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Zweiter Teil.

V.

Jack Slim hatte Zeit. Bevor das Metallgitter eingeschnappt war, stand er gemächlich einen Augenblick lang unten am Bürgersteig und zögerte wie in einen tiefen Traum verloren. Sinnend blickte er auf die kurze Kachelstiege, die vom Gartenweg herunterfloß. Der Garten lag erhöht über der Straße, dicht vermummt in einen pelzigen Damm von dunkelgrünem Lebensbaum und zähem Geheck. Terrassenartig fiel er über einer Ziegelschicht zur offenen Straße ab. In die Ziegelschicht waren in geordneten Abständen Scharten gebrochen, um das vom höheren Bord gesammelte und aufgesogene Wasser absickern zu lassen. Im Geheck drohten Muschelspitzen und Glasscherben, die weiter heraus längs der Ziegelborte mit der Mauer verkalkt waren. Außerdem liefen dort an festen dreiflächigen Eisenspindeln scharf gedrehte und vielfach verknorzte Stachelseile in dreifacher Lage über die Front des Gartens. Jack Slim streifte diese das gewöhnliche bürgerliche Maß keineswegs überschreitende Sicherung und zog die kleine Gartenpforte mit den gußeisernen Zieraten und den Messingverschalungen bei den Stäben an sich. Es klinkte; oben, drüben klatschte die Zwergtür in die monumentale Mutterfläche. Klink-klatsch, der Mann oben hatte es eilig und hielt sich an mechanische Zeichen, er hatte seinen Betrieb geregelt, glaubte an ein eisernes Zusammentreffen der Einzelheiten und wohlberechneten Faktoren, die Lebenssicherheit seiner bürgerlichen Existenz beruhte auf langer Übung, Gewöhntheit an berechenbare Gefahren und an die Genauigkeit des Apparats. Herr von San Remo besaß eben ein schönes idyllisches, mit komfortablem Geheimnis spielendes Vorstadtschlößchen. Tiefe Ruhe schlich auf den vornehmen Wegschlingen und über den Grasrabatten mit Tulpenburgen einher. Es roch nach Tau, Besprengung und Gärtnerarbeit. Hinter dem Holzgeländer an der Kachelstiege, die zur Straßenfront kaskadierte, standen auf beiden Seiten graulackierte Fässer mit sauberen schwarzen Ringen. Daraus roch es faulig nach Zisternenwasser; der eine von den Bottichen, in denen ein mittlerer Mann aufrecht verschwinden konnte, war trotz seines neuen Lackes schadhaft, Licht blinzelte aus einer wagerechten Bruchritze. Jack Slim nahm diese belanglosen Kleinigkeiten in sich auf und schmiedete daraus das federnde Bild eines bestimmten typischen Lebensganges.

Er drehte sich um und schritt diagonal über die gezirkelte Straße, die strenglinig wie ein geometrisches Profil in ihren Teilen aufgebettet lag. Der Fahrdamm wölbte sich asphalten als sehr flache Walze aus der Rinnsteinkurve, die Bürgersteige traten mit seichter Büste an ihn heran und gleißten an der frisch gehaltenen Kante. Ihr Saum war wie eine Linie mit rechnerischen Teilstrichen von rhythmischen Erdaufwürfen unterbrochen, aus den wohlgepflegten Trichtern schwebten innerhalb barock gelockter, grün gestrichener Eisenmanschetten, die zugleich zu Schutz und Halt dienten, dicke Laubknäuel auf edlen Schäften, Kastanien, Ahorn, Akazie und Maulbeer. Gezogener Saft und Zucht, Ordnung, Rhythmus entsprangen plastisch der wilden Erde, von der, um ihre Eigenart zu beweisen und zu erhalten, schräg hüben ein Naturgarten-Behälter belassen worden war. Dort wuchsen hinter einem knöchelhohen Schutzband, das nur Lieblingshunde übersprangen, in wilder Wahl Eibe, Hasel und Buche, an der übermäßig breiten, steinig geschorften Bachrunse flatterten Erlenschleier in die schmächtigen Wasserfladen zwischen romantisch geschichtetem Geklüft. Weiße Strahlen mit hellgrünem Gesprüh um die kecke Pfeilspitze stießen die Birken über alles empor. Gras in Rispen spann zitternd dazwischen.

