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Der Chinese erhob sich aus dem Klubsessel, kreuzte die Arme und verbeugte sich tief, tief. »Ich bin Tschung-Lun«, sagte er in einem Gemisch aus Englisch und Chinesisch mit zirpender Stimme.
»Was wollen Sie,« fragte San Remo, blaß aber gefaßt, in demselben Jargon des Pidjing-Englisch. »Wie kommen Sie hier herein?«
»Ich komme,« sagte der Chinese zäh, »oh, hochverehrter Herr. Allaleit.« Er pendelte zeremoniell mit dem Oberkörper, die wichtigsten östlichen Höflichkeitsformeln aufsagend. Diese Umständlichkeit erinnerte San Remo, der sich zugleich wohltuend von solcher Art und Weise bei seiner snobistischen Erfahrenheit gepackt fühlte, an ein Gespräch, das er vor kurzem gehabt hatte. »Armer China-man, empfiehlt sich der Gnade seiner Herrlichkeit, Allaleit,« beteuerte der Eindringling.
»Ah,« rief San Remo, »Sie also sind – ja, sind Sie von Mister Slim gesendet? Sind Sie der empfohlene Wärter für die Tiere, die Sie soeben …«
»Ich bin hier,« sagte der Chinese abermals trocken und den zweiten Teil der Frage durch ein Achselzucken beiseiteschiebend. »Ich bin hier. Ich bin Tierwärter, Eure Wohlerzogenheit. Allaleit.« Es sollte heißen All right.
San Remo, der sich durch den letzten Titel bei seiner besten Repräsentation geknufft fühlte, wagte die vornehme Reserve des alten Chinaman nicht zu durchbrechen und bequemte sich dessen Stil an. Was lag daran. Sicher war der Bursche da von Slim geschickt worden. An die Schrullen solcher mit eigentümlichen Kräften behafteten östlichen Leute war er gewöhnt, man machte sie durch Fragen unnütz zu Feinden; und die bedeutende Begabung des Burschen in der Behandlung von Tieren hatte er soeben bewiesen erhalten. Korrô hatte sich vor dieser Schönheit von Mensch nicht nur nicht gehässig, sondern geradezu kokett, lebensfreudig, affektiert gezeigt. In diesem wortkargen Subjekt stak eine ungeheure freundliche Energie; er spürte in eigener Person die angenehme Ausstrahlung aus dem gefältelten grundgütigen Gesicht des alten Asiaten. Wohl sorgte es ihn schwer, zu fragen, wie man offenbar ohne Bemühung eines Haustores oder der Dienstboten in diesen intimsten Raum des Hauses kam; aber eine Weichheit, diesen Besuch mit den klugen verschlossenen Zügen nicht zu kränken, hielt ihn davor zurück, die Frage auszusprechen. Das schlechte Gewissen des europäischen Emporkömmlings vor der formvollendeten Kultur auch des niedrigen Asiaten bereitete ihm Hemmungen; und so ließ er die mysteriöse Sache auf sich beruhen und führte den neuen Hausgefährten in seine Pflichten ein. Dieser bestätigte die Vorlesung über Korrô, Flora und Tempeste mit seitenwendigen Knixen, immer dieselbe offizielle unverbrauchbare Begeisterung in den Zügen, mit denen der Asiate der Konversation ebenso wie den tiefsten Lehren lauscht.
Das Gespräch wurde gestört, als Missis San Remo, Philomena Akte, ihren Gatten zur Lunchpause besuchen kam. Sie war eine gebotene Newyorkerin, etwas größer als ihr Gatte, mager, mit langen Gliedmaßen, schmalem Becken, hohen Schultern, einem initiativen nicht mehr jungen, aber ehemals auffallend hübschen Kopf. Seinerzeit brünett, eine Frisur nach griechischem Modell tragend mit stets farbigem Band über den Schläfen, unter dem eine kindlich gestutzte Lockengalerie hervorglomm, ein Mittelding zwischen neckischer Unschuld und mutwilligem Herrenbewußtsein der schönen Frau, hatte sie in den letzten Jahren ihre Haare kupferblond gelaugt. Die Frisur war jetzt straffer, das Gesicht bei Regelmäßigkeit etwas spitz, man hätte sagen können verlebt; ihre stramme Toilette, noch immer die Geschmeidigkeit eines abenteuergeübten Körpers betonend, gab ihr Vorsitzendenhaftes. An die wilden Schützlinge ihres Gatten hatte sie sich wegen des diabolischen Gestankes in den Nebenzimmern nicht gewöhnen können. Die Tiere merkten das und empfingen sie, durch das Gitter schnobend, das bei geöffneter Eisentür vorgeschoben wurde, mit räkeligem Unmut.
