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Die Anmerkungen am Ende eines jeden Kapitels wurden in Form von Fußnoten direkt in den Fließtext eingearbeitet.
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Einleitung

Kakuzo Okakura, der Verfasser dieses Buches über japanische Kunstideale, ist den Japanern und anderen Völkern schon längst als die erste lebende Autorität auf dem Gebiete orientalischer Archäologie und Kunstgeschichte bekannt.

1886 wurde er trotz seines damaligen jugendlichen Alters zum Mitglied der kaiserlichen Kunstkommission ernannt, das von der japanischen Regierung nach Europa und den Vereinigten Staaten hinübergesandt wurde, um die dortige Entwickelung der Kunst und ihre Strömungen zu studieren. Weit davon entfernt, von seinen Erlebnissen überwältigt zu werden, entdeckte Herr Okakura ganz im Gegenteil, daß seine Liebe zur asiatischen Kunst sich durch seine Reisen noch vertieft und verstärkt hatte, und seit jener Zeit suchte er seinen Einfluß in der Richtung einer Erstarkung und Wiederbelebung der japanischen Kunst auf nationaler Grundlage geltend zu machen, wodurch er in bewußten Gegensatz zu der im Osten heute so in Mode gekommenen Neigung zur Pseudo-Europäisierung trat.

Nach seiner Rückkehr aus dem Westen wurde Herr Okakura in Anerkennung seiner Verdienste und Überzeugungen von der japanischen Regierung zum Direktor der neuen Kunstschule in Ueno, Tokio, ernannt. Politische Umwälzungen aller Art hatten jedoch zur Folge, daß immer neue Wogen des sogenannten Europäismus gegen die Schule anprallten, und 1897 wurde darauf gedrungen, daß von nun ab den europäischen Lehrmethoden ein wachsender Spielraum einzuräumen sei. Herr Okakura reichte seine Entlassung ein. Ein halbes Jahr später hatten sich neununddreißig der begabtesten jungen Künstler Japans um ihn geschart und die Nippon Bijitsuin, die Halle der schönen Künste, in Yanaka, einem Vorort Tôkyôs, eröffnet, von der im vierzehnten Kapitel des vorliegenden Buches die Rede ist.

Wenn wir Herrn Okakura mit einer gewissen Berechtigung den William Morris seines Vaterlandes nennen, so müssen wir die Nippon Bijitsuin als eine Art japanische Merton Abbey bezeichnen. Hier werden die verschiedenen Arten des Kunstgewerbes, wie zum Beispiel Lack- und Metallarbeit, Bronzegießerei und Porzellanherstellung, sowie japanische Malerei und Plastik gepflegt. Die Mitglieder suchen sich tiefes Mitgefühl und Verständnis für die zeitgenössischen Kunstströmungen des Abendlandes zu erwerben, gleichzeitig aber ihre nationale Eigenart zu behaupten und zu vertiefen. Es ist ihr Stolz, erklären zu dürfen, daß sich ihre Arbeiten neben dem Besten, was auf diesem Gebiete geschaffen worden ist, sehen lassen können. Unter ihnen befinden sich Namen wie Hashimoto Gahô, Kanzan, Taikan, Sessei, Kozan und andere, nicht minder klangvolle. Neben seiner Tätigkeit an der Nippon Bijitsuin hat Herr Okakura aber noch Zeit gefunden, im Auftrage seiner Regierung an der Klassifizierung der Kunstschätze Japans mitzuwirken und die Altertümer Chinas und Indiens zu besichtigen und zu studieren. Was Indien betrifft, so ist mit Okakura dort zum erstenmal in neuerer Zeit ein Reisender von hoher östlicher Kultur und weitgehenden orientalischen Kenntnissen erschienen, und Okakuras Besuch der Gräber von Ajantâ ist in der Geschichte indischer Archäologie epochemachend geworden. Seine Kenntnisse der südchinesischen Kunst aus der gleichen Epoche ließen ihn sofort erkennen, daß die in den Höhlen aufgefundenen Steinfiguren ursprünglich nur als Gerippe oder Grundlagen für die eigentlichen Statuen geplant waren. Leben und Bewegung des Porträts sollten später in eine dicke Gipsschicht, mit der man sie zu überziehen gedachte, eingearbeitet werden. Eine eingehende Untersuchung der Modellierungen ergab die völlige Berechtigung dieser Auffassung. Unwissenheit und unbewußter Vandalismus des geldgierigen Europas haben unglücklicherweise zu einer überflüssigen Reinigung und unbeabsichtigt zu einer Entstellung der Statuen geführt, ähnlich wie das leider auch in letzter Zeit mit den Kunstwerken in den Dorfkirchen Englands geschehen ist.

