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(1850 bis heute)
Äußerlich setzt die Meiji-Periode 1868 mit der Thronbesteigung des jetzigen Kaisers Dieses Buch ist 1902 geschrieben. ein, unter dessen erhabener Herrschaft Japan eine Feuerprobe bestehen sollte, wie sie in den Annalen seiner Geschichte einzig dasteht.
Das für das religiöse und künstlerische Leben des Volkes so bezeichnende Wechselspiel der Farben – bald glomm es in dem bernsteinfarbenen Dämmerlicht des idealistischen Nara auf, bald in dem scharlachroten Herbstesglanz von Fujiwara, dann wieder versank es in den grünen Meereswellen von Kamakura, um in dem schimmernden Mondlicht von Ashikaga von neuem aufzutauchen, – trat nun mit verjüngter Pracht in Erscheinung, dem frischen Grün eines regenreichen Sommers gleich. Allein die zahlreichen Wechselfälle dieses neuen Zeitalters, das mit jedem Jahre dem Volk neue und größere Aufgaben stellt, haben uns mit einem Labyrinth von Widersprüchen umgeben, aus dem die grundlegende, einheitliche Idee außerordentlich schwer herauszulösen ist.
In Wahrheit läuft jeder Kritiker der zeitgenössischen Kunst Gefahr, auf seinen eigenen Schatten zu treten, wenn er bei der Betrachtung der riesenhaften oder vielleicht grotesken Gestalten staunend innehält, die von den schrägen Strahlen der untergehenden Sonne auf seinen Weg geworfen werden. Heute halten zwei gewaltige Ketten von Kräften den japanischen Geist in Bann. Drachengleich verstrickt in ihre eigenen Schlingen, drohen sie im Kampf um den alleinigen Besitz des Lebensschatzes in einem schäumenden Meer von Unruhen zu versinken. Das eine Ideal, das asiatische, ist von erhabenen Visionen des ewigen Alls gesättigt und umfaßt das ganze Gebiet des Konkret-Individuellen, das andere, das Ideal der europäischen Wissenschaft und organisierten Kultur, ist mit einem Heer von Tatsachen gerüstet und vom Feuer des modernen Konkurrenzkampfes geschürt.
Vor anderthalb Jahrhunderten traten diese beiden miteinander ringenden Bewegungen fast gleichzeitig in Erscheinung. Die eine setzte mit dem Versuche ein, das Gefühl der Einheit in Japan wieder zu erwecken, das die Wellen der chinesischen und indischen Kultur, trotz ihrer Fülle an Kraft und Farbe, zu ersticken gedroht hatten.
Das Leben der japanischen Nation baut sich um den Kaiserthron auf, der im Schatten einer in ungetrübter Reinheit von Anbeginn datierenden, ruhmvollen und ununterbrochenen Erbfolge erstarkt ist. Unsere seltsame, abgeschlossene Lage jedoch und der dauernde Mangel an Verkehr mit der Außenwelt hatten uns jeder Möglichkeit der Selbstkritik beraubt. Auf politischem Gebiet war das geheiligte Ideal der organischen Einheit durch den Fujiwara-Adel gleichsam verdunkelt worden, und dieser mußte dann später der Militärdiktatur der Minamoto-, Ashikaga- und Tokugawa-Shôgune weichen.
Von den zahlreichen Ursachen, die dazu beigetragen haben, uns aus jahrhundertalter Dumpfheit aufzurütteln, sei die Neubelebung des Konfuzianismus durch die Ming-Gelehrten, so wie sie sich in der Gelehrsamkeit der zweiten Tokugawa-Periode widerspiegelt, an erster Stelle genannt. Der erste Ming-Kaiser, der die Mongolen-Dynastie in China stürzte, war selbst ein buddhistischer Mönch. Und doch betrachtete er die auf indischen Ideen fußenden, separatistischen Bestrebungen der neukonfuzianischen Sung-Gelehrten als eine Gefahr für die Einheit seines großen Reiches. Er mißbilligte sie daher gründlichst und suchte auch den von den Mongolen in China eingeführten wirren tibetischen Tantrikismus zu unterdrücken, ehe er politisch den Versuch machte, die alteingesessene Macht wieder aufzurichten. Da der Neukonfuzianismus nur eine buddhistische Abart des Konfuzianismus darstellt, war dies gleichbedeutend mit der Rückkehr des Kaisers zum reinen Konfuzianismus. Die Ming-Gelehrten stützten sich wiederum auf die Han-Kommentatoren, und ein Zeitalter der Altertumsforschung setzte ein, das in den riesenhaften Werken der heutigen Mandschu-Dynastie unter K'ang-hi und K'ien-lung gipfelte.