» Ouh!« rief sie angesichts der pantherischen Zerstörung im Zimmer des Diplomaten, die sie eines ihrer Lieblingsgemälde, das Bild mit den weidenden Kühen, gekostet hatte. Sie zankte, fühlte sich persönlich gekränkt durch die Blutgier des Raubtieres. Unvorhergesehenes, das nicht aus ihrem Hinterhalt stammte, ärgerte sie immer. So richtete sie auch ihr schwarzberingtes Lorgnon, scharf und pikant und böse wie eine doppelläufige Waffe, aus dem blonden weiblichen Gestrüpp ihres Haarbausches heraus, mit Neugierde und Mißbehagen auf den chinesischen Wärter. Dieser überbot sich in Ehrenbezeigungen. Sie schien mehr als unangenehm berührt, sie war bange und faßte den Arm ihres Mannes.
» Who is that?« fragte sie singend vor Empörung, daß man sie überraschte. Es waren nicht alle Seltsamkeiten der Welt von ihr abhängig; das bemerkte sie ungerne.
Der Chinese fühlte sofort, daß er nicht am Platze sei; er beugte sich den Tieren zu, San Remo führte seine Lady in das Arbeitszimmer zurück. Sie fahndete unzufrieden immer wieder nach der leeren Marmorstele – nie im Leben hatte sie dem Venusabguß so viel Aufmerksamkeit wie nun seiner Abwesenheit gewidmet.
» Ouh,« predigte sie, «Egone, das ist ein Unheil. Was hast du da getan. Woher nimmst du diesen neuen Zuwachs für deine Bestiensammlung?«
Egone fühlte sich gequält. »Schluß,« sagte er. »Er ist da. Er ist irgendwie hergekommen, meinetwegen durch die Erde, direkt aus der Djehennah. Ich bin froh, daß ich ihn hatte. Die Tiere fressen seit vierzehn Tagen nicht mehr. Dazu gehört Hand, die hat er, eine gewisse Ausdünstung …«
»Die hat er,« sang Missis Philomena Akte. » Ouh, wie du das tun kannst. Mir ahnt nichts Gutes. Diese Visage kenne ich. Wo haben wir mit diesem boy schon zu tun gehabt? Ich sage dir, ach, Egone, dieses Gesicht haben wir schon unter unliebenswürdigeren Umständen getroffen.«
»Diese Gesichter von Asiaten kann man nie unterscheiden, sie sehen einander ähnlich, wie ein Ei dem andern, von uns aus gesehen.«
»Verlasse dich auf meinen weiblichen Instinkt,« sagte sie, hochmütig auf die nationale Priorität ihres Geschlechtes pochend.
