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XXV.

Falsch! … stop!

Slims Gesicht, sein leuchtendes Gesicht allein wendete sich im Raume. Aus seinen Augen drehten sich grüne Spiralen. Es war wie Entsetzen oder Entrücktheit. Er sprach raumlos, monoton, aus tiefstem Sinnen. Steward heftete sich an seinen Kopf:

»Ihr Mann drang durch den geheimen Gang ein. Sie haben das Gangsystem durch die Wünschelrute erkundschaftet, die auf Hohlräume eingestellt war. Ich glaube, Ihr Mann war Nitra. Sie haben Nitra in Trance versetzt. Ihr Experiment mit der Witwe sollte als Ablenkung gelten.«

»Ihre ganze Kombination ist falsch, Steward. Die Gänge existieren nur in Ihrer Einbildung. Ihre Lehrzeit ist noch nicht vollendet. Sie hängen noch an Äußerlichkeiten. Bilden Sie Ihr subjektives Verfahren aus. Sie sind der Mann dazu, Sie allein. Wir haben Sie ausgewählt, weil Sie körperlich vollendet sind, wie wenige; die geistige Rasse kann nur aus der höchsten physischen entstehen. Denn Physis ist ein Zeichen vom rechten Geiste. Der Geist schafft den Körper; der Körper zeugt für ihn.«

»Ich unterliege Ihnen nicht, Slim. Ich wußte vom ersten Augenblicke an, daß Sie es sind, der sich mit mir messen will. Sie und kein anderer. Sie sandten mir die Bücher ins Haus. Sie haben den Fall Simpson, den ich aufgenommen hatte, zum Fall San Remo fortgesponnen. Sind Sie vielleicht Simpson selbst? Welche Absichten verfolgen Sie?«

»Die höchsten: Erziehung. Sie sind auserwählt.

Ich rette Sie vorm Stillstand im Stoffe; ich gebe zugleich ein Beispiel, wie Sie und Ihresgleichen es in den Jahrhunderten werden machen müssen. Unmerklich wirkt der Geist des stärksten Menschen. Wenn ich mich mit Ihnen länger unterhalten könnte: es sind zehn, es sind zwanzig Personen, aus denen im Verlauf Europa bestand. Das Leben dieser zwanzig war wichtig. Alles andere war Gerüst für diese. Also immerhin unentbehrlich Der Aufstieg geht von den Spitzen aus. Immer mehr sinken die Massen ins Gleichgültige.

Eines Tages sitzt der Höchste am Ufer des Weltsees und denkt: und jeder seiner Gedanken ist Körper.«

»Das kann Vorwand für einen Ehrgeiz sein, Sie betrachten mich als Wettbewerber. Sie wollten mich im Spiel erledigen. Sie inszenieren diesen Fall. Es gelang Ihnen, mich in den Schatten zu stellen. Aber das Spiel läuft weiter. Die Dinge werden gegen Sie aufstehen.«

»So wenig wie Ihre Behelfe gegen mich zeugen können. Ihre Kombinationen sind fehl. Warum haben Sie nicht den unterirdischen Plan im Dossier benützt? Es war lange in Ihren Händen. Haben Sie sich nicht gewundert?«

»Sie wissen so gut wie ich, daß der Plan auf Seite sechzehn falsch war. Die Seite war sichtlich von anderem Papier. Sie selbst haben durch Ihren Chinesen oder durch Nitra die Unterschiebung bewerkstelligt.«

»Ja. Das stimmt. Aber Nitra erschien wie der gute Tag bei dem Gesandten und er ging auf die Sache ein. Er hatte sich bei meinem ersten Besuch schon zu jedem Experiment zur Verfügung gestellt. Hätten Sie genauer nachgesehen: Die Seite sechzehn liegt im geheimen Rückenfach des Tresors, neben den indischen Zigaretten. Sie vermuteten natürlich, daß dort ein Gang münde. Nichts dergleichen, der Tresor hatte dort eine Doppelwand. Nun ist die Seite sechzehn mit dem für Sie harmlosen und nur politisch wichtigen Plan und dem Dossier wieder in den Händen der dalmatinischen Regierung, wo sie bleiben soll. Aber so viel Scharfsinn hatten Sie doch, zu bemerken, daß die Ihnen zugeschmuggelte Seite entstellt war. Sie vermuteten den Eingang in einem der Bottiche bei der Tür. Es ist aber unschuldiges Regenwasser darin. Wäre der Gesandte nicht durch Ihr Herumschleichen aufmerksam geworden, wäre es ihm nicht eingefallen, tatsächlich in den Bottich zu kriechen und Sie einen halben Tag zu belauern. Es ist ihm schlecht bekommen. Sie, Steward, sind sein Mörder. Im Fieber hat er die Mahnung des chinesischen Teppichs ernst genommen. Das erste Menschenantlitz, auf das er nach dem süßen Träumen traf, bestärkte ihn in seinem Überdruß. Das Gesicht seiner Frau hatte es ihm nicht erschwert. Der Stich war von unten, wie man ihn selbst führt. In ihrem Eigensinn verheimlicht sie das. Sie genießt, daß man sie unschuldig für die Mörderin hält.«

