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Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts befruchten die englischen Einflüsse den Kontinent. Auch hier wird der Vergangenheit der Krieg erklärt und auf allen Gebieten des Geisteslebens nach neuen Zuständen gesucht. Das Bürgertum betritt die Staffel, die es zur Macht emporführt.
Selbstverständlich konnte diese Emanzipation nicht in friedlicher Stille sich vollziehen. All die Kämpfe, die England schon im 17. Jahrhundert gehabt, waren auf dem Kontinent erst durchzufechten. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutet also für die andern Völker eine Zeit des Sturms, in der zwei Kulturen sich scheiden.
Litterarisch übernahm Deutschland die Führung. Hatten vorher die deutschen Fürstenhöfe ihren Stolz darin gesucht, kleine Kopien von Versailles zu sein, so wird jetzt die Einfachheit und Natürlichkeit der englischen Sitten als vorbildlich hingestellt. Auf die Epoche Augusts des Starken und der Gräfin Königsmarck folgt zunächst das Zeitalter, dem der biedere, brave, moralische Gellert das Gepräge giebt. Alle englischen Schriftsteller – Smollet wie Sterne, Richardson wie Goldsmith – fanden weite Verbreitung. Während es vorher allgemeines Gesetz war, nur Fürsten und Feldherren sei das Vorrecht tragischer Würde einzuräumen, erhält jetzt das Drama einen bürgerlichen Charakter. An die Stelle der Tragödien, die von Königen und Staatsmännern handeln, treten solche, die in bürgerlichen Kreisen spielen. Und mit dem Bürgerlichen kam das Nüchterne, Didaktische, platt Verständige von England nach Deutschland herüber.
Dann ein weiterer Scenenwechsel, und auf das Zeitalter des spießbürgerlichen Moralisierens folgt das der wilden Genialität. Nachdem sich einmal der geistige Horizont verändert hatte, fühlte man desto mehr sich eingeklemmt in einer Wirklichkeit, die nichts mit der erträumten gemein hatte. Aus dem Pedantischen, dem Zopf, der sozialen Hierarchie sehnt man sich »nach des Lebens Bächen, nach des Lebens Quellen hin«. Man will von vorn anfangen, schwärmt für die Menschen der Vorzeit, sucht ihnen an Kraft und verwegener Kühnheit zu gleichen. Darum schwelgt man in Parforcemärchen und in tollen Ritten, in nächtlichen Eisläufen und wilden Jagden. Statt seidener Schuhe trägt man Stulpenstiefel, bevölkert die germanischen Wälder mit Barden und Druiden, träumt von gotischen Domen und Rittern mit gepanzerter Faust. Auf das sanftmütige Schriftstellergeschlecht folgt ein kriegerisches, das aus Blut und Eisen eine neue Welt formen möchte. 1774 erscheint Goethes Werther, eine Liebesgeschichte, doch zugleich das Manifest eines jungen Titanen, dessen Freiheitsdrang alle Scheidewände der Gesellschaft sprengt. Bald darauf kommt Schiller mit jenen Erstlingswerken, die eine Kriegserklärung gegen alles Bestehende waren. Der zornig aufspringende Löwe mit der Inschrift »In Tyrannos«, den die Titelvignette der zweiten Auflage der Räuber zeigt, ist der innerste Ausdruck der Stimmung, die das Zeitalter durchglühte. Mit scharfer Betonung nennt sich »Fiesko« auf dem Titel ein »republikanisches« Trauerspiel, »Kabale und Liebe« greift mitten in die Fäulnis der Gegenwart hinein.
Auch das landschaftliche Empfinden macht eine Wandlung durch. Dasselbe Naturgefühl, das in England Thomsons Jahreszeiten entstehen ließ, kommt bei uns zu Worte. Kleist schreibt 1748 seinen Frühling. Haller feiert die großartige Natur des Hochgebirges, führt in Felsenhöhlen und einsame Wälder, wo kein Licht durch finstere Tannen strahlt. Noch folgenreicher wurde das Eingreifen Rousseaus, mit dem für den Kontinent eine neue Epoche des Naturempfindens anhebt. Denn nicht für jene künstlich hergerichtete Ländlichkeit schwärmt er, wie Boucher und Fragonard sie malten: für jene Landschaften mit Taubenschlägen und Windmühlen, mit Cascaden, Meiereien und Strohhütten, wo die vornehmen Damen, der Parkanlagen Lenôtres müde, in seidenem Schäfergewand die Kühe melkten. Er preist die Majestät der einsamen, von Menschenhand unberührten Natur, die Herrlichkeit himmelstarrender Felsen und tosender Wasserfälle, spricht von düsteren, nebelumwobenen Fichtenhöhen, vom Glitzern der Sonnenstrahlen auf beeisten Bergzacken, von taufrischen Wäldern, in denen die Vögel zwitschern. War für das ältere aristokratische Geschlecht die Landschaft nur Hintergrund der geselligen Freuden des Tafelns, so liebt man sie jetzt in ihrer erhabenen Einsamkeit. Statt des Zephyrfächelns wird der brausende Wind, statt des Bukolischen das wilde Toben der Elemente gefeiert. Manche landschaftliche Schilderungen in Goethes Werther sind von einer modernen Feinheit, als hätte er Bilder von Dupré, von Corot oder Daubigny beschrieben.