Die japanischen Gelehrten folgten diesem großen Beispiele und wandten den Blick gleichfalls rückwärts auf die uralte Vergangenheit. Schöne, chinesisch geschriebene Geschichtsbücher, wie das »Dai-Nihon-shi« oder die »Geschichte Großjapans«, die vor zweihundert Jahren auf Befehl des Prinzen Mito kompiliert worden war, wurden jetzt neu herausgegeben. Alle diese Bücher spiegeln eine leidenschaftliche Verehrung großer, heroischer Gestalten, wie zum Beispiel des Masashige, wider, der gegen Ende der Kamakura-Zeit in wundervoller Selbstaufopferung für seinen Kaiser starb, und in dem Leser ward dadurch die Sehnsucht nach Wiederherstellung der alten Kaisermacht wachgerufen.
Ein für diese Zeit sehr bezeichnendes Zwiegespräch schildert, wie ein berühmter Gelehrter, der wegen seiner Verehrung der indischen und chinesischen Weisheit bekannt war, von seinem Gegner gefragt wird: »Was würdest du, der du diese großen Meister über alles liebst, tun, wenn ein Heer mit Buddha als Generalissimus und Konfuzius als seinem Adjutanten in Japan einbräche?« Ohne zu zögern antwortete er: »Câkhyamuni enthaupten und das Fleisch des Konfuzius in Salzlauge legen.«
Diese leidenschaftliche Vaterlandsliebe war die Fackel, die hundert Jahre später in der Hand Sanyôs San-yô: Der Verfasser des Nihon-gwaishi und Nihonseiki, bekannt auch durch seine Gedichte, die von Ereignissen aus der vaterländischen Geschichte handeln. Er lebte zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts und zog jahrelang im Lande umher, um Material für seine Geschichtswerke zu sammeln. Hierbei wurden ihm von den Tokugawa, die eifrig darauf bedacht waren, das aufkeimende Nationalgefühl zu unterdrücken, zahlreiche Schwierigkeiten in den Weg gelegt. aufflammte, als er jenes große geschichtliche Epos schrieb, durch das er der japanischen Jugend den Feuerbrand weiterreichte, der ihre Großväter zur Revolution angefacht hatte.
Das Studium der älteren rein japanischen Literatur kam unter Anleitung hervorragender Köpfe wie Motoori und Haruniwa in Mode, zu deren riesenhaften grammatikalischen und philologischen Werken die modernen Gelehrten kaum noch etwas hinzuzufügen vermögen.
Eine natürliche Folge hiervon war die Wiedererweckung des Shintôismus, jenes reinen Ahnenkultus, der vor Auftreten des Buddhismus in Japan geherrscht hatte, mittlerweile aber, dank insbesondere dem Genie Kûkais, von buddhistischen Gedanken überwuchert war. Die religiösen Elemente im Volksbewußtsein hatten sich von jeher an die Person des Kaisers, als Nachkommen des höchsten Gottes, geklammert. Ihre Stärkung mußte daher auch eine Stärkung des Nationalgefühls im Gefolge haben.
Die buddhistischen Sekten waren durch die friedlich -weltliche Haltung der Shôgune, von denen sie mit erblichen Vorrechten belehnt worden waren, bereits geschwächt und daher außerstande, die neuerwachten Kräfte des Shintôismus zu assimilieren. Dieser Tatsache ist die beklagenswerte Zerstörung der buddhistischen Tempel und Klöster und die Verzettelung ihrer Schätze zuzuschreiben, da die Mönche und Priester aus Furcht vor der angedrohten sofortigen Vernichtung zum Shintôismus übertraten. Ja, die übereifrigen Konvertiten legten mitunter sogar selbst die Brandfackel an diese Scheiterhaufen der Zwangsbekehrung.