»Oder Sie, Slim, haben dies alles so organisiert. Es ist Ihnen zuzutrauen. Machen Sie nicht schon jetzt den aberwitzigen Versuch, geschehen zu lassen, was Sie denken?«

»Vielleicht. Die Lady durfte bestraft werden. Sie kennt mich allzugut. Es gibt Ereignisse, kleine, die sich eingraben. Sie hatte die Strafe des Joghi zu fürchten. Es hat lang gebraucht, nun ist es erfüllt. Vergessen auch Sie, Steward, nicht, was Sie das chinesische Eikon im Gesandtenviertel lehrte. Die Staffelung. Hinter jedem Sinn steht ein höherer Sinn, hinter allem Vorgänglichen steht ein Vorgänglicheres …«

Da fühlte Steward, daß er beobachtet wurde. In der Tat äugte draußen vor der Dunkelkammer der Hausmeister durch das Guckloch. Steward saß auf dem Schemel, an den Hantiertisch gelehnt. Über den Schirm glitten fötusartige Flecke und Konturen. Der Hausmeister klopfte. Die Tür war versperrt. Er klopfte stärker. Steward saß drin in der Dunkelzelle und rührte sich nicht; die schwüle Luft und intensives Denken hatten ihn betäubt. Ein rhytmisches Gleiten, veränderter Druck hypnotisierte ihn. Der Hausmeister wurde ängstlich. Jack Slim vom vierzehnten Stock, der zuerst durch das Guckloch gesehen hatte, hatte ihn benachrichtigt. Nun standen sie draußen und droschen systematisch auf die Tür. Steward wußte genau Bescheid, aber er konnte sich, nicht rühren.

Ein hohler Geruch und fließender Lärm faszinierte ihn. Er sah sich plötzlich versetzt. Die Sinneseindrücke gingen über, unterschoben ein anderes Bild. Er wurde durch einen dämmerigen Schacht gerissen. Pneumatisches Säuseln, Geruch nach Gummi, Öl, Lack, warmgelaufenem Eisen, das Hallen von halbdunklen Schläuchen, die gebrochene Optik einer kellerigen Staubatmosphäre erregten ihn mit einer zugleich vorzeitlichen und nachzeitlichen Wirkung. Er erinnerte sich, die Untergrundbahn! Niedrig die Decke, langer Damm mit stehenden oder strebenden Passagieren, unvermittelt bricht aus dem kühl saugenden Schacht der flach erhabene durchlichterte Streif eines mehrteilig zäsurierten Trains; die Räder sind wie gekappt, vom Perron überschnitten, sie schwimmen im Gleisbett, das tief von Betondämmen flankiert wird. Vom weißen Email der Wandkacheln spritzen die Lettern der Stationsnamen. Der Train fällt aus dem Schuß des Schachtes in ein unwahrscheinlich solides kautschukhaftes Halt. Er steht, absolut leblos, drei, vier längliche Hohlräume erleuchtet, manchmal faucht die Vakuumbremse. Ein Stück Wand stülpt sich längsseit der vorprellenden Kasten mit Licht zurück, ein quadratisches Loch wird aufgeschält, eine Kette Menschen drückt sich schwer und zäh an einem Klumpen Menschen vorbei, der geballte Wucht des Eintritts dem Geträufel des persönlich vereinsamten Ausstiegs entgegenwirft. An einer anderen Station wird ein Pfropfen Menschen, der dick und übel auf der Innenwand liegt, den Einsamen auf dem Fahrdamm festpressen, bis im letzten Augenblick, während der dunkelblaue Schaffner gellt, auch er sich in die Gähnung warf, kurz bevor der Schlitz sich zuschält. Springende Knie, auf einer Treppe gleitend, die von der weiten Luke am Ende des geschweiften Plafonds, fischmauligen Blechhaube am Gehsteg, herabfällt, verfangen sich noch in einer Eisenmasche am Ende des Dammes, in jenem Queue neben der Kassierloge, in der zwei sitzende Kontrolleure lauern, hinter Glasscheiben einförmig und mit geringer Regsamkeit hantierend. Schon aber schleust sich der Train aus dem Betonbett zwischen Dammstufen ins Gefälle leerer horizontaler Nacht. Eine kleine interrupte Lichtmine schiebt er sich durch Stollen. Abschnittweise blendet es auf. Man sieht in Katakomben, Traversenarchitektur, Gerümpel, Gestänge wie in einen Schnürboden der Technik. Matte Dämmerung brütet in anderen Teilen des glatten wagerechten Loches. Die Röhre krümmt sich, der Train legt sich schief, dies Mauern sind berührbar nah. Die Schienenkupierung trommelt fein rhythmisch an den Wagenboden; Sohlen, Gefäß und Rückenmark befinden sich in wohliger Lähmung, in die staubige dicke narkotische Atmosphäre züngelt Parfüm aus dem vereinzelten Quell von Frauenkleidern und Sacktüchern. Pressung und Entzug, wie in einer urlangen Saugpumpe, ziehen weich an der Tastempfindung …