»Nein, darauf verlasse ich mich, nicht; Erinnere dich an Simson. Du hast ihn hier eingeführt, hast ihm hier als angeblichem Jugendfreund die Wege geebnet, hast ihm die Gesellschaft zusammengebracht und das Kapital zur Hälfte verschafft. Du bist noch weiter gegangen. Du hast meine Berufsehre aufs Spiel gesetzt, indem du mit ihm Wagen- und Autopartien und Fliegereskapaden machtest; es war mir nicht angenehm, wenn man mich in solchen Strohwitwerzeiten nach dir und deinem Saitafernes fragte.«
»Heliogabale, bitte,« rief die Gesandtin dazwischen, »Heliogabale Simpson. Du bist garstig, du bist abscheulich, du bist höllisch, du quälst eine arme Frau, wie nur ein europäischer Diplomat quälen und roh sein kann …« und Missis Philomena Akte mit dem holden Stirnband und der Charitinnenfrisur, dem gesetzten Profil und der allerdings elegant gesteigerten Quäkertoilette verwandelte sich in einen eigensinnigen Backfisch, nein in einen ungezogenen Jungen. Sie strampfte mit den Füßen, kaute ihr Taschentuch, schluchzte und warf sich in einen Easychair, daß man bis zu den Hüften ihre wundervollen schlanken Beine in den straffen Strümpfen und niedlich hochgeschlossenen Schuhen sehen konnte. Diese kokottenhaften Beine waren die Begründung zu ihrem verwüsteten Gesicht, aus dem unsaubere Frauenleidenschaften, versteckte und perverse Genüsse, tiefste körperliche Unmoral beinahe derb hervortraten. Diese Beine, die auf die gertenhafte schlanke Zähigkeit und die manische Genußsucht des übrigen schamlosen Körpers hinwiesen, der sich unter einer Haltung von geradezu hochmoralischer Spannung versteckte – was wohl zur höchsten Befriedigung ihrer verdrehten Sehnsucht gehörte –, diese Beine gaben auch Aufschluß darüber, wie es der jetzt nichts weniger als hübschen Person möglich war, zu ihrem verderbten Gesicht zu kommen. Vor dem Argument der wie die üppigen rigiden Stempel aus einem Rüschenkelch von Hosen, Seidenwäsche und Rockpuffen hervorragenden Beine wurde auch die staatsmännische Autorität des Gesandten kurzfristig. Er sagte kleinlaut: »Also Heliogabale Simpson, meinetwegen. Wie der Schmachtfetzen von Hochstapler im Tête à tête hieß, ist mir egal, denn ich bin aus Reinlichkeit zur Annahme gezwungen, daß du so weit nicht gekommen bist, um seinen Vornamen in Anspruch zu nehmen. Was aber war der Erfolg deines weiblichen Instinktes, he? Du hast mir und dir und der Stadt und der großen Politik zu einem Skandal verholfen. Danke schön. Ich verzichte auf deine weiblichen Instinkte für Menschen …«
Sie flatterte auf, blickte irr und gräßlich getroffen umher. Plötzlich stürzte sie mit aufgerissenen Augen und lässig hängendem, von einer schrecklichen Erwartung kostendem Mund an den Schreibtisch und klemmte etwas in die nervige laszive Faust. Wie ein spielendes Kind, vollständig aus ihrer Größe und Erwachsenheit verloren, schmiß sie sich mit dem Kopf und beiden Händen auf die Mitte von San Remos starkem Leib, der ihr instinktiv mit seiner Wucht entgegenprallte: er traf auf ihre unvorbereiteten Fäuste und ihre Stirn und warf sie um, er über ihr, schlug ihr die Fäuste weg, und der Papierdolch flog in den Teppich. Erschauernd sah er noch in dieser Lage, an seinem Bauch herunter, guter Gott, es war nur der Knopf an der Weste gewesen, der ihn durch den Anprall geschmerzt hatte …
Kaum hatte er sich wirr erhoben, so schlug ihm Philomena Akte das Lorgnon hart auf den Kopf, so daß es in Scherben ging. Er schüttelte sich, fühlte sich sofort unwohl, mußte sich setzen. Sie, plötzlich ganz befreit und wie aus einem anstrengenden Vergnügen erwachend, bekam förmlich ein glückliches Gesicht, lächelte ihm, wie über ihre eigene eigensinnige aber gern zugestandene Torheit entzückt zu, und verließ das Zimmer.
Als sie aufdrückte, streifte sie an den Diener in Pantalons, der mit Postsachen aufwarten kam.
