, und erst als wir mit seinen Füßen in gleicher Weise verfahren waren, gönnten wir uns einige Minuten Zeit, um über die nächste Zukunft zu beraten.
Werker erklärte sich jetzt mit meinem Plan vollkommen einverstanden, und wenn er noch irgendwelche Bedenken hinsichtlich dessen Ausführbarkeit gehegt hätte, so wären sie geschwunden, als er beobachtete, mit welcher Schnelligkeit ich den Häuptling unschädlich machte.
Nachdem wir Schanhatta von ihren Banden erlöst hatten, nahm ich den Federbusch von Blackbirds Haupt; Werker befestigte ihn auf meinem Scheitel zwischen den langen Haaren, die sich dadurch in der Dunkelheit kaum von dem kriegerisch geschmückten Skalp eines Indianers unterschieden; Blackbirds Messer und Tomahawk wanderten ebenfalls in meinen Gurt, und als ich darauf des Häuptlings blaue wollene Decke um meine Schultern geworfen hatte, glich ich einem eingeborenen Krieger vollständig.
Danach schleppten wir Blackbird in meinen Kerker, legten ihn dort auf das Gesicht nieder, und nachdem wir die Türöffnung fest verrammelt hatten, machten wir uns reisefertig.
Von dem Augenblick an, als ich Blackbirds ansichtig wurde, bis zu dem Zeitpunkt, in dem ich den letzten Stein vor die Türöffnung wälzte, war kaum eine halbe Stunde verstrichen. Der größte Teil der Nacht lag also noch vor uns, denn als wir unter den Vorhängen hindurch ins Freie hinaustraten, konnte es kaum eine Stunde nach Mitternacht sein.
Nur wenig Schritte von der Hütte entfernt glimmte ein kleines vernachlässigtes Feuer; drei Krieger, denen die Wache übertragen worden war, lagen vor demselben. Einer von ihnen schien zu schlafen, während die andern beiden leise miteinander plauderten. Alle drei hatten Blackbird in die Hütte schleichen gesehen, es konnte sie also nicht befremden, daß er die Hütte auch wieder verließ.
Alles ging denn auch nach Wunsch. Werker hielt sich so, daß der Schatten seiner Gestalt mich und Schanhatta traf, und als er bemerkte, daß die Wächter verwundert nach uns aufschauten, trat er noch einmal zu ihnen ans Feuer.
»Die jungen Leute müssen scharfe Wache halten,« redete er sie an; »der bleiche Jäger ist listig; er kann zwischen der Hütte und dem Feuer hindurchschlüpfen, ohne daß die jungen Krieger ihn bemerken. Es ist besser, sie rücken ihr Feuer näher an die Hütte heran. Dort geht Blackbird; es ist dem Häuptling gelungen, das Mandanen-Mädchen für sich zu gewinnen. Die junge Squaw folgt ihm in sein Wigwam. Ich begleite ihn, und keine Augen befinden sich mehr in der Medizinhütte, um den weißen Jäger zu bewachen. Legen sich die jungen Leute daher dicht vor die Türöffnung nieder; es darf niemand hinein, die Seele des fremden weißen Jägers muß vorher in die eines Weibes umgewandelt werden.«
Die Wächter gaben eine zustimmende Antwort, und nach einigen Minuten befand sich Werker wieder an meiner Seite.
Das Flüßchen, das die Richtung unserer Flucht bezeichnete, war nur eine kurze Strecke von uns entfernt. Wir wagten indessen nicht, uns ihm zu nähern, aus Besorgnis, daß unsere Absicht entdeckt werden könne. Begegneten uns wirklich noch Leute, so mußten sie mich für Blackbird halten, darum begaben wir uns nach dem Zelt des Häuptlings, das am äußeren Ende des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe stand.
Es war matt erleuchtet, da der Häuptling vor seinem Aufbruch noch einige feste Holzblöcke in die Feuerhöhle gewälzt hatte, daher gelang es mir noch, meine Büchse und Blackbirds wohlgefüllte Kugeltasche herauszufinden.