Der zweite Faktor, der bei unserer nationalen Wiedergeburt mitwirkte, war die schwere Gefahr, mit der das wachsende Vordringen der europäischen Großmächte unsere Unabhängigkeit bedrohte. Dank den holländischen Kaufleuten, die uns von den Ereignissen der Außenwelt unterrichteten, hatten wir den gewaltigen Siegerarm erkannt, den Europa nach dem Osten ausstreckte.
Wir sahen Indien, das geweihte Land unserer heiligsten Erinnerungen, durch politische Apathie, Organisationsmangel und kleinliche Eifersucht seine Freiheit verlieren, – eine traurige Lehre, die uns die Notwendigkeit der Einigung um jeden Preis deutlich vor Augen führte. Wir erlebten den Opiumkrieg in China und sahen die übrigen Völker des Ostens nacheinander besiegt von der geheimnisvollen Zaubermacht, die die schwarzen Schiffe über das Meer brachten: und das furchtbare Bild der tatarischen Armada tauchte vor uns auf. Frauen sanken betend auf die Knie, und Männer begannen die von dreihundertjährigem Rost knirschenden Schwerter zu putzen. Es gibt ein kurzes, aber sehr bezeichnendes Sonett von Kômei-tennô, dem erlauchten Vater des jetzigen Kaisers, dessen weitsehendem Scharfblick Japan einen großen Teil seiner heutigen Größe verdankt, aus dem das stolze Selbstvertrauen des japanischen Volkes spricht, und in dem es an einer Stelle heißt: »Tue das Äußerste, was deine Seele vermag. Dann kniee einsam nieder und flehe um den göttlichen Wind Ises, der die Tatarenflotte vertrieb.« Die bisher nur von der Musik des Friedens und der Liebe erklingenden wundervollen Tempelglocken wurden aus ihren ehrwürdigen Stühlen gerissen und zum Schutze der Küste zu Kanonen umgegossen. Glühend von Vaterlandsliebe warfen die Frauen ihre Spiegel in den gleichen Schmelzofen. Die mächtigen Männer am Steuer des Staatsschiffes jedoch wußten genau, welche Gefahren dem Lande drohten, wenn es unversehens oder ungerüstet in einen Krieg gegen die sogenannten westlichen Barbaren hineingerissen wurde. Sie machten es sich daher zur Pflicht, den wütenden Strom kriegerischer Begeisterung einzudämmen, gleichzeitig jedoch erschlossen sie das Land dem abendländischen Verkehr. Viele von ihnen, wie Ii Kamon, gaben dabei ihr Leben hin, indem sie erklärten, daß das Volk ihrer Meinung nach nicht genügend reif sei, um sich gegen seine Feinde zu behaupten. Diesen Männern und der bewaffneten Kommission, die von Amerika zu uns herübergesandt wurde, gebührt in erster Linie der unauslöschliche Dank Japans. Der nationalen Politik der Vereinigten Staaten allein ist es gelungen, die Tore Japans in einem Geiste der Aufklärung zu erschließen, der nichts von Machtgelüsten in sich trug.
Der dritte und letzte Freiheitsimpuls ging von den Daimyôs des Südens aus, die als Nachkommen der Hideyoshi-Aristokratie und Waffengefährten Ieyasus niemals aufgehört hatten, sich gegen den Absolutismus der Tokugawa-Shôgune aufzulehnen, von denen sie gleichsam in die Stellung erblicher Lehnsleute herabgedrückt worden waren. Die Prinzen von Satsuma und Chôshû, Hizen und Tosa hatten sich die Erinnerung an ihre einstige Größe bewahrt und alle vor dem Zorn des Yedohofes Fliehenden in ihren Schutz genommen. In den von ihnen beherrschten Landstrichen konnte der neue revolutionäre Geist aufatmen. Hier stand auch die Wiege der gewaltigen Staatsmänner, die das neue Japan aufbauen sollten. Dort müssen die großen Geister von heute die Wurzeln ihres Stammes suchen. Aus diesen starken Geschlechtern gingen die Generale und Soldaten hervor, die das Shôgunat stürzten. Daneben gebührt Ehre dem fürstlichen Hause Mito und dem Shôgun Echizen, die beide ihren alten Zwist begruben und ihre Kräfte vereinigten, um dem Lande zu einem raschen Frieden zu verhelfen. Dadurch gaben sie ein erhabenes Beispiel des Verzichtes, dem alle Samurai und Daimyôs sich anschlossen. Alle brachten ihre alten Vorrechte dem Throne zum Opfer und wurden als gemeine Bürger vor dem Gesetze gleich mit dem geringsten Bauern ihres Landes.
