Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Beide Herren begannen zu lachen. »Warum sind Sie eigentlich aufgestanden? Setzen wir uns. Nein, halt. Ich wollte ja etwas holen.«

»Was wollten Sie denn holen,« fragte Slim.

»Ah, tja, warten Sie mal … ich weiß es schon, mir kam's so vor, als hätten Sie einen Wunsch, dem ich gehorchen müßte. Ja ja, ich wollte Ihnen bloß Zigaretten verschaffen – um das Gespräch über Ihre Forschungen zu inspirieren …«

Er eilte auf den eisernen Kasten zu, der in die Wand eingelassen war, und Slim ließ ihn gewähren, während er ihn im Auge behielt. San Remo hielt vor dem Kasten inne, arbeitete an einem Gedanken und sah auf Slim zurück, der gerade in diesem Augenblicke zu einer Stelle an der Wand geschritten war und gedankenvoll mit den Fingern daran trommelte. San Remo griff schnell an einen Punkt ziemlich im Rücken des Kastens, stieß dann die Schlüssel ins Schloß und wälzte die dicke Stahlplatte über ihre Scharniere zurück. »Mein allerprivatester Fonds,« rief er aus und trug, als er schnell geschlossen und die Schlüssel zurückgezogen hatte, einen schlanken Karton zu Slim, der ihn wortlos herankommen ließ. »Indisches Kraut, bedienen Sie sich, Mister!«

»Danke,« sagte Slim und sah harmlos auf den Gesandten herab.

»Wie, Sie rauchen nicht!« rief dieser überrascht, förmlich als bedauere er, daß er dann diese ganze Prozedur vergeblich durchgeführt habe. »Sie wollten doch welche, dachte ich?«

»Ach wo, wie kommen Sie darauf!« fragte Slim belustigt.

San Remo sagte betreten: »Nun weiß ich nicht, ich hatte den Eindruck, Sie wünschten Zigaretten … nun, ich hatte wenigstens das Gefühl, als zitierten Sie mich zum Eisenschrank, und was kann dieser Eindruck anders gewesen sein, als meine eigene Auslegung des schlechten Gewissens, Sie ohne Erfrischung gelassen zu haben!«

Bei diesen Worten drückte er auf den Kopf einer elektrischen Klingel, es schellte in einem entfernten Teil der Appartements. Gleich darauf erhob sich hinter den Wänden des Zimmers, unbestimmbar wo, ein brüllender zynischer Lärm.

San Remo sah auf Jack Slim, der jetzt an der Wand lehnte und sich nicht bewegte; nur mit dem Knöchel der linken Hand klopfte er nachlässig einen Takt an die Mauer.

»Oh, das ist meine Menagerie,« rief San Remo lachend aus, »wollen Sie die Tiere sehen, es wird Sie interessieren. Ich habe sie aus Indien mitgebracht, leider ist mir der letzte eingeborene Wärter im letzten Winter gestorben und ich habe noch keinen neuen gefunden.«

Das Gekreische von verschiedenen Tierstimmen schwoll zu einem schrillen Gejaule an, als sich durch eine Tapetentür ein Lakai mit einem Servierbrett und Erfrischungen schob. Obwohl offensichtlich Europäer, war der Diener in Pantalons gekleidet nach orientalischer Manier. Er setzte die Silberplatte auf ein kleines Tischchen ab und verschwand wieder.

»Ein Talmi-Eunuche,« sagte Jack Slim scherzend, indem er ihm kurz aber scharf nachsah.

»Ja, die Domestikenfrage ist jetzt schwierig,« antwortete der Gesandte. »Sie haben sich organisiert, das Disziplinverhältnis ist unklar gelassen und, wie Sie wissen, gestatten diese modernen europäischen Hausgehilfen-Gewerkschaften den Import der viel zuverlässigeren persönlichen farbigen Diener nicht.«

Jack Slim sagte: »Dann sind Sie aber unvorsichtig, Sir. Wenn Sie unzuverlässige Domestiken haben, sind Sie in Ihrem eigentümlichen halborientalischen Diplomatenhause allerlei Kalamitäten ausgesetzt, vorausgesetzt, daß Sie nicht selbst eminent pünktlich und reserviert sind. Ich glaube, der Kasten dort hat sich aus der Wand gedreht; Sie haben vorhin eine Funktion daran vergessen.«

»Ach Gott, wo denke ich denn hin,« und San Remo schlug sich erschüttert an den Kopf. Er lief zu dem Schrank hin. Plötzlich blieb er stehen und sah wieder zu Slim hinüber, der von den Erfrischungen nahm. »Aber es stimmt doch. Ich habe doch abgesperrt!« versicherte er sowohl sich selbst als diesem.