Die Kunst kann sich nur bei Völkern entwickeln, die in Freiheit leben. Sie ist in Wahrheit das gewaltige Mittel und die Frucht jenes freiheitlichen Hochgefühls, das wir Nationalitätsbewußtsein nennen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Indien – durch jahrtausendalte Unterdrückung von einer spontanen Entwicklung abgeschnitten – seines Platzes in der Welt der Freude und veredelnden Arbeit verlustig gegangen ist. Tröstlich ist es jedoch, von so maßgebender Seite, wie von Herrn Okakura, zu erfahren, daß Indien auch auf diesem Gebiete früher einmal wie in der Religion zur Zeit des Açoka allem Anschein nach für den gesamten Osten führend war. Dadurch, daß es den Stempel seiner Gedanken und seines Geschmacks den zahllosen Pilgern, die seine Hochschulen und Tempel besuchten, einprägte, wurde die Entwickelung der Skulptur, Malerei und Architektur in China selbst und auf diesem Umwege auch in Japan beeinflußt.

Nur wer sich bereits eingehend in die besonderen Probleme indischer Archäologie vertieft hat, vermag die überragende Bedeutung von Okakuras Hypothese über den vermeintlichen Einfluß Griechenlands auf die indische Plastik zu ermessen. Als Vertreter der entgegengesetzten großen Kunsttradition, der chinesischen, ist Okakura in der Lage, die Unhaltbarkeit der hellenistischen Theorie aufzuzeigen. Er weist nach, daß die fremden Anklänge in der indischen Kunst zum großen Teil chinesischen Ursprungs sind. Den Grund hierfür erblickt er in dem Vorhandensein einer frühen, einheitlichen asiatischen Kunst, deren entlegenste Wellen gleichzeitig bis zu den Küsten von Hellas, Etrurien, Phönizien, Ägypten, Indien, China und Irland drangen und dort ihre Spuren hinterließen. Diese Theorie bringt auch jeden entwürdigenden Prioritätsstreit in befriedigender Weise zum Schweigen und weist Griechenland an seinen ihm gebührenden Platz als kulturelle Provinz des alten Asien zurück, das die Gelehrten von jeher als den Asgard-Hintergrund der großen nordischen Sagenwelt betrachtet haben. Gleichzeitig wird der künftigen Wissenschaft eine neue Welt erschlossen, in der synthetische Methoden und Gesichtspunkte die Irrtümer der Vergangenheit zu korrigieren berufen sind.

Auch Okakuras Behandlung chinesischer Probleme ist nicht minder reich an Anregungen. Seine Analyse der nördlichen und südlichen Gedankenwelt Chinas hat unter den chinesischen Gelehrten beträchtliches Aufsehen erregt, und seine Unterscheidung zwischen Laoismus und Taoismus ist von den weitesten Kreisen akzeptiert worden. Am wertvollsten jedoch erscheint sein Werk dort, wo es neuen Grund legt. Er ist der Meinung, daß das große, allgemein bekannte, welthistorische Schauspiel des über die Himâlayapässe und durch die Meerengen auf dem Seewege nach China sich ergießenden Buddhismus, jene Völkerbewegung, die vermutlich unter Açoka einsetzte und in China selbst zur Zeit Nâgârjunas im zweiten Jahrhundert nach Christo begann, nicht isoliert dasteht. Diese Bewegung war vielmehr charakteristisch für die Zustände, unter denen allein Asien zu leben und zu gedeihen vermag. Die als Buddhismus bezeichnete Geistesströmung kann an sich keine scharf formulierte, streng definierte Glaubenslehre mit bestimmt abgegrenzten Irrlehren und einem aus sich geborenen Ritual gewesen sein. Vielmehr ist der Buddhismus ein Name, den man jener ungeheuren Synthese, die wir als Hinduismus bezeichnen, beilegte, nachdem diese in einem fremden Bewußtsein aufgegangen war. Denn Okakura weist in seinen Schriften über die japanische Kunst im neunten Jahrhundert nach, daß die gesamten Mythologien des Ostens – nicht nur die persönlichen Lehren Buddhas – in engem Austausch untereinander standen. Die mongolische Gedankenwelt wurde nicht buddhaisiert, sondern indisiert. Es wäre etwa das gleiche, als würde man in einem fremden Lande das Christentum, seinen ersten Verkündigern zu Ehren, mit dem Namen Franziskanertum belegen.

