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Der Gesandte, in seinem Zimmer eingeschlossen, hatte sich den ganzen Nachmittag über nicht gerührt. Der Lakai Morel arbeitete im Garten und übergoß Beete und Rhododendron mit einem prasselnden Strahl aus der Gartenspritze. Eine halbe Stunde vorher war Madame zurückgekehrt, er sah sie durch die Gartenpforte treten, sie ging nicht mitten durch den Garten am großen Rosenhag vorüber, sondern ganz auf einem Seitenpfad, der zwischen hohen Balustraden aus kantig gestutztem Taxus hindurchschnitt.
Plötzlich hörte Morel aus dem Zimmer im ersten Stock einen durch die schlirrenden Scheiben unterdrückten und gläsern verunreinigten Schrei. Er lief hinauf. Droben stand vor der Tür, die Klinke zuziehend, Philomena Akte. Sie stand doppelt gerade, aber zuckend, mit zerwühltem Gesicht, trotzdem zynisch rauchend, obwohl ihre gelben gemeinen Finger, die Hand einer sündigen Heiligen, vor Bewegung flackerten. Morel sah und bewunderte die Stärke ihres Herrenblutes. Sie sprach nicht, sammelte ihre ganze Kraft in ein gleichmütiges befehlendes, »Polizei!« Da lief auch schon die übrige Dienerschaft zusammen. In der Aufregung vergaß man das Telephon. Man eilte in einem Klumpen, voll Grauen vom Orte fortgestoßen und zu menschlicher Gemeinschaft getrieben, auf die Straße. Zwei Schutzmänner kamen; sie standen bereit. Einer von diesen telephonierte.
Nach sechs Minuten kam wuchtig, aber wie erlöst der Chef-Kommissär Kovary angetrabt; seit Tagen stand er unter Alarm, und man wußte nicht, wo es ausbrechen würde. Endlich! Kovary war massiv, breit, mittelgroß; ein schwerer Mann, viereckig, mit kleinen guten Fäusten; der große Kopf hatte sechs gewölbte Flächen, wie ein Würfel, er war schön; das weichteigige Gesicht mit den dunklen starken Augen und gedrechselter Nase war durch einen goldbraunen Schnurrbart, der wie eine Sichelkette, wie das Gebiß einer Egge in die üppigen Lippen stach, in wilde Energie gehoben.
Als die Lady den mächtigen Mann sah, verlor sie die letzte Unsicherheit, nahm eine kleine silberne Schachtel, klappte, rollte sinnlich eine Zigarette zwischen den Fingern und ließ sich von Morel in gewohnter Weise Feuer geben. Sie spannte alle Muskeln, ihr Antlitz verlieblichte sich durch ein wissendes Lächeln um die Augenwinkel.
Kovary stand vor der Türe. Er hatte über den Begriff Dienst hinaus zum ersten Male die Sensation Abenteuer, als er in den Maschen dieses züngelnden Blickes hängen blieb; zugleich lief ihm ein Stück Aufmerksamkeit weg und versteckte sich, ohne daß er es gemerkt hätte, in der mageren Krümmung, die von den Fußgelenken dieser Frau unter drahtig federnden Röcken in ihren Schoß lief. Sie öffnete leise die Tür; Kovary, ein wenig beklommen, trat ein: da lag San Remo am Kanapee, verrenkt, dunkel am Unterleib, die linke Hand schaufelartig am Boden; in der Rechten hielt er einen Streifen schwarzer Seide mit roten Kelchen, zusammengekrallt.
Agenten, Arzt, Photograph kamen. Der Arzt konstatierte flüchtig Tod, Stich in den Unterleib, geringer, auffallend geringer, wahrscheinlich innerer Bluterguß. »Ich muß Sie bitten, Gnädige,« sagte Kovary zur Hausherrin und wies auf einen Sessel. Ein allmächtiges Gefühl belebte ihn, als er kraft offizieller Macht diese Füße und Augen zur Anwesenheit zwingen konnte. Seine äußere Funktion geriet in eine wohlige Übereinstimmung mit seinem rein triebhaften Drange.
Die Lady hatte verblüffende Nerven. Wohl traten die grünen Ringe unter ihren Augen in dem graugelben Gesicht deutlicher hervor, aber sie blickte ohne Ekel, ja oft sinnend, aufsaugend auf den dunklen Fleck am Leibe ihres Gatten. Die Dienstboten, auch Morel, sahen qualvoll daneben weg. Nur kurze Blicke wagten sich in die Ecke, prallten sofort von der verzerrten Lage des Toten zurück. Der Ausdruck in seinen offenen Augen war dunkel, eigentlich ohne Todesgrauen, mehr berückt, wie von einer letzten ergötzenden Vision benommen. Das eine Auge war gekniffen, so daß das andere zu zielen schien. In ihm flimmerte es wie von erstorbener Tendenz.