Auf weitem Umwege gelangten wir an das Flüßchen, an dem ein schmaler Pfad hinlief, und so schnell ich mit meinem lahmen Fuß nur auszuschreiten vermochte, entfernten wir uns von dem Dorfe der Blackfeet.
Jeannette, wie ich meine treue Mandanen-Waise seit jenen Tagen nannte, hatte während der ganzen Zeit kaum eine Silbe gesprochen. Ebenso waren Werker und ich zurückhaltend in den Äußerungen unserer Gefühle gewesen.
Erst als wir bald nach Sonnenaufgang bei den Pferden eintrafen und Werker darauf bestand, daß Jeannette und ich die Flucht allein fortsetzen und ihn seinem Schicksal überlassen sollten, wurden wir wieder lebhafter.
Da machte ich denn auch Jeannette die Mitteilung, in welchem Verhältnis der fremde Medizinmann, dem wir unsere Rettung verdankten, zu ihr stehe.
Die Szene verlief ruhiger, sogar wohltätiger, als ich je zu erwarten gewagt hätte.
»Ich wußte, daß er mein Vater sei,« sagte Jeannette, ihre großen, frommen Augen mit einem Ausdruck inniger Freude und Dankbarkeit bald auf mich, bald auf Werker richtend; »ich wußte es, als er seine Hand auf meine Stirn legte und zu mir sagte: ›meine Tochter, ich will dich retten‹. Nur mein Vater oder mein Gebieter konnte in einem solchen Tone zu der von aller Welt verlassenen Waise sprechen; seine Stimme war die des Schwans, der das zerstörte Nest umschwebt und nach seinen Kindern ruft.«
»Und du nanntest mich nicht, du sagtest mir kein Wort?« fragte Werker mit bebenden Lippen, indem er den Federschmuck von seinem Haupte riß und unter die Füße trat.
»Durfte ich?« entgegnete Jeannette mit rührender Einfachheit und einem schüchternen, holdseligen Lächeln; »ich fürchtete, gegen den Willen meines Vaters und desjenigen zu handeln, der mir so lange Vater und Beschützer gewesen war. Hätten Sie es für ratsam gehalten, Sie würden es mir längst mitgeteilt haben. Mein Herz klopfte laut, aber mein Kopf beschwichtigte es; mein Vater hatte zu mir gesagt: ›Geduld‹.«
»Ja, mein Kind, ich bin dein Vater,« versetzte Werker bewegt, »und du magst mich immerhin so nennen; ja, nenne mich Vater, nur ein einziges Mal, und dann besteigt eure Pferde und entflieht. Sei ihm treu, Jeannette, sei ihm treu, und wenn die Zeit dereinst kommt, in der du heiter lächelnd der Tage gedenkst, in denen du für ein armes Indianermädchen galtest, dann gedenke auch desjenigen, der dich einst unter Freudentränen als sein liebes Kind auf seinen Armen wiegte. Aber fort jetzt, fort, ich, dein Vater, verlange es von dir, fort, die Zeit enteilt und das Unglück schläft nicht!«
Mit Spannung harrte ich der Antwort entgegen, die Jeannette ihrem Vater erteilen würde. Es war ja eine Probe von ihrer Denkungsweise, von ihrem Charakter, die das ungeschulte Naturkind ablegen sollte, eine Probe, nach der ich den Wert der in ihrer Brust schlummernden Keime zu bemessen imstande war. Doch meine kühnsten Erwartungen wurden noch übertroffen.
