Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Steward faltete das Blatt zusammen und zog aus einer Spezialtasche einen Packen Papiere, zu denen er es legte. Er sprang in der Tram-Avenue aus der fahrenden Car und bog in eine Villenstraße ein. Ja, hier war es, 26. Straße im Distrikt K 14. Zum soundsovielten Male ging er den Plan durch, der auf Seite 16 unter dem Papierpacken lag. Er verglich, war unzufrieden. Er prägte sich die Aufeinanderfolge der Liniengänge ein. Als er die Papiere wieder versorgt hatte und die Straße zwischen den vornehmen Landhäusern inmitten ihrer Gärten hinauflief, von einem Polizeiposten an der Straßenecke gegrüßt, stürmte ein altes Weiblein hinter ihm her. Sie schrie die Mittagsausgabe des »Mercury of Oaxa« aus, Verständnis suchend für das Ereignis, das sie selbst belebte. Steward fing ein Blatt gegen einen Nickel. Er las es zweimal. »Die Witwe gesteht.« Die Lettern brannten rot und fingergroß.
Steward war denn doch ein wenig befremdet. Er hatte die herkömmliche bureaukratische Polizeiarbeit nie geliebt, er war immer ein freihändiger und wilder Deuter kriminaler Ereignisse gewesen und die subalterne Reptilienarbeit der öffentlichen Organe hat ihn immer gelangweilt und oft gestört. Die Ergebnisse, die durch sie herauskamen, mündeten oft nicht weit von Dummheit. Aber dieser Kovary, so prototypisch er für ein gewisses System sein mochte, war doch in seiner Art eine erstaunliche, ja gefährliche Macht. Beinahe hätte sich selbst Steward von dem Titel jener Meldung im Mittagsblatt niederlegen lassen; aber er las die näheren Einzelheiten und sagte sich, daß der Titel eine, diesmal vielleicht unbewußte journalistische Fälschung sei. Die Lady gestand ja gar nicht. Sie gab lediglich, unter dem Druck des Bohrpatentes, das Kovary zu verwenden pflegte, nach und ließ den Chinesen fallen. Kovary hatte ihr das Rückgrat um ein Stück weiter gebrochen. Jetzt stellte sich die Affäre so dar, daß die Lady zugab, sie hätte den Chinesen erfunden. Sie habe aus irgendeiner seltsamen Suggestion, die sie nicht erklären könne, gelogen. Ihr Mann sei ein Chinesenfex gewesen; und diese Manie seines Wesens habe sie schon oft auf die kuriose Idee gebracht, es stünde ihm von seiner Fixation her ein Unglück bevor. Sie habe an jenem Tage kurz vor sechs seine Leiche entdeckt. Über den Mord wisse sie so wenig wie über das Verschwinden des Dossiers.
Steward stand einen Augenblick still. War es möglich, daß der Chinese wirklich nur eine mehr oder weniger bewußte Erfindung der Lady sei? Kann man durch falsche stoffliche Anhaltspunkte von seiner eigenen Phantasie zu falschen Schlußketten verführt werden? Er empfand die Aussagen der Lady, wie schon oft während dieses Falles, als einen Akt der Ironie, der von irgendeiner ihm feindlichen Seite ausgehe. Die Aussagen der Lady verneinten nicht nur seine Auslegung des vorliegenden Falles; er hielt ja die Lady für unschuldig; sie karikierten gleichsam auch das neue »subjektive Verfahren«, wie er es nannte, das er dem bisherigen objektiven Verfahren der Leute vom Schlage Kovarys entgegensetzen wollte.
Nein, Kovary war auf falscher Fährte. Seine Brutalität und der Glaube an die Wirkung seiner Person machten ihn dumm. Steward klopfte zur Versicherung an die lange Tasche innen am Rock. Da drin stak das Dossier, das er sofort an sich genommen hatte, ohne daß es jemand wußte. So falsch wie die Vermutungen Kovarys und seiner öffentlichen Anhänger, die sich auf das Dossier bezogen, waren auch die übrigen Schlüsse der Polizei.
Steward hatte ein anderes Verfahren. Er würde, kommt Zeit, damit hervortreten. Dieser Fall war wie geschaffen, um es zu erweisen.