»Ja, haben Sie ganz abgesperrt!« fragte Slim mit Betonung, aber gleichgültig für die Wirkung dieses Tonfalls, wie es schien, denn er langte noch ein Sandwich herbei.

»Die Tür sitzt fest,« sagte San Remo und blickte Slim an.

»Ja, die Tür sitzt fest?« antwortete Slim in demselben Tone.

»Zuversichtlich,« sagte San Remo und umarmte den Kasten in voller Breite, mit den Händen förmlich in dessen Rücken, wo er eingemauert war, langend, als wolle er sich von der Fruchtlosigkeit des Versuchs überzeugen, einen solchen Stahlklotz als Ganzes fortzutragen. Und da dieser deutlich von außen zugesperrt worden war, so konnte ihn jedermann höchstens nur als ein Ganzes in verbrecherische Absichten ziehen.

»Gut, gut,« sagte Slim, es offen lassend, ob er damit nicht die Qualität der dargebotenen Erfrischungen preise. San Remo hatte Schweißtropfen auf der Stirn, die er mit dem Sacktuch trocknete, und atmete nach dieser Anstrengung, Einbrecher an seiner eigenen Stahlkasse zu spielen, erleichtert auf.

»Merkwürdig,« sagte San Remo, »es war also doch die Kassa, die in meinem Kopfe spukte; eine Verdrängung, Reue über eine Vernachlässigung vereinigte sich in mir wahrscheinlich mit dem Bedürfnis, Ihnen aufzuwarten und ich verlängerte dieses Bedürfnis zusamt der Kassa in Ihre Absichten hinein. So war es. Ich hatte schon eine ganze Zeit her die undeutliche Empfindung, als übten Ihre Gedanken einen Druck auf mich aus. Es war nur diese Komplikation von zwei Unterlassungen, die einander substituierten.«

»In der Sache haben Sie recht. Suggestion als einen rein aggressiven Akt gibt es nicht. Aber in unserem Falle irren Sie doch. Zuerst hatten Sie doch ein schlechtes Gewissen, wie Sie das nannten, weil Sie mich vernachlässigt glaubten. Sie besannen sich und wollten mir Rauchwerk anbieten. Dabei vergaßen Sie wieder … nun, sie vergaßen, die Kassa … richtig zu sichern. – Nicht wahr? Beide Male spielte also die Kassa in Ihr Unterbewußtsein hinein, aber das erste-mal mit einem direkten Antrieb und das zweitemal mit einer Hemmung, so nennen das die Psychologen. Die spätere Unterlassung ist also die infiziöse Folge der ersten.«

»Ja, richtig. Wie kam es nun, daß ich diesen Zug zur Kasse so stark empfand? Das ist hochinteressant. Mit Ihnen ist man gleich immer in solche Gespräche verwickelt. – Wenn ich mich recht erinnere: ich wollte zur Kasse, weil ich an Ihrer, über die Fauteuillehne herabhängenden Hand die leere Geste des Zigarettenhaltens zu sehen glaubte … und in meiner Kasse hatte ich doch meine fabelhaften Indier …«

»Da sehen Sie,« lachte Slim, und seine Papillen wurden schalkhaft klein, »zum Schluß ertappen wir Sie noch auf einer Eitelkeit. Ich habe diese Fingerbewegung natürlich nicht im Entferntesten gehabt. Aber Sie empfanden schon die ganze Zeit her eine stille Spannung, Ihre fabelhaften Indischen an den Mann zu bringen … Sie dichten mir einen Zigarettenhunger und sich selbst ein schlechtes Gewissen an. Aber ich rauche doch gar nicht. Und warum fielen Ihnen die Erfrischungen erst an zweiter Stelle ein? Hm. Sie wollten erst Ihre Indischen loswerden. Zugleich hatten Sie aber irgendeinen seelischen Riegel vor dieser Handlung.«