Bekanntlich kommen die Lebenselemente des aktiven japanischen Nationalgefühls stets in der Kunst zum Ausdruck. In ihr hat das Volksbewußtsein zu jeder Periode seiner Entwickelung seine wesentlichsten Zeichen und Spuren hinterlassen. Im Gegensatz zu den alten Griechen nimmt die gesamte japanische Nation an der Kunst Anteil, ähnlich wie sich in Indien alle Volksschichten an der Philosophie beteiligen. So entsteht die überaus interessante Frage: Was ist es, das im Zusammenklang seiner Elemente durch die japanische Kunst als Gesamtheit zum Ausdruck gelangt?

Okakura antwortet, ohne zu zögern: Es sind die Kulturformen des gesamten asiatischen Kontinents, die auf Japan übergegriffen haben und in seiner Kunst freien, lebendigen Ausdruck erhalten. Und diese asiatische Kultur läßt sich, seiner Meinung nach, in zwei Faktoren zerlegen: in chinesische Gelehrsamkeit und indische Philosophie. Für ihn sind weder die ornamentalen noch die handwerklichen Eigenheiten der japanischen Kunst das in Wahrheit Bedeutsame, sondern die große Welt ihrer Ideale, die in Europa vorläufig noch fast unbekannt ist. Nicht die paar Zeichnungen blühender Pflaumenbäume, sondern der erhabene Begriff des Drachen; nicht Vögel und Blumen, sondern der Totenkult; kein nebensächlicher, noch so schöner Realismus, sondern eine großartige Auslegung des großartigsten Themas des menschlichen Geistes, der Sehnsucht nach Buddhaschaft zum Heile der anderen und nicht des eigenen Ichs, sind der Inbegriff der japanischen Kunst. Die Ausdrucksmittel und -methoden hat Japan von jeher China entlehnt; in seinen Idealen jedoch ist es von Indien abhängig. Okakura ist der Meinung, daß den großen Blüteperioden der japanischen Kunst stets eine Welle indischen Spiritualismus vorausgegangen ist. So mußten die saftschwellenden Kunsttriebe Chinas und Japans notgedrungen verkümmern und verarmen, sobald sie des befruchtenden Einflusses der großen südlichen Halbinsel beraubt waren; ähnlich wäre es zweifellos Nord- und Westeuropa ergangen, hätte man sie von Italien und dem Einfluß der Kirche losgelöst. Auch isoliert wäre jedoch die Kunst Asiens niemals verbürgerlicht. In dieser Hinsicht steht sie in scharfem Gegensatz zu der deutschen, holländischen und norwegischen Kunst. Okakura wird damit nicht bestreiten wollen, daß sie vielleicht auf dem Niveau einer groß angelegten, sinnfälligen und wertvollen bäuerischen Gegenstandskunst geblieben wäre.