»Du bist mein Vater und ich bin deine Tochter,« sagte Jeannette, indem sie dicht zu Werker herantrat und seine Hand auf ihr Haupt legte; »ich weiß, wohin eine Tochter gehört; dort steht das Pferd, besteige es und folge dem Rate meines bisherigen Gebieters. Willst du nicht, so bleibe ich bei dir; mein Gebieter wird nicht von meiner Seite weichen, und die Pferde mögen die Flucht allein und unbeschwert fortsetzen. Vater, bestimme über das Geschick deiner Tochter; meine Ohren sind offen, und ich bin bereit, deinen Wünschen Folge zu leisten.«
Etwa eine Minute stand Werker sprachlos da; Träne auf Träne rollte ihm über die gefärbten, eingefallenen Wangen. »Meine Tochter, ich schäme mich dir gegenüber meiner unwürdigen Verkleidung,« preßte er endlich heraus, einen Kuß auf des treuen, ergebungsvollen Kindes Stirne drückend, »aber fort, jetzt fort, ich füge mich in deinen Willen; wer weiß, der Abend meines Lebens mag mich entschädigen für das, was ich in frühern Jahren erdulden mußte.«
Mit diesen Worten schwang er sich auf den leichten, ursprünglich für Jeannette bestimmten Renner, Jeannette und ich bestiegen den andern, und in wildem Galopp folgten wir dem Flüßchen stromabwärts dem Missouri zu.
Wann und wie Blackbird aus seiner hilflosen Lage befreit wurde, erfuhr ich nie. Wahrscheinlich aber verstrich der größte Teil des Tages, eh' man Argwohn gegen das dringende Gebot des abwesenden Medizinmannes schöpfte und das Gefängnis öffnete. Wir wurden nicht verfolgt; wenn man uns aber nachsetzte, war der Aufbruch zu spät erfolgt.
Die andern beiden Pferde, die Werker am vorhergehenden Tage vorausgebracht hatte, fanden wir nach zweistündigem scharfen Ritt glücklich auf der bezeichneten Stelle vor. Anstatt sie aber sogleich zu besteigen, rasteten wir eine kurze Zeit, worauf Jeannette das rüstigste der schon gerittenen übergeben wurde, und Werker und ich die beiden frischen nahmen. Auch das vierte Pferd führten wir noch mit, und wir brauchten dadurch, daß die Tiere abwechselnd unbeschwert mitliefen und gewissermaßen rasteten, unsere Eile nicht zu vermindern.
Nachdem wir in dieser Weise vier Tagemärsche zurückgelegt hatten, mäßigten wir unsere Hast, und nach vier weiteren Märschen erreichten wir wohlbehalten den Missouri, wo wir uns als gerettet betrachten durften.
Auf der ersten Handelsstation, an der unser Weg vorbeiführte, kehrten wir ein, um uns für die Weiterreise angemessen auszurüsten, wozu mir, da man mich kannte, mit größter Bereitwilligkeit der notwendige Kredit gewährt wurde.
So erreichten wir denn auch glücklich die bekannte Mission, wo die Wintermonate uns schnell genug vergingen. Für unsere Zwecke zu schnell, denn der segensreiche Einfluß, den der brave Geistliche und seine Familie auf Jeannette ausübten, wodurch ihr schnelles Fortschreiten auf dem Wege der Bildung außerordentlich befördert wurde, trat mit jedem neuen Tage deutlicher hervor.
Als wir aber mit dem Erwachen des Frühlings die freundliche Mission verließen, war die christlich getaufte und eingesegnete Jeannette Werker meine Gattin.
Wir wendeten uns stromabwärts, denn, da ich durch die in meinem Knie zurückgebliebene Schwäche untauglich für die schweren Arbeiten eines Grenzansiedlers geworden war, hatte ich den Entschluß gefaßt, mit den paar hundert Dollars, die ich gerettet hatte, in der Nähe einer größeren Stadt eine Gärtnerei anzulegen.
Das Glück war mir günstig; noch in demselben Sommer erstand ich mit einer geringen Anzahlung dieses allen meinen Wünschen so vollständig entsprechende Grundstück, auf dem damals erst eine wenig umfangreiche Blockhütte errichtet worden war.