Kovary suchte aus den körperlichen Anzeichen einen Anhaltspunkt, wie er es gewohnt war, zu gewinnen; aber daß er diese forschende Tätigkeit mit der vornehmen, etwas burschikosen Dame an seiner Seite teilte, teilte auch seine Anspannung.
Neben der Leiche war ein Papierdolch gefunden worden. Er lag lange Zeit unberührt dort, bis die ganze Umgebung des Toten auf die Platte gebracht war. Dadurch entstanden Pausen; der Kommissär füllte sie aus, indem er Missis Philomena Akte San Remo mit gemischten Empfindungen, aber einer sehr eindeutigen männlichen Neugier prüfend streifte. Dann setzte er das Verhör in Ansicht der Leiche fort. Der Druck der Tatsache des Todes mußte es erleichtern. Vor den letzten Dingen stehend würden die Zeugen ihre innerste Ergriffenheit, also die größte subjektive Richtigkeit preisgeben müssen.
Dazwischen kamen Polizisten, andere Kriminalbeamte, unter ihnen Rakowitz. Fremde und Nachbarn, die aufmerksam geworden waren, mußten abgelenkt werden. Vor dem Palais wurde ein Kordon gezogen.
»Holen Sie Spa römisch einundzwanzig,« rief der Kommissär seinem Adlatus Rakowitz zu. Dieser zog aus der Brust einen schlanken Block, griff in eine Kerbe der roten Buchstaben- und Zahlenstaffel und las ab. Sp. A. XXI. war Spezialabteilung, XXI. Privatdetektiv James Steward, politische hochoffizielle Fälle, Chicago, derzeit Hotel Mansion, City-Avenue.
Kovary frug hin, frug her. Wer hatte den Mord zuerst entdeckt? Missis San Remo, mit etwas auffallendem Trotz im Klange, sprach; sie hatte kurz vor sechs geklopft. Da keine Antwort kam, öffnete sie. Da lag der Ermordete, genau so, wie er jetzt noch liegt. Einen Schritt davon der Dolch, der sich sonst bei den Papieren am Schreibtisch befindet. Sie erschrak, schrie auf, rief nach Morel. Sie ließ niemand vor, bis die öffentlichen Vertreter den ganzen Augenschein aufgenommen hätten. Sehr gut, nickte Kovary, die Zeugin belobend in beide Augen nehmend.
Morel sagte aus, die Tür sei versperrt gewesen. Wer sie geöffnet habe, wisse er nicht. Lady Akte durchdrang ihn höhnisch; Kovary fing diesen Blick auf. Auch Morel verstand ihn und wurde unsicher. Er wußte nicht, wie ihm geschah, gegenüber dieser Lage war ihm wie Einem, der die Balance verliert. Er ahnte nicht das geringste, beteuerte er. Er fand, daß Kovarys Blick, nach einem Rundgang, der auch bei der Lady verweilte, sich wie eine Anklage straffte. Er zitterte und beteuerte, er ahne absolut nichts. Er habe nicht den fernsten Gedanken, wie das geschehen sein könnte. Seine Schultern zogen sich empor, er sah herum auf die übrige Dienerschaft, die ihn angaffte.
»Nein,« sagte die Lady noch höhnischer und als wolle sie einen unausgesprochenen Gedanken widerlegen. »Es kann nur der Chinese gewesen sein.«
Morel sah verständnislos drein. »Wer ist das?« frug der Kommissär. »Ich weiß es nicht,« sagte die Lady. »Mein Mann hatte einen Chinesen engagiert, für die Tiere …«
Der Kommissär wollte den Chinesen sehen. Niemand wußte etwas von dieser Erscheinung. Chinese? Hier hatte es keinen Chinesen gegeben, im ganzen Hause nicht. Alles starrte auf die Lady. Kovary sah einen Augenblick ganz dumm und leer, geradezu enttäuscht aus. Er schielte nach dem Arzt, der sich in Eiseskälte und automatenhafte Ruhe hüllte, aber irritiert auf die zigarettenspielenden Finger der Witwe spähte, stumme Diagnose. Über des Kommissärs Gesicht huschte es wie widerwilliger Entschluß; er zwang sich, einen unliebsamen Gedanken zu fassen. Indem er sich der Lady zuwandte, suchte er seinem wilden Gesicht einen engelhaften retterlichen Zug zu geben.