San Remo war etwas betreten. »Woraus schließenSie das?«

»Weil Sie, nachdem Sie diesen … Riegel seelisch durchbrochen hatten, ihn … praktisch sogar offen ließen …«

»Ach so,« dehnte San Remo. Es entstand eine Pause. »Ich sehe wohl,« sagte er dann, »daß Sie Ihrem Rufe alle Ehre machen. Aber nun sagen Sie mir: ist die Kenntnis und Orientierung in diesen seelischen Grenzgebieten bloßer Scharfsinn und Phantasie oder gibt es sowohl ein Gedankenlesen als eine Gedankenübertragung?«

»Beides. Sie werden ja an meinen Seancen mit dem Medium Nitra teilnehmen, Sir. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß jede aggressive Suggestion unmöglich, und daß jede Wirkung auf Autosuggestion beruht. Fremde Eingriffe, selbst wenn man wie ich an die Unerforschtheit von zwischenpersönlichen Strahlen glaubt, sind immer irgendwie durch mehr oder weniger lückenlos geschlossene Gedankenreihen, also durch rein logische Wirkung zu erklären. Nehmen wir z. B. folgendes an: hier liegt ein Papiermesser – übrigens ein sehr kostbarer malayischer Kris, wie ich sehe – und nun wollte ich Ihnen einfach befehlen, sich das Messer hier an dieser Stelle oberhalb des Beckenendes, wie es die Asiaten beim Harakiri zu tun pflegen, in den Bauch zu stoßen. Sehen Sie, hier bei diesem Knopfe. Machen Sie kein so entsetztes Gesicht. Sie würden mich natürlich furchtbar auslachen. Das würden Sie doch, wie?«

San Remo setzte sich etwas schwach geworden in den Fauteuil und sagte beklommen: »Nja. Nun, auslachen würde ich Sie gerade nicht. Ich würde es nicht tun, freilich, die Aufforderung käme mir immerhin komisch vor. So überfallsartig kann man natürlich einem Menschen derartiges nicht suggerieren. Aber wenn man einen Menschen mit dieser Handlung sehr vertraut macht – ich habe oft seinerzeit in Asien das Harakiri erlebt. Und es schien mir immer, als vollzöge sich das unter einer sehr starken öffentlichen Suggestion …«

»So ist es,« sagte Slim in einem nicht mehr ganz gleichgültigen Tone. »Suggestion – wenn Sie darunter die systematische Verführung zur Selbstverführung verstehen. Es ist eine falsche Objektivation, die wir Europäer damit, unserer experimentellen, nach außen gerichteten Methodik folgend, anwenden. Das Willensleben und die Willenskraft sind bei jenen Rassen außerordentlich stark entwickelt. Ein Appell an diesen Willen hat Erfolg. Das ist alles.«

»Ich weiß. Das ist auch Ihre Erklärung des Fakirwesens. – Ich muß sagen, in diesem Gewebe von Seelenwirkungen liegt etwas Beunruhigendes. Die Beschäftigung mit solchen Dingen ist ein Aufenthaltsort für fixe Ideen. Wie denn, wenn Einer sich einbildet, er müsse das an sich Probieren … haha, und er fällt einem Gauner in die Hände, der diese Anlage bei ihm ausnützt …«

»Das wäre möglich,« sagte Slim und sah auf die Gemälde, die an den Wänden hingen; vielleicht hörte er auch auf die Tierstimmen, die dorther zu kommen schienen.

»Es ist jedenfalls beruhigend, daß Sie die eigenmächtige oder übermütige Willensübertragung für ausgeschlossen halten,« ergänzte San Remo und klappte geschwächt die Augenlider einen Moment lang nieder, nachdem er in die mädchenhafte Schönheit von Slims Augen geblickt hatte.