Der Vater meiner Jeannette blieb bei uns, und da wir alle drei nicht verwöhnt und außerdem mit manchem kleinen, die Arbeit und die Beschaffung der Lebensmittel sehr erleichternden Kunstgriff vertraut waren, so arbeiteten wir uns schnell genug empor.
Die ersten Jahre hindurch hatten wir mit manchen Schwierigkeiten, zuweilen sogar mit Entbehrungen zu kämpfen, als ich aber im vierten Jahre meine erste Weinlese hielt – ich war nämlich nicht bei der Gärtnerei allein stehengeblieben – da begannen Wohlstand und sogar Überfluß unsern glücklichen häuslichen Herd zu umgeben, und bald genug befand ich mich in der Lage, die Blockhütte in einen Stall verwandeln zu können, nachdem ich mir vorher nach einem von mir selbst gezeichneten Plan jenes Häuschen hatte bauen lassen.
Neue Jahre brachten neuen Segen, eine Verbesserung folgte der andern, bis endlich mein Grundstück sein jetziges Aussehen gewann. Ich besitze alles, was mein Herz sich wünscht. Wenn ich zuweilen nach vollbrachtem Tagewerk, mein treues Weib zur Seite, unsere einzige Tochter spielend vor uns, mein kleines Reich überblicke und den Segen gewahre, der offenbar auf unserer Hände Arbeit geruht hat und noch ruht, dann vermag ich mich kaum einer tiefen Rührung zu erwehren, und mit inniger, aufrichtiger Dankbarkeit gedenke ich desjenigen, der mir ein so glückliches Los zuwandte und seine Hand segnend über mir walten ließ. Schweifen aber meine Gedanken in die ferne Vergangenheit, dann geschieht es mit milden, versöhnlichen Gefühlen, frei von Haß und Rachedurst gegen die Menschen, die einst meine Jugendträume erbarmungslos durchkreuzten, frei von Vorwurf gegen die Vorsehung, daß die phantastischen Träume meiner Jugend sich nicht verwirklichten.
»Das wäre also der Schluß des Manuskriptes,« sagte Wandel nach kurzem Sinnen, indem er die Gläser frisch füllte und dann das eine emporhob; »Geduld im Unglück, Beharrlichkeit im redlichen Streben, Liebe unsern Freunden, Vergebung unsern Feinden und Demut, wenn das Glück uns lächelt.«
»Demut, wenn das Glück uns lächelt,« wiederholte ich Wandels letzte Worte, und laut und hell klangen die Gläser aneinander.
»Und Werker, der Vater Ihrer liebenswürdigen Gattin, gestatten Sie mir, nach ihm zu fragen?« hob ich an, nachdem wir die leeren Gläser wieder auf den Tisch gestellt hatten.
»Gewiß, gewiß,« erwiderte Wandel ernst, indem er sich erhob, welchem Beispiel ich folgte, »das Manuskript ist ja eigentlich so lange nicht vollständig, als noch Ungewißheit über das Endschicksal der einen oder andern in demselben erwähnten Person waltet.
Doch heute nicht mehr, wenn es Ihnen recht ist; ich muß ein Mittel in Händen haben, Sie noch einige Tage an meinen Herd zu fesseln, und bevor Sie meine ganze Lebensgeschichte bis auf den heutigen Tag kennen, werden Sie hoffentlich nicht an den Aufbruch denken?«
Eine Viertelstunde später ruhte ich auf einem bequemen, weiß überzogenen Lager. Durch das geöffnete Fenster strömte die erquickende Nachtluft zu mir herein und mit dieser das einschläfernde Geräusch des nächtlichen Tierlebens im nahen Waldesdickicht.
Sonst herrschte feierliche Stille ringsum; es war, als ob der Engel des Friedens seine Fittiche über das kleine Haus und dessen gute freundliche Bewohner ausgebreitet habe, um sie vor allem ferneren Unheil liebevoll zu bewahren und zu beschirmen.