Der Lakai Morel fand seinen Herrn in unpäßlichem Zustand vor. Er legte die Postpakete auf den Schreibtisch, der stark in Unordnung versetzt war. Da San Remo am Kanapee lag, die Handfläche auf die Augen drückte und sich nicht rührte, fuhr Morel mit ungewissen Seitenblicken nach dem Liegenden fort, im Zimmer und in der Umgebung des geheiligten Schreibtisches Ordnung aufzuschichten. Er legte die Aktenbündel auf den Tisch, klaubte den Papierdolch von der Teppichwolle, in die er sich mit schräg eingesenkter Klinge verfilzt hatte, rückte die Sessel rechtwinklig und begann nun die besonders zerfetzten Akten und Schriften zu glätten und einzupassen, einige Seiten hatten sich zerdrückt oder verloren; eben war er daran, eine in einer Kartenfalte gesammelte Papierlage, auf deren Etikette »Geheimbau« mit Rundschrift und Tusche einziseliert war, zu schichten, als San Remo aufsprang und, sich wie schwindelnd an die Sofakante stemmend, gepreßt, mehr bittend als befehlend verlangte: »Stehenlassen. Holen Sie mir den Arzt, ich … bin … krank …« Er sank wieder schief hin.
Morel überzeugte sich, daß er atmete und wahrscheinlich auch nicht ohnmächtig war. Er lüftete den Telephontaster und verständigte Doktor Brehm, den Hausarzt.
»Es ist nichts, gar nichts, Doktor,« sagte San Remo schnell, »bitte verschreiben Sie mir nur ein Fiebermittel, Schweißausbruch, Schwäche. Sie wissen, das Bekannte …«
»Malaria,« nickte der Doktor und verschrieb. Morel zog sich um und ging es besorgen. »Ruhe, Ruhe, Überarbeitung – Luftwechsel,« erklärte Brehm, fingerte am Puls, klopfte das Gelenk und ging. »Ich komme nach dem Essen wieder.«
Dann kam Morel, und San Remo nahm das Mittel, Opium- und Chininmischung. Nein, danke, er wollte sich nicht ausziehen und niederlegen. Es würde sich durch Beherrschung geben. Morel machte Anstalten, aufzuräumen. San Remo schüttelte den Kopf. Nur Ruhe, sonst nichts. Er streckte sich wieder am Kanapee aus, trank Wasser hinter dem Mittel her. Morel hörte, wie er hinter ihm die Türe sperrte. Den ganzen Tag über trat Morel nicht über die Schwelle und San Remo nicht über sie hinaus. Wenn der Gesandte stark arbeitete oder nach Auftritten mit der Lady pflegte es öfter so zu sein. Einige Male hörte man gedämpft sprechen, deutlich den Unterschied zwischen San Remos festem Bariton und einer hohen frauenhaften Stimme. Zu Mittag fiel die Telephonklappe am Register im Vorraum, ein Zeichen, daß zwischen dem Arbeitszimmer und der Außenwelt gesprochen wurde.
So sah es der Diener Morel, unerschüttert im Gleichmaß des täglichen Dienstablaufes, der ihn im Hause des Diplomaten und seiner abenteuerlustigen Frau vielen Überraschungen aussetzte.
Kaum aber hatte San Remo hinter Morel zugesperrt und wieder sein Lager in dem weichen Gepolster des Kanapees bezogen, als lautlos neben ihm wie eine Fiebergestalt der Chinese aus den Formen der Tapete und geblümten Wandteppiche hervorschritt.
San Remo erschrak diesmal nicht. Die Figur erschien ihm wie eine zu seiner Lage gehörige Erscheinung, ein Stück fieberentsprossene Unwirklichkeit, von der er sich in den kühleren Augenblicken seines zur äußersten Bewußtheit dressierten Gehirns Rechenschaft gab. Er hielt lange Gespräche mit Tschun-Lun und wußte doch, daß sie irreal seien, nach außen ins Optische und Akustische geworfene Wallungen seines Blutes, Delirien. Er fingierte sogar den höheren Tonfall von des Partners zirpender Stimme. Lächelnd voll der Ironie und des Zweifels vernunftgespannten Europäergeistes sah er den Halluzinationen seines kranken Ichs zu, bemitleidete seine eigene illusionsgierige Hysterie, die ihn mit Wollust in Szenen und Umstände zurückversetzte, die er einmal, vor Jahren, als er noch Gesandter im tiefsten China war, erlebt hatte … persönlich erlebt oder doch lebhaft mitgedacht hatte, wenn davon die Rede war. Er sah, wie Tschun-Lun im Hause tätig war und ihn mit feinen und zurückhaltenden Gebärden bediente. Er ordnete den Schreibtisch und diesmal fand San Remo es natürlich, ungefährlich, entdeckte keinen Anlaß, ihm die Berührung des Aktenstückes über »Geheimbau« zu verbieten: Einen Augenblick verweilte Tschun-Lun bei dem Papiermesser, einem scharfen malayischen Krisch, dessen Schneide er mit pfiffiger Kennermiene prüfte.