So erstrahlt die Meiji-Restauration im Glänze glühendster Vaterlandsliebe. Sie ist eine gewaltige Wiedererweckung der japanischen Religion der Treue, deren Mittelpunkt die verklärte Gestalt des Mikado bildet. Das Unterrichtssystem der Tokugawa hatte es sowohl Mädchen wie Knaben ermöglicht, unter Anleitung des Dorfpriesters Lesen und Schreiben zu lernen, und diese Kunst überall verbreitet. Dadurch wurde der Grund zur allgemeinen Schulpflicht gelegt, die jetzt als eine der ersten Handlungen der neuen Regierung in Japan eingeführt wurde. Hoch und niedrig waren gleichermaßen erfüllt von mächtiger Energie und jugendlichem Feuer, und selbst der ärmste Rekrut brannte darauf, gleich einem Samurai den Opfertod zu erleiden.
Trotz politischer Händel – den natürlich-unnatürlichen Kindern der 1892 vom Monarchen großmütig dem Volk geschenkten Verfassung – genügt auch heute noch ein einziges Wort vom Throne her, um die heftigsten Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierungspartei und Opposition zum Schweigen zu bringen.
Der in den Schulen gelehrte Kodex der Moral, der den Grundstein der japanischen Ethik bildet, wurde gleichfalls durch ein kaiserliches Mandat festgelegt, da alle vorhergehenden Entwürfe die zu ihrer Annahme erforderliche allseitige Achtung nicht zu erringen vermochten.
Dazu kommt, daß sich die Wunder der modernen Wissenschaft im Laufe der letzten hundert Jahre vor den Augen der staunenden Studenten von Nagasaki, dem einzigen Hafen, der holländischen Kaufleuten offen stand, enthüllt hatten. Die aus diesen Quellen fließenden Kenntnisse der Geographie hatten der japanischen Jugend neue Welten erschlossen. Unter anfänglich größten Schwierigkeiten wurde das Studium der europäischen Medizin und Botanik betrieben. Auch die Samurai eigneten sich unter Lebensgefahr die Methoden der europäischen Kriegführung an, denn die Shôgune betrachteten ihre Lernbegier als einen unmittelbaren Versuch, ihre Oberhoheit zu stürzen. Herzzerreißend ist die Geschichte dieser Pioniere der abendländischen Wissenschaft. In tiefster Heimlichkeit machten sie sich daran, das holländische Wörterbuch zu entziffern, ähnlich wie seinerzeit die europäischen Archäologen mit Hilfe des Steins von Rosette die Geheimnisse einer alten Zivilisation entwirrten.
Der mit der furchtbaren Metzelei der christlichen Bevölkerung von Shimabara endigende Vorstoß der Jesuiten im siebzehnten Jahrhundert hatte das Verbot, Schiffe über eine bestimmte Tonnage hinaus zu bauen, zur Folge gehabt und jeden, der ohne offizielle Erlaubnis Handel mit den Ausländern trieb, mit dem Tode bedroht. Eine gleichsam eiserne Mauer trennte uns daher von der abendländischen Welt, so daß der abenteuerlustige Jüngling, der auf den in spärlichen Zwischenräumen an unserer Küste anlegenden Schiffen eine Überfahrt nach Europa suchte, von wirklichem Heldenmut und großer Opferfreudigkeit beseelt sein mußte.
Allein der Wissensdurst des neuen Japans war unauslöschlich, und die Notwendigkeit, sich auf den kommenden Bürgerkrieg zwischen den Shôgunen und den Daimyôs des Südens vorzubereiten, bot überdies dem ehrgeizigen Frankreich, das den Machterweiterungsgelüsten Englands in Asien Einhalt gebieten wollte, eine willkommene Gelegenheit, französische Instruktionsoffiziere zu uns hinüber zu senden.