»Es ist aber auch möglich,« fuhr Slim lebhaft werdend fort, »daß man auf diese Weise den allerheilsamsten Einfluß auf Menschen wird geltend machen können. Einen absurden Befehl unmittelbar zu suggerieren, ist natürlich ausgeschlossen. Diese mystisch-mechanische Erklärung ist heute überlebt. Aber auch die rationale Auffassung des medialen Phänomens hat eine letzte vorläufig unerklärbare Voraussetzung. Zwischen dem Medium und dem Hypnotiseur muß eine Art übersinnlicher Beziehung bestehen, vom Hypnotiseur muß eine allgemeine gefällige Kraft ausgehen. Ich leugne nicht, daß diese übersinnliche Kraft nur eine fremde sinnliche sein mag. Sehen sie, ein banal oder häßlich aussehender Mensch kann niemals jene weiche Hingabe herausfordern, die als Voraussetzung dafür dient, einem Wesen, dem er Eindruck gemacht hat, nun auf die allernatürlichste und kausale Weise die Notwendigkeit einer Handlung fällig erscheinen zu lassen. Diese voraussetzende Wirkung ist von seinem Willen unabhängig. Es gibt Menschen, die intellektuell weit unter dieser ihrer Wirkung stehen; sie verstehen sie nicht zu schätzen und werden durch Konflikte unglücklich. Denken Sie an das mal'occhio. – Sie sind doch Romane. – Um nach dieser primären Wirkung dann im Beeinflußbaren einen bestimmten Akt vor die Phantasie zu zaubern, braucht es mehr des Taktes und der Delikatesse als des Willens. Kraft würde hier sogar schaden. Alle berserkerhaften Varietéhypnotiseure sind Schwindler. Die Orientalen sind bei dieser Zeremonie flötenhaft zart, elegant. Es ist mehr inverse als unmittelbare Kraft nötig. Dagegen braucht das Medium einen ganz kolossalen Willensaufwand. Darum sind auch gerade Verbrechernaturen dazu vorbestimmt – sie besitzen die Gabe einer Kurzschlußherstellung von der Phantasie in die Aktion und die Macht der ausschließlichen Konzentration. Der Verbrecher kann aber wie zur schlechten, genau so gut zur heroischen Tat inspiriert werden. Darauf beruht meine neue soziale Theorie.«

»Sehr interessant, sehr interessant,« murmelte San Remo. Er flappte nervös mit den Fingern und fahndete wieder nach den Augen Slims, der sich in den Fauteuil geknickt hatte; Slim vermied in diesem vorgeschrittenen Teile des Gesprächs, seine Augen auf San Remo zu richten, er hatte sie gleichsam in die Scheide gesteckt; dadurch wurde die unbewußte Sehnsucht seines Gegenübers beinahe paroxistisch. San Remo rückte plötzlich, ohne es zu bemerken, mit dem ganzen schweren Lederklotz gegen Jack Slim los, ohngeachtet er dabei die Teppiche aufrollte.

»Einen Moment. Ich muß erst noch etwas verdauen. Sie haben da vorhin gerade so ein unangenehmes Beispiel gewählt. Ich meine die Geschichte mit dem Harakiri.«

Er stierte, während er sich in den Schultern über die Fauteuillehnen hängte und an seinem vorgestreckten Unterleib hinabsah, an eine bestimmte Stelle der Weste.

»Die Wahrheit zu sagen, dieses Problem hat mich, als ich ›drüben‹ war, im Bann gehalten. Ich machte einige solcher diplomatischen Skandale mit, die durch Harakiris endeten. Es bewirkte stets einen gespenstischen Eindruck auf mich, wenn ich vernahm, daß der joviale kleine oder dicke Herr, der gestern noch lebensfroh mit mir parlierte, sich zwei Stunden darauf den Magen aufgeschlitzt hatte. Brrr. Eine Zeitlang litt ich geradezu unter Zwangsvorstellungen, besonders als die Malaria dazukam und mir der Arzt wieder europäisches Klima empfahl. Aber lassen wir das, die Wendung unseres Gespräches liegt mir buchstäblich – im Magen.«

Er lachte hysterisch. Sein gelbliches Napoleonsgesicht war feucht. Er rieb die Finger gegen die Handflächen. Sie schwitzten.

»Bitte zu Ihren Theorien, ich bin hochgespannt.«


 << zurück weiter >>