Ja, dies war der Ort. Steward orientierte sich, obwohl es diesmal Tag war, genau so wie damals bei Dämmerung. Sogar der Polizist, der den Rayonsposten innehatte, war gerade derselbe wie damals, Schutzmann III/127. Und Steward reproduzierte sich, was damals seiner innersten Anschauung nach vor sich gegangen war. Denn dies war sein neues, das subjektive Verfahren. Er war überzeugt, daß eine Periode der Menschheit kommen würde, wo die Verbrechen nicht aus Notdurft, sondern aus Liebhaberei, Geist, Elan und Langeweile getan werden würden. Verbrechern dieser Art war mit mechanischen Mitteln nicht beizukommen. Man mußte eine Art Dichter werden, um ihren sonst unerklärlichen Wegen zu folgen. Der Beruf des Kriminalisten, der diesen Feinden entgegentreten wollte, verlangte also etwas wie eine Athletik der Einfühlung.
Steward war damals vor das Haus San Remos gekommen. Es lag verödet, mit einem Posten davor. Der Anschlag im Gesandtschaftsviertel war ähnlich wie die Verständigung Stewards in Chicago durch anonyme Anzeigen vorbereitet worden. Steward heftete sich an die Fersen einer mit ihm zugleich ankommenden Persönlichkeit, einem ebenso berühmten als berüchtigten amerikanischen Forscher. Er kannte dessen Leben und Werke, seine Taten, seine Bücher. Er vermochte sich in ihn hineinzuversetzen. Er verfolgte ihn also nicht nur auf seinen Wegen in Oaxa, sondern auch auf seinen Gedanken, wie er annahm.
Er sah ihn herüberkommen, damals vor vierzehn Tagen, und hinter dem Gitter zu San Remos Palais verschwinden. Als er wiederkam, waren drei Stunden vergangen. Es dunkelte. Und da hatte Steward alles mögliche untersucht. Der eine Bottich funkelte, es erwies sich, daß er eine schadhafte Stelle besaß, sozusagen einen Sehschlitz. Inzwischen hatte sich in dem Stadtwäldchen gegenüber eine auffallende Figur eingefunden. Der Forscher trat vor das Schnappgitter. Was mochte er da wohl denken hinter seiner dunklen Stirn? Es konnten ja die Gedanken aus seinen Büchern in seinem Kopf sich mit aktuellen Eindrücken verquicken. Er sah sich um, Stewards Blick begegnete dem seinen. Dadurch vereitelte Steward, daß der Forscher sich geradewegs zu der anrüchigen Figur begab, die gegenüber beim Gärtchen auf dem Eisenband-Zaun lauerte. So bediente der Mann sich denn eines raffinierten Mittels, um über seine Erfahrungen eine Mitteilung zu hinterlassen. Er warf sein Diagramm auf das feuchte Beet eines der Alleebäume. Steward erinnerte sich, daß es mit dem Plan im Dossier übereingestimmt haben konnte. Es war ein wenig roh gewesen und undeutlich. Daß der Amerikaner mit der Figur beim Wäldchen sprach, konnte verhindert werden. Er wurde durch den Rayonsposten vertrieben. Bedauerlich war, daß man dem Kerl die Wünschelrute nicht hatte abnehmen können. Aber Steward würde sich schon solch ein Stück zu verschaffen wissen.
Steward sah nicht nur klar, sondern auch tief. Es gab zwei Personen, die sich mit Hilfe eines sehr raffinierten Registrierapparates und auf Grund persönlicher Augenscheinnahme in den Besitz einer Kenntnis jener unterirdischen Gänge bringen wollten, die besonders das Gesandtschaftsviertel unterminieren und in die großen künstlichen Teiche von Oaxa münden. Im Zusammenhang mit der Anwesenheit von Japanern in den mitteleuropäischen Städten und in Anbetracht des heiklen Standes der Weltpolitik, die auf einen Rassenkrieg deutete, war diese Absicht ominös. Von ihr durfte nicht gesprochen werden.
Die beiden Personen waren ein Amerikaner und, wie man deutlich erkennen konnte, ein Asiate.
Was hatte der Amerikaner mit San Remo gesprochen? Auch darüber glaubte Steward kombinieren zu können.