Doch sucht man nach Kunstwerken, die diese Genieperiode der deutschen Litteratur entstehen ließ, so ist das Ergebnis ein äußerst geringes. Was für den Literarhistoriker ein Heldenzeitalter bedeutet, ist für den Kunsthistoriker eine Oede. Nicht zufällig. Denn während die Litteratur neue Weltalter vorbereitet, kann die Kunst nur auf der Basis einer ruhigen, abgeschlossenen Kultur sich erheben. Auch im bürgerlichen Holland und im bürgerlichen England war sie nicht während der Kämpfe hervorgetreten, sondern erst, nachdem die bürgerliche Kultur ihre feste Ausprägung erhalten hatte. Und in Deutschland dauerte die kunstlose Zeit um so länger, als hier – noch weit mehr als in England – die neue Kultur einen specifisch litterarischen Charakter annahm. Schillers »tintenklecksendes Säkulum« brach an. Alle Kräfte zog die Litteratur in ihren Dienst. Alle Welt lauschte den Worten der Schriftsteller. Das Buch wurde der Begleiter des Menschen. Die Kunst hatte in der neuen Welt nur insoweit Berechtigung, als sie dem Schrifttum diente. Wie in England Hogarth ein Glied der großen literarischen Bewegung ist, dankt in Deutschland Daniel Chodowiecki allein dem Umstand seinen Ruhm, daß er seinen behenden Grabstichel in den Dienst der Schriftsteller gab.
Nachdem Lessing in der Minna das erste bürgerliche Schauspiel geschaffen, versuchte Chodowiecki der Zeichner deutschen Bürgertums zu werden. In einer Zeit, als niemand ohne Buch in der Tasche ausging, fand er seinen Beruf darin, die Klassiker zu illustrieren. Freilich vom Geiste der großen Schriftsteller hat er nichts. »Der wackere Chodowiecki« pflegt Goethe ihn zu nennen, und das ist die einzig mögliche Bezeichnung. Im Grunde seines Wesens ist er Spießbürger, ebenso treuherzig und redselig wie hausbacken nüchtern, ein echter Typus jenes Berlinertums, das in der gleichzeitigen Literatur durch Nicolai vertreten ist, später in Krüger noch einmal auflebte und mit Menzel fast zur Genialität sich erhob. Platt, breit und gemeinverständlich behandelt er seine Stoffe. Je mehr ein Schriftsteller bieder, ehrbar und klar ist, desto congenialer illustriert ihn Chodowiecki. Der brave sanftmütige Gellert ist ihm lieber als der geistvolle Lessing. Gleim, Campe, Kotzebue liegen ihm besser als Bürger, Mathison und Wieland. In diesem biederen Hausverstand ist sein Oeuvre nur der Spiegel der Aufklärungszeit, nicht der genialischen Sturm- und Drangzeit. Eines seiner schönsten Blätter zeigt ihn am Fenster sitzend, mit Zeichnen beschäftigt, im gemütlichen Kreise der Seinen. Das Sofa bildet den Mittelpunkt des Wohnzimmers. Um den Sofatisch hat sich die Familie vereint. Und dieser Sinn für die Gemütlichkeit deutschen Familienlebens ist der Grundzug seiner biedermaierisch freundlichen, lächelnd harmlosen Kunst.
Neben der Klassikerillustration spielt allein das Bildnis eine Rolle. Und auch hier verfolgt man, wie allmählich die Aristokratie das Mäcenat an das Bürgertum abgiebt. Antoine Pesne aus Paris, der als Akademiedirektor in Berlin lebte, ist noch der Typus des Hofmalers. Fast ausschließlich für die Aristokratie ist er beschäftigt. Aber selbst in diesen Bildnissen überrascht etwas Massives, Derbes im Gegensatz zu der leichten Koketterie und rosigen Weichlichkeit des Rokoko. Ernst sind die Mienen, ernst die Gewänder. Pesne ist schon der Hofmaler eines Hofes, der der Anschauung huldigt, daß der König nur der erste Diener seines Staates sei.