San Remo empfand es in seinem Zustand wie eine Wohltat, wenn ihm die Erscheinung des Chinesen mit ihren sanften spinnenartigen Bewegungen nahekam; sie näherte sich allemal wie ein vager ätherischer Druck, wie eine warmprickelnde Rauschwelle. San Remo wußte plötzlich ganz gut, daß dieser heimliche Chinese in seinem Zimmer gar nicht vorhanden war, sondern nur der spielerische Spuk seiner Träume, hervorgerufen vielleicht durch das Fieber, vielleicht durch die abnormale plötzliche Dosis Opium, die er eingenommen hatte. Tschun-Lun, so ein beiläufiger chinesischer Name, so konnte jeder heißen, und vielleicht hatte einer der vielen harmlosen Chinesen, die ihm im Leben begegnet waren, diesen Namen getragen.
Jetzt tauchte es in seiner ihn dahinschmelzenden Erinnerung auf, weite Übergänge koppelten die Dinge seines Lebensinhaltes von einst und jetzt, von ganz fern und ganz hier und heute zusammen. Wer Tschun-Lun hieß, war harmlos. Darum ließ es San Remo wie gebannt von einem grauenvollen Lustgefühle, aber stets darüber lächelnd im klaren Teil seines Bewußtseins, geschehen, daß die verschwimmende Figur des alten gütigen Chinesen an sein Lager trat und sich mit intimer Bewegung über ihn beugte. Diese Bewegung, gegen den Bauch ausgeführt, beengte den Schlund. Eine leise Überwindung war für den Europäer, der sich den gelben Mann nicht nahe zu kommen lassen pflegt, natürlich. Trotzdem überstand er sie.
Er sah auch mit einem Male ein verwandtes Bild vor sich, sich selbst in einer den Körper wunderbar nachahmenden senkrechten Bahre und über sich einen großen dicken lau anzufühlenden Chinesen, der sich mit Zweihundertpfundgewicht schwerwolkig über ihn ballte, Remos Gesicht in den mächtigen weichen Händen drehend, kneifend, knetend, walkend, schabend, beinahe zwei Stunden lang; er zapfte ihn an dünnsten Härchen bis zu Tränen, die Haut glühte, Ohren, Nasen, Falten waren bis auf das letzte Stäubchen Talk gereinigt, er kam sich, als er dann wie geschält in die Sonne trat, vor, als blase das Licht durch ihn hindurch wie durch dünnen Ton.
Trotz der zweistündigen genauen Qual, die dieser Barbierversuch ihm bereitete, empfand er ihn infolge der öligen Glätte der gelben Hand, die ihn massageartig umschmiegte, wie eine Wollusttraufe, er hatte dem riesenhaften götzblickigen dünnstimmigen Chinesen gegenüber das einzige Mal jenes hingebende zerschmachtete Gefühl einer Frau vor der männlichen Übermacht. Sein Kopf klang ihm wohlig wie ein harfenes Instrument bis in die Leisten hinab; es rieselte aus allen Poren, er unterwarf sich da ein einziges Mal in seinem Leben einem für ihn als Europäer undurchdringlichen Wissen und Können und Wollen.
