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XVIII.

An der Untergrund-Zentral-Halle-Station verließ er das Automobil. Ein fischmauliger Schlitz im Bürgersteig jappte nach ihm, er sprudelte drei Treppen im Zickzack abwärts, bugsierte sich mit vielen Andern durch eine Eisenmasche am Schalter vorbei, der ihm eine Karte zuwarf, und lief einen unmäßig langen Damm entlang. Eine plattgedrückte niedrige Halle glitzerte von Glühbirnen in Radienaufmarsch gleich einem gewaltigen unterirdischen Seestern. Aus vielen Schlünden brachen Gleise, flogen in Wände. Ein Traversenhochwald, Fachwerkstruktur zerbrach die Blickflucht. Lange Wagenbüchsen fuhren vor, wagrechte funkelnde Säulen, mehrteilig durchbrochen, rutschten sie in rasendem Tempo wie Schlitten, mit versenkten Rädern, vor den Damm. Schwärme von Menschen, wie Blasen im Wasser, setzten sich an, die Kiemen der fahrenden Säule, ein Drache mit Glutaugen und stumpfem Kopf, atmete Menschen aus, atmete ein. Steward verschwand in einer mittelmäßig erhellten Zelle, die mit ihm durch eine Röhre toste. Milliarden von Schallhämmern schlugen auf ihr Glas. Hin und wieder glomm es in sanftem Aquariumlicht. Bodenwärts keuchte die Kraft von Kobolden, in Behälter gepreßt, die an den Bremsen arbeiteten. Die Untergrundbahn! Unterschwellig, entspricht sie einer intensiveren Bewußtseinsstufe. Steward dachte wie er wollte.

Im Hotel Mansion leierte Steward, am Rollteppich aufwärts gleitend, da ihm der Paternoster zu langsam betete, sich längs einer lax hängenden Samtgirlande empor, die den Klimmsteg säumte. In den Stockwerken sprang er scharf ums Eck aufs nächste. Sein Zimmer hatte die Nummer 27. Mit einem flachen kleinen Lederkoffer kam er zurück. Gerade passierte ein Glacis des Lastenaufzugs, von oben herabgesenkt, das Stockwerk. Es war mit Gepäckstücken und einigen Hausdienern besetzt. Schon trat es aus der Fläche zurück, da sprang Steward darauf und schmolz hinab in die Kellerräume Er richtete Umfragen an das Personal, schlug sich durch einen langen Gang mit den weißlackierten schmalen Türen der Badekabinen, Küchen und Nebenräume, am elektrischen Schaltbrett vorbei, und ließ endlich hinter einer von diesen Türen einen kleinen kellerigen Raum, aber von großer Sauberkeit, aufsperren.

Wie er die Tür von innen wieder verriegelte, stand er in roter pelziger Nacht, nur durch ein großes Ochsenauge an der Stirn des Raumes und durch eins kleines Guckloch in der Tür, die wie blutige Gestirne im Leerschwarzen hingen, gloste ein entkettender Ton. Denn die übrige Finsternis belastete. Steward mußte einen Augenblick warten, er konnte sich nicht gleich rühren. Als seine Augen sich an den Dämmer gewöhnt hatten, schaltete er eine Stehlampe am Hantiertisch, seinen langen roten Zylinder, an, dann begann er zu arbeiten.

Er entnahm der Lederkassette eine Reihe von Fläschchen, die er schüttelte, Pulver, Glasteller, eine Schere und Mischgriffel, und stellte sie neben die schon vorhandenen Utensilien. Dann löste er aus dem Etui den Film. Er wässerte, beschnitt und begoß ihn wieder mit dicklich fließenden Lösungen; schüttelte die Badebehälter. Von Zeit zu Zeit hielt er das Transparent vor den roten Lichtbarren, der gereckt in der Finsternis emporstieß. Ein eigentümliches Wallen brandete von diesem aus, eine dicke Schwingung, die sich Allem mitteilte und die eigenen Rhythmen der Formen zersetzte. Die dünnen Flüssigkeiten schleppten sich bei der Behandlung und schwappten melancholisch beim Schwenken der Badeschüsseln wie Syrup. Wie eine Molluske rollte der Film zwischen den Fingern Stewards hin und her, fett, von einem körperlichen Saum weich umflossen, die harten Dinge, was immer man ergriff, deformierten sich zerfließend in einen magisch schlafferen Zustand – und Stewards Finger und Gliedmaßen selbst flossen von ihm weg, er empfand sich duftiger und aus seinem Körpergewicht in ein labileres Gefüge überführt. Der ganze Raum veränderte seine Substanz, das rote Licht durchdrang seine Geometrie und weichte sie auf. Jede Geste war schlüpfrig, erbebte von einer Energie, die in sie wirkend eintauchte, gleich einer gallertartigen Masse …