Okakuras Ziel ist es, bis ins einzelne klarzulegen, wie diese Wogen indischen Spiritualismus den asiatischen Völkern Anregung und Inspiration wurden. Vorerst müssen wir indes die Elemente kennen lernen, auf die sie trafen, die sich sowohl in der Yamato-Rasse Japans wie in dem wunderbaren ethischen Genius Nordchinas und in der reichen Phantasie Südchinas verkörpern. Erst dann können wir den Eintritt des buddhistischen Stromes nach Japan verfolgen, der alsbald das Ganze zu überschwemmen und zu vereinigen beginnt. Wir wollen ihm nachgehen und sehen, wie die erste, schattenhafte Vorstellung einer allgemeinen Glaubenslehre kosmische Begriffe in der Wissenschaft und den Roshana-Buddha in der Kunst gebiert. Dann wieder sehen wir ihn zu dem intensiven Pantheismus der Heian-Periode, zu dem Emotionalismus der Fujiwara- und der heldenmütigen Mannhaftigkeit der Kamakura-Periode anschwellen.

Dem Wiederaufleben des Shintôismus, der von buddhistischen Elementen größtenteils entkleideten, primitiven Religion der Yamatos, scheint die Meiji-Periode ihre Größe zu verdanken. Der Kunstgenius jedoch bleibt hinter dieser Art von Größe nur allzu oft zurück, und heute sind sich alle Freunde des Orients in ihrer Abneigung und Enttäuschung über die Spaltung von Geschmack und Ideal einig, die dort infolge des Konkurrenzkampfes mit dem Abendlande immer weiter geht.

Daher ist es vielleicht an der Zeit, die Völker Asiens wieder auf ihre alten, ursprünglichen Ziele hinzuweisen, in denen ihre Größe lag und die sie heute noch zur alten Größe zurückzuführen vermögen. Es ist von höchster Bedeutung, wenn Okakura den Beweis erbringt, daß Asien keineswegs, wie man bisher annahm, ein Konglomerat geographischer Fragmente darstellt, sondern ein einheitlicher, lebender Organismus ist, in dem jeder einzelne Teil von allen übrigen abhängt und ein einiges und vielfältiges Leben ausströmt.

Zu guter Stunde ist denn auch der orthodoxe Hinduismus in den letzten zehn Jahren, ähnlich wie zur Açoka-Periode, wieder militant geworden, dank dem Genie eines Wandermönches namens Svâmi Vivekânanda, der nach Amerika verschlagen wurde und sich 1893 auf dem Chikagoer Religionskongreß Gehör zu verschaffen wußte. In den letzten sechs bis sieben Jahren sind indische Missionare fortgesetzt nach Europa und Amerika hinübergewandert, um dort eine allgemeine religiöse Bewegung vorzubereiten, welche die intellektuelle Freiheit des in den Naturwissenschaften gipfelnden Protestantismus mit der Fülle katholischen Spiritualismus vereinigen will. Fast möchte man es für das Los der siegreichen Völker halten, ihrerseits wieder von den religiösen Ideen der Besiegten unterworfen zu werden. »So wie die Lehre des geknechteten Juden« – ich zitiere den vorhin erwähnten großen indischen Denker–»achtzehn Jahrhunderte lang die halbe Erde in ihrem Bann hielt, wird auch die des verachteten Hindus in Zukunft vielleicht die Welt beherrschen.« Hierauf ruht die Hoffnung Nordasiens. Der gleiche Vorgang, der zu Beginn unserer Zeitrechnung ein Jahrtausend dauerte, kann sich mit Hilfe von Dampfkraft und Elektrizität heute in wenigen Jahrzehnten abspielen. Vielleicht wird die Zeit ein zweites Mal Zeuge von der Indisierung des Ostens sein.

Ist das der Fall, so wird eine Wiedergeburt der Kunstideale Japans, ähnlich der im vorigen Jahrhundert stattgehabten Wiedererweckung des Mittelalters in England, eine ihrer zahlreichen Folgen sein. Und wie wird die gleichzeitige Entwickelung in China und Indien verlaufen? Denn was das östliche Inselreich beeinflußt, beeinflußt auch die übrigen Länder. Unser Autor hat sein Buch umsonst geschrieben, wenn es ihm nicht gelungen ist, den Satz, der an der Spitze dieses Werkes steht, unwiderleglich zu beweisen: »Asien, die große Mutter, ist eine Einheit, von Ewigkeit her.«

Nivedita,
von Râmakrishna-Vivekânanda,
Bagh Bazaar, Calcutta.


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