Dies alles, sah Slim, war das Werk kluger Benützung; auch die Schönheit des Naturparks, wo der Boden bewußt sich selbst überlassen worden war, konnte als Folge menschlicher Tat gelten, die auch dort besteht, wo sie sich ausnimmt oder aufhebt; der Mensch entgeht der Großartigkeit seines zur Tat gipfelnden Schicksals nicht mehr. Vor Jahrzehnten brütete hier ein ungarisches Dörflein in einer Oase der Pußta mit pflanzenhaftem Dasein; damals mochten die Birken noch als dünne Ruten dem Gefälle des grasvergitterten Bächleins zum Anger dienen; heute diente der Rest von Ursprünglichkeit dazu, die straffe neue Tat aus Eisen, Stein und Beton in gefälligem Übergang an die Vergangenheit der Erde anzufügen. Jack Slim ging langsam und nachdenklich. Wie immer, wenn er die große Neue Tat einer Neuen Welt, einer Menschenwelt, einer durchaus von menschlichem Geist bestellten Welt in sich errichtet und erfaßt begriff, brachte er das umliegende Geschlecht zu ihr in Beziehung. Die Beziehung stimmte nicht, sie stimmte niemals. Das Geschlecht war stets kleiner als seine Tat. Wie oft, wenn er die riesige ziselierte Rippe einer schlanken Eisenbrücke über Abgrund oder Strombett betrachtete, dachte er sich den Erbauer dazu, dessen Bekanntschaft er zu machen sorgte. Wie groß war dann der Abstand zwischen dem Schöpfer und seiner Tat! Das Werk hatte als Urheber einen herrlichen kraftvollen Beherrscher des weltlichen Raumes, einen profanem Ding überlegenen Weisen vorgespiegelt: der tatsächliche Meister war ein Menschlein voll Angst, Scheu und Besessenheit, kleinlichem und bitterem Ehrgeiz, Schwächezuständen, voll Mangel an Glauben und innerer Sicherheit; war es nur dieser Mangel, der immer wieder den Menschen antrieb, sich um so mehr die äußere bürgerliche Sicherheit zu verschaffen?

Jack Slim ging festlich in Enthüllung und tauchte sein Gesicht in den schräg vor ihm liegenden Naturpark. Im Haselgeheck am Bach sah er zwei dunkle Augen aus einem Lichtspalt sondieren; er fühlte sie tief, förmlich in seinem Herzen, überraschend, an seinem Körper ziehend; das war der arme scheue Hirte des Pußtadörfchens, gequält, geschlagen, schicksalsbang, der sich vor Fremden hinter dem ewigen Feigenblatt der schlimmen sündigen Ahnung verbarg. Nein, es war nur Bild und Abdruck einer Überlegung, Jack Slim schüttelte den Kopf und sah klar in die hellgrüne Mähne der Rasenraupe jenseits der Straßenglatze. Ein Rest des sondierten Gefühls plagte ihn noch im Rücken und er wandte sich um. Vor ihm lag der regelmäßige Erdtrichter von der Anlage eines einzelnen Baumes. Jack Slim strömte über von Gedanken, Sachliches und Allgemeines durchdrangen und förderten einander. Er hob einen dürren Ast auf und zeichnete seine Ideen auf den von einer Straßenspritze kürzlich befeuchteten kleinen Bewässerungswall. Die Figur, die er so in Gedanken eingrub, war eine gebrochene Linie, die schematische Erinnerung an ein System festhaltend, Rechenschaft und Plan über einen Eindruck.