Dunkelkammer, dachte Steward. Eine andere Beleuchtung, und die ganze Geometrie fährt zum Teufel. So ergeht es uns Menschen, so uns Detektivs und Forschern. In den abenteuerlichen Romanen steht die Zeichnung streng da, baut sich strichweise vor dem Leser auf, Alle wissen Alles und der Leser immer noch etwas mehr als der Detektiv. Aber in Aktion ist es anders. Während der Entwicklung ist der Prozeß eine gallertartige Masse. Alles ist labil. Tatsachen beruhen auf Optik und Phantasie, der roten oder weißen Scheibe, einem farbigen Ochsenauge im Raum oder einem durchlässigen und leeren. Die bildenden Essenzen wirken nur bei Abblendring. Krasses Licht verbreitert die empfindlichen Schichten. Ist das menschliche Hirn nicht eine Dunkelkammer? Vollicht erhellt einen sachlichen Ausschnitt; die produktiven Vorgänge spielen sich hinter der roten Abtönung ab.

Wie seltsam ist dieser Vorgang! Steward starrte auf den weich klebenden Film, der sich unter seinen Fingern wand. Die Zelle war wie abgetäubt, nur eine dumpfe Vibration kam vom Kopf her, wo die Decke in der Höhe an Pflaster stoßen mußte und wo die Untergrundbahn rollte. Es roch bitter nach Drogen. Die Dinge standen halb da, angefressen, gespenstisch ohne Zusammenhang in sich schwebend. Wie Falter im Raum vor Kelchen stehen. Steward starrte auf die dunkel angestochene, weißlich behauchte Filmfläche. Leise rundete es sich, es schwoll an, ein Punkt stach vor und schoß in Linie, dunkle Stellen flossen weg, Geister schlichen lautlos aus der Schale herbei, es wölbte sich, Konturen zogen auf, Form trat anspruchsvoll hervor.

Da war es gewachsen. Etwas war gewachsen. Eine Sache war geworden; aus nichts. Auf menschlich unabhängiges Geheiß, aber schlau herbeigetrogen, abgelogen dem Dämon, glühten Essenzen und Drogen ineinander, eine Freßschlacht, eine Liebesorgie, ein Raufen und Totschlagen, dessen Weg die Kadaver von Atomen bezeichneten, und dieser Todesweg gelöschter und fortgefressener, ausgebrannter, bestohlener Flüssigkeiten wurde dem Menschen Form. Eine weiße Fläche trat hervor und dicht davor ein schwarzes starkes Netz. Man erkannte das in die Palaisfassade eingelassene große Tor aus dunklem Holz. Hier war es negativ weiß; und davor hob sich das Netz des Zaunes ab. Oval aus grauem Rauch und dotterigen Ballungen brüsteten im Ruck nacheinander die beiden Bottiche hervor; Steward sah das Bild seiner Vollendung entgegengehen, hielt es vor den Barren Glut, hielt es unter eine sanfte Dusche überm Wasserbecken und senkte es ins Fixierbad, über das im Schaukeln ein goldiger Glanz huschte Kräfte liefen dem Bilde aus der Lösung zu, es bleichte, aber es gewann an Tiefe, an Abstimmung, die Schatten und Trichter gruben sich ein.

Steward war ungeduldig. Er streckte den Film mittels eines Rahmens, den er an einer großen Welle drehen könnte. Es entstand Luftzug. In ein paar Minuten war der Film trocken.

Steward seufzte, vor Spannung. Die Zelle war stickig Steward schwindelte von weichem dunkelrotem Wesen, das ihn umflutete. In der ungewohnt empfindlicheren unfesten Geometrie büßte er an Gewicht und Balance ein. Seine Energie war auf Fernes gerichtet.

Was wußte man, wer wußte etwas von den wirklichen Ereignissen? War sein Gehirn nicht gleich dieser Dunkelkammer, in der die Dinge sich eigentümlich reimten und durch Essenzen aus nichts Etwas entsproß? War es aber nicht richtig, anzunehmen, daß alle Seele ist wie diese Dunkelkammer, wo aus nichts eine Form wird? Das Wichtigste ist, die Essenzen zu kennen, sie dem Dämon abzulauschen. Die mechanischen Zusammenhänge sind plump. Man muß die Welt entwickeln wie eine Photographie, ganz hinter der roten Scheibe, mit Zuhilfenahme der Essenzen. Dann tritt aus der Fläche der Geist der Dinge und gebiert ihre starre Geometrie, auf die man volles Licht lassen kann.