Der machtvolle chinesische Übermensch, ein Mann, der sein Barbiergeschäft verstand, ein Künstler des menschlichen Körpers, der ihm mit Zymbeln und Glöckleins zu spielen schien, als er daraufhin für den restlichen halben Tag seine Hände und Finger, Füße und Ferse und Zehen in Angriff nahm, der sechstausend Jahre alte geriebene Handwerker erschien damals wie ein Philosoph des tiefsten körperlichen Daseins, ein Reiniger, Luftdurchleuchter, Veredler, Gasausbläser, Darmschleuser …
Das Gesicht seines Besuches Jack Slim sprang plötzlich auf den pferdestarken Nacken des Barbiers; dann schrumpfte dessen Leib ein, und San Remo sah es und duldete es, daß sich die Erscheinung mit den festen zupfenden Griffen wie damals der Barbier an seinem Leibe zu schaffen machte. Auch wenn er nur die Weste, den äußersten Rockzipfel aufhob, so war es so ätherisch und sublim, daß San Remo dies empfand, als ergriffe jener mit kunstgeübten glatten Fingerballen große Lappen Fleisch seines hingegossenen Körpers, lustdurchblutete Organe, die er mit energischer Freundlichkeit behandelte.
Tschun-Lun beugte sich gerade über den Unterleib, über die scharfe Stelle, die San Remo dort als seine Ohnmacht fühlte. San Remo duldete mit Skepsis und Grauen, daß er die Weste öffnete und über den Hosenbund und das Hemd anstandslos bis zur nackten Haut durchdrang. Er bohrte seinen Finger wie einen lauen Strahl hinein. San Remo erfuhr ein etwas zusammenziehendes Gefühl, er panzerte sich dort förmlich an einer flauen Stelle mit gerafftem Leben, er verhornte sich in einem inneren angenehmen Bluterguß. Dazu sagte Tschun-Lun eine einförmige Besprechungsformel her, eine metallene Ratsche, rhythmisch wie eine Sure und mit Worten klöppelnd wie die Begleittakte zu dem Wettrennen der Gebetmühlen in Tibet. Allaleit.
San Remo spürte, wie innerlich eine dunkle Drüse platzte und lichte Perlenreihen durch seinen Leib ergoß; eine glucksende Quelle reisender Freudigkeit lief in ihm über. Zugleich trug er einen unirdischen leichten Stempel an seinem Bauch … er merkte deutlich die Leichtigkeit im Verhältnis zu den anderen Körperteilen, er war wie befreit, als ob man ihm vorne eine langgewohnte Last abgenommen hätte. Mit leisem Bedauern fürchtete er, aus dieser blendenden Einbildung erwachen zu müssen, erkennen zu müssen, daß alles so flach und lustlos war wie je, und daß in seinem Zimmer kein Chinese Tschun-Lun, der sowohl Jack Slim als dem chinesischen Barbier von damals ähnlich sah, existierte. Eine dumme Rechthaberei einer zurückgestauten Gehirnfunktion versuchte durchzusetzen, daß er schon seit heute morgen, vielleicht schon seit Tagen, seit er dem alten Brackwasser im Gartenbottich zu nahe gekommen war, die Malariakeime in sich verwalte. Schon seit morgens hatte er Erscheinungen: die Chinesenfratze rührte gerade daher; daß er sich kürzlich, tief über eine undefinierbare Person erschreckend, die sich vor seinem Garten am Bürgersteig herumtrieb, eingebildet hatte, daß sie chinesische Züge trage.
Langsam erwachte San Remo, ein erquickliches Besserungsgefühl im Leibe. Er war allein, sein halbklarer Geist begriff, daß er deliriert habe; aber er begriff auch, daß er sich nach diesen raumweiten glückseligen Vorstellungen sehnte, und so ging er noch etwas taumlig und in halbwachem Zustand zum Telephon und sagte die letzte Störung ab, die ihn heute aus seinem unbeschreiblich mattseligen Zustand hätte reißen können. Dann legte er sich offenbarungsbereit in den warmen Kontur, den sein Körper noch in den Polstern gelassen hatte, sorgfältig die frühere Zuständlichkeit und Lage erneuernd.
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