Endlich öffnete das Erscheinen des amerikanischen Kommodore Perry die Schleusen abendländischen Wissens, und der Strom brach mit solcher Gewalt über Japan herein, daß er die Marksteine seiner Geschichte hinwegzuschwemmen drohte. Nun war die Zeit gekommen, da Japan im Eifer des verjüngten Nationalgefühls das Kleid seiner uralten Vergangenheit gegen ein neues Gewand einzutauschen strebte. Den Baumeistern des modernen Japans erschien es oberste Pflicht, die Fesseln chinesischer und indischer Kultur zu sprengen, die ihr Vaterland an die Mâyâ des Orientalismus ketteten, und die für die nationale Unabhängigkeit eine schwere Gefahr bedeuteten. Nicht nur im Rüstungswesen, in Industrie und Wissenschaft, auch in der Philosophie und Religion jagten sie jetzt abendländischen Idealen nach, und ihren kindlich-unerfahrenen Augen, die Licht und Schatten noch nicht zu unterscheiden gelernt hatten, erstrahlten sie in wunderbarem Glanze. Das Christentum wurde mit der gleichen Begeisterung begrüßt wie die Dampfmaschine; die westliche Tracht nicht minder bereitwillig akzeptiert als das Maschinengewehr. Politische Theorien und soziale Reformen, die im Lande ihrer Entstehung längst überholt waren, wurden mit der gleichen kindlichen Freude am Neuen willkommen geheißen wie die ältesten Ladenhüter von Manchester.
Große Staatsmänner wie Iwakura und Ôkubo erhoben denn auch sehr bald Protest gegen die weitgehende Verheerung der alten Bräuche und Sitten, die durch diese Vergötterung europäischer Institutionen im Lande angerichtet wurde. Allein sie selbst hielten kein Opfer für zu groß, wenn es galt, das Volk für den Kampf zu rüsten. So nimmt denn das moderne Japan eine einzigartige Stellung in der Geschichte ein, da es eine Aufgabe glücklich gelöst hat, die sich bestenfalls nur mit den Problemen vergleichen läßt, welche sich im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert dem tatkräftigen Geiste der Italiener darboten. Damals sahen sich die Völker des Abendlandes einer zwiefachen Aufgabe gegenübergestellt: es galt einerseits die durch den Aufstieg der ottomanischen Türken auf sie einstürmende griechische Kultur, anderseits den neuen Geist der Wissenschaft und des Liberalismus zu assimilieren, der durch die Entdeckung einer neuen Welt, die Geburt eines reformierten Glaubens und die aufdämmernde Idee der Freiheit am Werke war, Europa aus mittelalterlichem Dunkel ans Licht der Sonne zu ziehen. Dieser zwiefache Assimilationsprozeß erzeugte dann das Zeitalter der Renaissance.
Die Meiji-Restauration erinnert an die großen Tage der kleinen italienischen Republiken, da jede auf ihre eigene Faust die Lebensfrage zu lösen trachtete und wie eine Luftblase an der Oberfläche erschien, um im nächsten Augenblick vom Wind der Zwietracht wieder hinweggefegt zu werden. Auch die Meiji-Ära schäumt über von luftigem Selbstbewußtsein, strotzt von Interesse an allen Dingen dieser Welt und entbehrt nicht der Tragik wie der Lächerlichkeit.
Der wilde Strudel des Individualismus kannte kein anderes Gesetz als den eigenen stürmischen Willen, brüllte auf im Todeskrampf der Selbstvernichtung, peitschte sich zu einem wütenden Willkommen fremdländischer Politik und Religion auf und drohte, das ganze Volk in die kochenden Wirbel des Abgrundes zu reißen, hätte nicht der erzene Fels unerschütterlicher Treue seinem Toben Einhalt geboten.