Es war später Abend im wohlgeratenen Gartenhausviertel einer funkelnagelneuen Großstadt inmitten Europas. Plötzlich war, wir liegen in südlicherer Breite, ein Entzug an Farbe und Unterschied über die Straßenwelt gekommen; da streifte ein riesiger Flügel über sie hinweg, peitschte sie mehrmals scharf und mit Geknatter, dreieckige weiße Schatten durch und durch jagend, und zischend flossen aus dem Nichts über den Baumwedeln rote Korke von Glut über, die sich violett und weiß und stet werdend zu einem künstlichen Tag von oben vermischte. Von einer geheimen Quelle inmitten dieses Schalenbaues Großstadt raste Helligkeit in Bruchteilen einer Sekunde an alle winzigen Pole in den Straßen. Jack Slim konnte sein gedankenvolles Rätsel beendigen. Eine klare Übersicht war gewonnen. Die gebrochene Gerade verhalf ihm zu einem praktischen Vorteil. Und wie stand es im allgemeinen? Hatte die Menschheit auf dem Wege von Pechfackel über Ölfunze, Wachsstock, Docht und Gashahn bis zum Steckkontakt und Kohlenfaden sich verändert? Waren Scheu und Neugier des Hirten im Gestrüpp am Bachrand größer, als wenn man Geheimgänge durchschlüpfend dem beargwohnten Gast aus dem Schlitz eines falschen Zisternenfasses in den Rücken späht? Jack Slim seufzte ein wenig. Die Zivilisation mit ihrer chimbarossohaften Technik endete in elendiglichen Spielereien. Der Mensch steht noch nicht einmal auf der Höhe seiner Beleuchtung. Slim machte am Ende seines Liniensystems einen tiefen Punkt in die feuchte Erde, so, das ist das Ende, die Mündung des Ganzen an der Oberwelt, der ganze mächtige imperiale technische Mensch, der erzene Napoleon der Zivilisation, endet in einem Spionierfaß, auf das raffinierte Verstellungskünste mit grauem Lack und wagerechten schwarzen Ringen verwendet werden; der Entwicklungsgang des Menschen kommt an den toten Punkt und wird Spielzeug, kindliches Versteckspiel, Atavismus aus Hirtenzeiten. Punktum. Slim schloß die Zeichnung ab.

Im fliederfarbenen Schmelz, der um die Laubklumpen sphärisch vibrierte, pendelten Menschen an Jack Slim vorbei, zumeist Paare, mit im Winkel zueinander vereinigten Gesichtern. Slim kannte diese Gesichter, aus vielen riesenhaften Großstädten und kleinen Siedlungen der Erde kannte er sie. Sie waren eine Sache für sich selbst, Abfall von den Naturformen, die in den Rassenbildungen zur Erscheinung kommen. Ein riesenhafter Komposthaufen von menschlichen und halb- oder spättierischen Zügen war sozusagen über die ganze Erde gebreitet, konzentriert in den großen Städten, gleichgültig, ob im Innern oder an der Außengrenze. Die Menschen, die an Slim vorbeifluteten, gehörten zu dieser vermischten Gattung. Um diesen historischen Zeitpunkt waren sie ob in Ost oder West, in Newyork, Paris, Wien, Oaxa oder Tokio kaum mehr unterschiedlich. In ihnen lebten auch nur die Scherben des eigentlichen menschlichen Werkes fort, aber sie sind es, die an Konstanz alles überdauern. Der bürgerlich gesettelte Typus, der allüberall auf dem Erdball, in allen Zonen und Klimaten der gleiche ist, die graue Rasse, spazierte da mehr oder weniger eilig vorüber. Sie überstand reißende Kriege, die die Welt äußerlich veränderten, und ätzende Revolutionen, die das ganze seelische Gefüge, die Symbole, die Werte, die Urteile und damit auch den oberen Typ ändern; sie erhielt sich trotz Hungersnot und Epidemie, in ihr war alles Primitive und Stationäre von Anbeginn der menschlichen Existenz mitgeschwemmt, die formlose Urform, die Tausendmöglichkeit, die Mischung als Vorstadium der Entscheidung, der Wahl, des Geschmackes, Planes, des Willens, der Tat. Jack Slim erkannte bei diesen Ewigselben, die paarweise zum Abendessen nach Geschäftsschluß dem Heim zusteuerten, die Ruine des Vernunftbaues, die ewig mitgeschleppt wird. Er vergegenwärtigte sich die wesen- und formlose Innenseite dieses Einzellebens, dessen Äußeres dem mechanischen Gerüst angeglichen war, das ebenso viele organisch pulsende Gedanken von planvollen Aufbauern hinterlassen hatten. Daß Schächte gebohrt, Brücken geschmiedet und genietet, daß Baugesellschaften gegründet wurden, bewies nichts für die Entwickeltheit dieses Großstadtgeschlechtes. Ninive, Alexandrien, Karthago, Rom und Byzanz hatten in Vorgeschlechtern dasselbe Personal besessen und genährt. Es ist das, was bleiben wird, wenn Europa zugrunde geht und Asien im menschlichen Herzen und in den Nerven rege wird. Diese Rasse ändert sich nicht; denn sie ist die rasselose und enthält den Abhub und die Scherben von jeder früheren spezielleren historischen Form in sich. Immer wieder wird die geformte scharflinige Oberschicht zertrümmert, ihre Knochentrümmer, Knorpel, Züge, Nasen, Stirnen und Schädelgewölbe zerbrechen in das Chaos zurück, aus dem leere und zufällige Bündel an ihre Stelle emporsteigen, Skelette mit einer Haut darüber und einer Lage von schmaler oder üppiger Kost dazwischen, davor, dahinter. Es sind die Emporkömmlinge. Sie bringen Appetit mit, das ist alles, und wissen nicht, wie sie's treiben sollen. Sie führen die von den Gehirnen gesichtete scharfe Form ins Absurde, alles endet wieder einmal in ödem Spielwerk, jetzt haben sie die Zivilisation in Händen, hausen am Asphaltufer des großen Lebens in wundervollen Palästen, vergessen der Schönheit, bangen um eingebildete Ziele, unterminieren ihre Heime, um Gefahr durch Gefahr zu begegnen und weil sie an die technische Vollendung mit Moden zu rühren glauben.