Auch dies wirkt wie eine Dunkelkammer. Steward zögert zu entscheiden, ob er nun nicht im Hotel Mansion, Souterrain, die bewußte Zelle, sitzt; dort sieht das Auge des Hausbesorgers verdrießlich herein und er hält dessen Lärmen und Klopfen für die Geräusche der Untergrundbahn. Im Mauerwerk zittert das Grollen des Untergrundtunnels; von nebenan über den Projektionsschirm des Vergrößerungsapparates schlitteln vage sphäroide Kurven, die Saugreifen der elektrischen Straßenbahn. Wie ist das? Sitzt er da nun gebannt in der Dunkelkammer und schaut das Getriebe des Lebens …

Auf meinem Bewußtseinsgrade ist das Leben ein Spiel von Begriffen, die sich sinnlich auswachsen und verankern, sich emanzipieren, Luftwurzeln ausschießen – hinter dem Gedanken sind Bilder raumlos in Reserve wie eine Karthotek – … oder sitzt er da in der Untergrundbahn zwischen zwei Stationen und träumt die Dunkelkammer?

Der Mann gegenüber greift an den Hut. Good day. Das ist ja – das ist ja der Hausmeister vom Hotel Mansion, der vor der Türe steht, poltert und hineinsieht! Steward lüftet den Hut. Da denkt er, es ist nicht der Hausmeister, es ist der andere selbst, Slim, der Gegner, der Urheber dieser Dinge, der verfolgt ihn bis auf seine Denkfahrten in der Röhre, unter der großen europäischen Stadt. Slim blickt in die Ferne, sein ewiger Blick sagt: der Detektiv lüftet den Schleier der Maja nicht. »Staffeln Sie! Trachten Sie hinter die Bilder zu kommen. Im Kern der Zwiebel haust das höchste Ich; es enthält die andern …«

Und so fuhr Steward oft ganze Tage lang unter der großen Stadt dahin. Der höchsten Technik entspricht ein eklatantes Bewußtsein. Steward dachte wie und was er wollte. Unterschwellig unter dem Leben der Großstadt zog er dahin; dem entsprach in der Tat ein intensiveres Bewußtsein. Einst hatte er gedacht, man tue dem allen Unrecht. Die Materie war daran, durch übermütige Schnelligkeit, durch geniale Bewegung, durch die üppige Möglichkeit der sparsamsten Ausrundung die letzte Potenz von Sinnlichem und in ihrer Art Geist zu werden. Das war der Standpunkt eines okzidentalen Akrobaten- und Varieté-Prestdigitateurs. Die Schwerkraft muß aber elevatorisch aufgelöst und mit ihr die Materie wieder gesetzt werden, Triumph. Der Lehrer und der Schüler näherten sich. Steward rüstete zu neuen Steigerungen, er, der technische Höchstmensch, das maximale stoffliche Gehirn des Jahrhunderts war vorbereitet auf den nächsten Schwung, die Überwindung des eben Erreichten, der westlichen Zivilisation.

Er versenkte sich. Da sah er sich auflösen und zusammenfallen mit dem Sinner dieses und seiner Selbst, Jack Slim.

Stop.

Das Telegramm Wien-Chicago geht in Erfüllung
Seine Mission steigt um ein Stockwerk.
Stop.

» Go on,« rief der Schaffner in der Verkehrssprache vor dem Schlund der Untergrundbahn, ein greller Schlitz war wieder durchschnitten, die langen Wagenboxen, fahrende Erdgeschosse, von Fensterfronten zu Prismen geschliffen, rannten durch den Drall der Schächte, auf architektischen Lichtfluren, innerirdischen Tempelhöfen mündend und wieder tauchend. Go on.

Dröhnende Fahrt, schwingendes Bewußtsein auf den Höhen.

 

Schluß.

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Druck von F. E. Haag, Melle i. Hann.


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