Noch konnte er es nicht. Noch mußten die Dinge durchgebadet werden, dann durfte man sie fixieren, dann konnte man Licht zulassen. Bis jetzt ist nichts geschehen, das feststünde.Niemand weiß etwas. Was sie zu wissen glauben, wissen sie entweder durch Kovary oder durch mich. Es handelt sich nicht um Tatsachen oder Lügen, hier, dieses Mal. Es handelt sich um den Kampf von Hirnen. Ist Kovary, bin ich oder ist der Geheimnisvolle der Stärkere, also im Recht? Wir werden sehen. Bisher schwimmt alles in dubiosem Rot. Bisher ist alles fruchtbar und nichts ergiebig.

Jetzt rückte Steward den großen Schirm heran. Er klemmte den Rahmen mit dem Film in ein Gestell und stellte den Zylinder in eine bestimmte Entfernung dahinter. Beinahe lebensgroß erschienen Teile des Films auf dem Schirm. Steward verschob, bis die beiden Fässer in den Schirm traten. Aber er war enttäuscht. Die Aufnahme von oben her hatte die Hohlräume nur flächig diagonal gestreift. Man sah nicht in die Tiefe. Sie lag im Schatten. Steward holte ein sehr kräftiges Mikroskop aus den Taschen mit mehreren Linsen. Es reichte für naturwissenschaftliche Zwecke. Aber als er die Front abzusuchen begann, zerfiel das Bild nur in die Struktur der Schirmunterlage Das eine der Fässer war löcherig, baufällig. Daraus war nichts beweisbar.

Da schaltete Steward unzufrieden den Lichtkörper aus. Die beiden Bullaugen glotzten rot. Er ließ die rote Glasklappe vom kleinen Guckloch in der Tür fallen. Ein weißer Lichtbolzen von breiter Kegelbasis stieg herein und spielte mit wässerigen Ringen über den Schirm und die Wände. An den Ringen liefen regenbogige Wellen fort. In der nächsten Sekunde gewann das Spiel Hintergrund. Teile von Menschenkörpern schwebten vorüber, Gesichter, Beine. Plötzlich erschrak Steward. Ein Gesicht stand verkehrt auf dem Schirm und sah ihn an. Es war undeutlich, weil immer wieder perlmutterne Wellen darüber schwitzten. Aber er erkannte es. Es war das Jack Slims. Das Gesicht trat in die Ecke, brach halb ab, entschwand ganz. Gleich darauf trat ein Haupt hervor, tanzte, von der Stirn her nach unten abgeschnitten. Es war nichts als ein Turban. Die Figur mußte klein sein, war in Slims Begleitung und reichte dem nur bis zu den Schultern.

Camera obscura!

Steward entriegelte. Schales Licht füllte den Souterraingang mit den weißlackierten Türen. Die Beleuchtung kam von den Oberlichtfenstern aus dickem, grünlich gespaltenem Glas, die matt von unten her auf den Bürgersteig der Hauptstraße blinzelten.

Steward rollte in seiner Hast, wie von einem stampfenden Schiff um die Ecken geworfen, längs der Gänge hin, die Luken aufwärts, durch den Hotelparlor auf die Esplanade. Grüne Vierecke schwammen auf dem Bürgersteig längs der Hotelfront. Der Korso schwärmte über den Boulevard. Der hatte die Urheber von Stewards Vision aufgesogen. Steward entdeckte sie nicht mehr.

Während Steward oben die Front des Hotels ablief, stand drunten im Korridor ein großer hagerer Mann mit klerischen Zügen und sah schmunzelnd, gerade nur aus den Augen schmunzelnd, zur Decke hinauf, aufmerksam, die drei Oberlichtvierecke fortwährend im Auge haltend. Er war aus einer Tür neben der Dunkelkammer getreten. Auf den grünen wässerigen Glasinseln erschienen verlassene Figuren, Hüften, Röcke, Schuhe … jetzt ging flüchtig ein aufgeschwemmtes doppeltes Etwas darüber, schwammhaft verquellend; sobald es in die gewisse Perspektive geriet, wurde es scharf wie unter einer Riesenlupe. Es waren ein Paar hoher Beine, eigentümlich prall unter den Hosen, schmal im Gelenk. Sie erschienen nacheinander an allen drei Stellen. Der Mann unten nickte. An diesen Beinen allein erkannte er seine Person. Da kamen die Beine zurück. Der Mann unten verlor sich im Korridor.


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