Jack Slim blickte den Skeletten unter die Kleider und Moden. Es waren dieselben Scherbengesichter und -leiber wie damals, als jene alten Kulturen zugrunde gingen. Alle Rassen verschnörkelten sich an ihnen und alle Farbenspiele zerflossen zu einem breiigen Teint. Ihr Leben vollzog sich wie vor tausenden Jahren, Stückwerk, das dem ewigen Wanderer ewig begegnen wird. Da stand der Bürger auf, rechnete, spekulierte, gewann, verlor; fraß, verdaute, verkam. Aus seiner Spekulation erhoben sich Scheintaten, Brücken, Schachte, Kanäle, Städte ober und unter der Erde, in der sonst Wurzeln Säfte in lebendes Leben umsaugen, umbluten, umspinnen. Aber der Mensch wohnte nicht in den Brücken, er bohrte nicht bewußt in den Schächten, er hauste nicht wirklich in seinen reinlichen hellen Palästen. Der Erbauer der Brücke und der Ersinner kunstvoller Gefüge aus Stoff, Farbe und Klang, er gehörte zum Gerüst, er war nicht die Seele und das Wesentliche; eine bessere Scherbe, das war er. So war der Erbauer der Brücke, so war der große berühmte Diplomat, der Besitzer eines feinen Landschlosses mit Geheimgängen und andere, und der Detektiv, den der Staat zu ihrem Schutze anstellt …

Über ihnen, was steht über ihnen, was ist das eigentliche starke Leben in diesem Klumpen, der von der Sonne an einer magischen Spanne durch den Raum gekreiselt wird? Die Wohlrassigen, die wie jener lange Mensch, der ihn nun schon eine Weile diskret beobachtet, wohltuend abstechen, sind selten. Aber man kann auch mit ihnen nicht zufrieden sein. Auch sie sind ein Fragment des ganzen Menschen; eine gut erhaltene glänzende Scherbe. Aber vielleicht lohnt es sich, sie zu ergänzen. Über allem Menschlichen steht der Weise; er sieht und sinnt; manchmal wird sein Sinnen Tat; dann bedeutet es – nichts mehr, nichts weniger – Rettung für einen Einzelnen. Jack Slim wandte sich von dem Beobachter ab, kehrte der Gassenfassade von San Remos Prachthaus den Rücken und ließ seine Zeichnung im Stich. Weiter unten überquerte die Tram den Fahrdamm. Slim übersetzte ihn mit der Richtung auf den Naturpark zu.


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