»Haben Sie den Chinesen gesehen, gnädige Frau?«
»Ja, flüchtig,« sagte sie, aus den Augenwinkeln nach dem starken Mann brünstend, den als ihren Richter und Retter zu sehen es sie verlangte. »Er muß erst kurz dagewesen sein.«
»Können Sie ihn beschreiben?« Sie beschrieb ihn, wie man irgendeinen Chinesen von einem Bilde beschreibt. Er war mager und alt … er trug einen schwarzen Überwurf mit rotem Geblümtem. Er war unsympathisch, und er war ihr gleich aufgefallen; sie hatte Streit über ihn mit ihrem Mann …
»Streit?« verbiß sich der Polizeiarzt, ein schwarzer Vollbart, längliche Glatze, in das Wort und damit dem Kommissär einen Wink gebend.
Der Fall war unaufgeklärt, wenn man nicht Selbstmord annahm; und dieser war in dieser Form unwahrscheinlich und außerdem erst recht unerklärlich. Die Aussagen der übrigen Hausgenossen waren belanglos. Morel wurde befragt, wer in den letzten Tagen bei dem Toten zu Besuch war. Langsam häufte der Lakai Name auf Name, bekannte Größen des öffentlichen Lebens, Journalisten, Politiker, Geschäftsleute wie Direktor Simpson – Simpson? Ja, das war schon ein paar Wochen her – ferner die persönlichen Bekannten der Familie, alles harmlose Leute. Auch Professor Jack Slims Name wurde genannt. Das war auch schon acht Tage her. Aber zwei Personen konnte Morel nicht genau agnoszieren. Die eine schilderte er als großen eleganten Engländer.
»Engländer, woher wissen Sie das so genau?« frug der Kommissär.
»Weil ich mich mit ihm in meiner Muttersprache unterhielt. Er schien Artist zu sein.«
»Was verstehen Sie unter Artist?«
»Nun, so eine Art Trapez- oder Velozipedkünstler.«
»Woraus schlossen Sie das?«
»Ich glaube, hm, glaube, ich habe ihn mal in einer Zeitschrift gesehen.«
»Aha. Konnte es nicht ein Filmschauspieler sein?«
»Ja, ungefähr das konnte es sein.«
Der Kommissär lächelte. Und die andere Person? Dies war eine auffallend kleine dunkle Dame. Sie war schwer zu beschreiben. Sehr schmächtig mußte sie sein. Ob sie fremdartig sprach, konnte Morel nicht unterscheiden, da er selbst nur Gehör für seine Muttersprache hatte, das Deutsche zwar sprechen konnte, aber keine Unterschiede wahrnahm. Er hielt sie für eine Ungarin oder Zigeunerin, also nichts an dieser Stelle der Erde weiter Absonderliches. Sie hatte ein Paket mit. Er glaube, sie habe dem Gesandten jenen Seidenstoff gebracht, von dem dieser ein Stück in der Hand gekrampft halte. Der Gesandte sammelte leidenschaftlich alles echte Chinesische, es war eine Manie von ihm. Es ist drei Tage her, seit sie da war. Sie blieb nur kurz.
Kovary verlor allmählich seine Ruhe, desto stärker fühlte sich Morel wieder, er erneuerte seine Behauptungen, daß es einen Chinesen nicht im Hause gebe, noch gegeben habe. Früher war ein indianischer Wärter aus Mexiko für die Tiere da; er war seit vier Wochen tot. Philomena Aktes Gesicht verzerrte sich; sie drückte plötzlich in einer Wallung ihre Zigarette an einer Kastenwand aus, starrte entrückt auf die Gestalt ihres Mannes und wiederholte trotzig und weinerlich die Behauptung, nur der Chinese könne es getan haben. Sie ging, zum Schaudern aller, aber ohne die geringste persönliche Erschütterung auf die Leiche zu und raffte, das Abwinken des Kommissärs nicht beachtend, den Dolch auf. So, von oben, stechen Europäer; von unten stechen Asiaten, Spitze nach oben schützend. Der Arzt sah ihr mit Erstaunen nach. Vom Kommissär mit einem Blick befragt, zuckte er stumm die Achseln.
Kovary erhob sich. Er hoffte wieder. Diese Frau vibrierte wie eine Bogensehne. Der an Leckerbissen unterernährte familienväterliche Überschuß macht sich auch an einem Kriminalisten bemerkbar. Die Amerikanerin war von genau demselben merkwürdigen Einfluß auf kraftvolle Männer, den diese naturgesetzlich auf sie auszuüben pflegten. Der Arzt hatte sein Urteil fertig. Kovary beugte sich über ihn, jener flüsterte ihm beinahe bis zum Stummen leise ins Ohr. Schwerster Fall von Hysterie, zu jeder Tat imstande, getrübte Zeugnisfähigkeit. Betreten richtete sich der Kommissär auf. Er mußte handeln.