Balthasar Denner aus Hamburg wurde der erste Porträtist des emporkommenden Plebejertums, jener Kreise, die zur Kunst noch kein Verhältnis hatten und vom Bilde die banale, möglichst genaue Reproduktion der Wirklichkeit forderten. Um diesen Wünschen zu entsprechen, stellte er sich auf den Boden Gerard Dous. Jede Runzel, jede Hautfalte wird genau verzeichnet, jedes Haar vom Pelz, jedes Schillern der Sammetmütze gewissenhaft notiert, das Ganze so ausgefeilt, daß nichts von der Handarbeit des Pinsels zu sehen ist, sondern das Bild das Aussehen einer Porzellantafel erhält.
Eine Reihe anderer Bildnisse spiegelt die geistige Erhebung Deutschlands wider. Besonders die »Freundschaftstempel« sind für die Aufklärungsepoche bezeichnend. Schon 1745 hatte in Halberstadt Gleim begonnen, die Bildnisse berühmter deutscher Männer zu sammeln. Später legte Philipp Erasmus Reich in Leipzig, der Besitzer der Weidmannschen Buchhandlung, der als Verleger in Beziehung zu berühmten Männern gekommen war, jene Sammlung an, die sich heute in der Universitätsbibliothek in Leipzig befindet. Der Geschichtschreiber dieser Epoche zu werden, war Anton Graff berufen. Wie Chodowiecki die Klassiker illustrierte, porträtiert sie Graff, und durch die Kupferstiche Bauses werden seine Bildnisse ins Volk getragen. Gellert und Bodmer, Geßner und Herder, Wieland und Lessing, Schiller und Bürger, Weiße und Rabener, von Philosophen Sulzer und Mendelssohn, von Schauspielern Iffland und Corona Schröter, von Gelehrten Ramler, Lippert und Hagedorn, hat er gemalt, hat den literarischen Größen des 18. Jahrhunderts die Gestalt gegeben, unter der sie fortleben. Und fast noch mehr als in den Schriftstellerbildnissen Reynolds' spiegelt sich in denen Graffs das rein geistige Wesen des neuen Weltalters wider. Kein Beiwerk giebt es. Selten malt er die Personen in ganzer Figur. In den Köpfen allein mit den mächtigen Denkerstirnen ist das Leben konzentriert. Augen blicken uns an, die nicht mehr an Menuette und Bals champêtres denken, sondern die Kritik der reinen Vernunft gelesen haben.
Außer der Klassikerillustration und dem Klassikerporträt hatte vorläufig die neue Welt keinen Kunstbedarf. Denn es ist ein dürftiges Ergebnis, daß Wilhelm Tischbein 1784 einen Conradin im Geist des Bodmerschen Bardentums malte. Und Goethes wunderbare landschaftliche Schilderungen im Werther lesen sich ebenfalls angenehmer, als sich die Bilder der gleichzeitigen Landschafter betrachten. Es ist sogar ein sehr bezeichnender Zug, daß damals jene litterarische Naturmalerei aufkam, die Lessing später im Laokoon bekämpfte. Die geschriebenen Landschaften wurden den gemalten vorgezogen. Und die gemalten sind auch litterarisch oder lediglich des gegenständlichen Interesses wegen geschätzt. Salomon Geßner amüsiert sich damit, daß er die idyllischen Plätzchen, die er in seinen Gedichten besingt, auch in Radierungen darstellt. Philipp Hackert wurde der Chodowiecki der Landschaftsmalerei, erzählte den deutschen Bürgern mit nüchtern redlicher Sachlichkeit, wie es im schönen Italien aussieht. Der Tiermaler Elias Niedinger fand Beifall durch die zoologische Genauigkeit, mit der er Hunde und Pferde, Hirsche und Rehe, Elefanten und Nilpferde in seinen Stichen verewigte. Noch nicht fähig, mit dem Auge zu genießen, schätzte man die Malerei nur, insofern sie Nutrimentum spiritus war. In der eisigen Welt des Gedankens mußte die Schönheit erstarren. Nachdem man vom Baum der Erkenntnis gegessen, wurde man aus dem Paradies der Kunst vertrieben.