Die seltsame Zähigkeit dieser im Schatten uralter, ununterbrochener Souveränität aufgewachsenen Rasse hatte an dem chinesischen und indischen Ideal selbst dann noch festgehalten, als dieses von seinen Schöpfern längst verworfen war, und sich an die übermäßig gesteigerte Kultur der Fudschiwara geklammert zu einer Zeit, da sie sich auch an dem kriegerischen Feuer der Kamakura berauschte. Ebenso hatte sie die prunkvollen Schauspiele der Toyotomi geduldet, während sie zugleich die strenge Keuschheit der Ashikaga liebte. Der gleichen Zähigkeit ist es zu verdanken, daß Japan bis auf den heutigen Tag unberührt geblieben ist, trotz dieses unfaßlich plötzlichen Ansturms westlicher Ideen. »Sei dir selber treu!« so lautet der kategorische Imperativ der Advaita-Idee Advaita-Idee: Das Wort Advaita will den Zustand des Nichtzweiseins ausdrücken. Es wird auf die große indische Lehre angewendet, nach der alles scheinbar noch so vielfältige Leben in Wahrheit einheitlich ist. Ihr zufolge ist in jeder ihrer Differenzierungen die ganze Wahrheit, in jeder einzelnen Erscheinung auch die ganze Welt enthalten. Alle Dinge sind daher gleichwertig., in der das japanische Volk von seinen Vätern erzogen worden ist, und dank ihr ist das Land sich treu geblieben, trotz des modernen Gewandes, das das Leben von heute ihm aufgezwungen hat. Dem natürlichen Eklektizismus der orientalischen Kultur verdankt das japanische Volk die Reife seines Urteils, die es befähigt, aus den verschiedensten Quellen die Elemente europäischer Zivilisation zu schöpfen und sich anzueignen, deren es zu seiner Weiterentwickelung bedarf. Der chinesische Krieg hat unsere Vorherrschaft in den asiatischen Gewässern begründet und unsere Freundschaft mit China gefestigt. Er war die natürliche Frucht jenes gesteigerten Nationalgefühls, das seit anderthalb Jahrhunderten zum Durchbruch zu gelangen strebte und mit außerordentlichem Scharfblick in allen seinen Richtlinien von den älteren Staatsmännern der Epoche vorausgesehen worden war. Nunmehr stellte es uns vor die gewaltigen Probleme und Verantwortlichkeiten einer jungen asiatischen Großmacht. Unsere Aufgabe bestand nicht nur darin, uns zu den Idealen unserer eigenen Vergangenheit zurückzufinden, sondern auch das schlummernde Einheitsgefühl Alt-Asiens zum Leben zu erwecken. Die beklagenswerten Probleme der abendländischen Gesellschaft waren der Anlaß, daß wir in der indischen Philosophie und chinesischen Ethik nach einer reineren Lösung suchten. Ja, gerade der neuerdings sowohl in der deutschen Philosophie wie im russischen Geistesleben sich bemerkbar machende Drang nach Osten war die Ursache, daß wir zu der zarteren, höheren Lebensauffassung dieser alten Völker zurückkehrten, kraft deren sie sich aus der Nacht materiellen Vergessens zu den Sternen erhoben hatten.
Das Doppelwesen der Meiji-Restauration offenbart sich auch in der Kunst, die ebenso wie das politische Leben nach höheren Zielen strebt. Die Geschichtsforschung und die Wiedererweckung der alten Literatur wiesen der Kunst den Weg zu den frühen Tokugawa-Schulen, wobei man die volkstümlich-demokratischen Ideen der Ukiyo-e überging und unmittelbar auf die Methoden der Tosa und der heroischen Kamakura-Zeit zurückgriff. Die historische Malerei hatte durch die archäologische Wissenschaft reiches Material erhalten und kam in Mode. Tameyasu und Totsugen waren die Bahnbrecher dieser Kamakura-Renaissance, die durch die Werke Yôsais auch in die naturalistische Schule von Kyôto eindrang und ihre Spuren selbst in den volkstümlichen Arbeiten von Hokusai hinterlassen hat. Gleichzeitig trat eine Parallelbewegung in der Literatur und im Theater auf.
Infolge einer gewissen Gleichgültigkeit, die, in solchen Momenten höchster, patriotischer Opferfreudigkeit einsetzend, verheerend wirken kann, galt die Kunst nurmehr als Luxus; die Sammlungen der Daimyôs zerstoben in alle Winde, und die traditionelle Unantastbarkeit der buddhistischen Klöster wurde aufgehoben. So kam es, daß sich der Kunstwille der Zeit, ähnlich dem der Frührenaissance, einer bisher unbekannten Seite der Antike zuwandte. Die erste rekonstruktive Bewegung der Meiji-Periode stand unter der Führung des Bijitsu-Kyôkwai-Kunstvereins und hatte sich die Erhaltung und Nacheiferung der alten Meister zum Ziel gesetzt. Der Verein zählte fast den ganzen Adel und viele Kunstkenner zu seinen Mitgliedern, veranstaltete Jahresausstellungen alter Meisterwerke und gründete Kunstsalons, die indes in einem so konservativen Geiste geleitet wurden, daß sie allmählich zum Formalismus und zu sinnlosen Wiederholungen führten. Anderseits entwickelte sich das Studium der naturalistischen Kunst des Abendlandes auf immer breiterer Basis. Es hatte unter der späteren Tokugawa-Herrschaft nach und nach an Boden gewonnen, und Künstler wie Shiba Kôkan und A-ôdô hatten sich mit bemerkenswertem Erfolg darin versucht. Nunmehr verwechselten die Japaner in ihrer übereifrigen Bewunderung abendländischen Könnens Wissenschaft mit Schönheit, Industrie mit Kultur und hießen selbst die wertlosesten Farbendrucke als Beispiele höchster Gedankenflüge willkommen.
Die europäische Kunst, die nach Japan hinübergelangte, stand auf dem allertiefsten Niveau. Noch hatte sie der Ästhetizismus der Jahrhundertwende nicht von ihren schlimmsten Greueln befreit. Delacroix zögerte noch immer, den Schleier eines akademisch verhärteten Chiaroscuro zu lüften, und Millet und die Barbizons säumten, ihr Evangelium von Licht und Farbe zu verkünden. Auch Ruskin hatte der Welt die edle Reinheit der Präraffaeliten noch nicht gewiesen. Die von der staatlichen Kunstschule ausgehenden, unter Anleitung italienischer Lehrmeister entstandenen Nachahmungsversuche der Japaner waren daher von vornherein dazu verdammt, sich im Dunkeln zu verlieren; dennoch gelang es diesen Nacheiferern sehr bald, die Kunst ihres Landes in die harte Schale der Manier zu pressen, die auch heute noch ihren Fortschritt hemmt. Allein der tatkräftige Individualismus der Meiji-Periode war voll schäumender Lebenskraft und drängte vorwärts auf der Suche nach neu zu erobernden Gedankenzyklen. Unmöglich konnte er sich in die festgezogenen Grenzen der orthodoxen Kunstströmung einzwängen lassen oder sich mit einer radikalen Europäisierung der Kunst abfinden. Als sich das Land nach den ersten zehn Jahren der Meiji-Periode von den Folgen des Bürgerkrieges zu erholen begann, schloß sich eine Gruppe ernster Künstler zusammen mit dem Ziel, die uralten Ideale der japanischen Kunst in einer höheren Form zum Leben zu erwecken. Diese jungen Künstler strebten zwar eifrig nach Verständnis und Mitgefühl mit verwandten europäischen Kunstrichtungen, erblickten ihre Aufgabe jedoch darin, die Kunst ihres Volkes auf eine neue, eigene Basis zu stellen, und wählten als ihren Leitsatz die Worte: »Schaffe ein Leben dir selber treu!« Diese Bewegung hatte die Gründung einer staatlichen Kunstschule in Ueno bei Tôkyô im Gefolge und wird seit der Auflösung der dortigen Fakultät im Jahre 1897 durch die in dem Vorort Yanaka gelegene Nippon Bijitsuin vertreten, deren Halbjahrsausstellungen die wesentlichen Elemente des aktiven zeitgenössischen Kunstwillens zum Ausdruck bringen wollen.
Diese neue Schule geht von dem Grundsatz aus, daß die Freiheit das höchste Gut des Künstlers ist, Freiheit im Sinne der evolutionären Selbstentwickelung. Die Kunst ist an sich weder Ideal noch Wirklichkeit. Jede Nachahmung, sei es der Natur, der alten Meister oder gar der Persönlichkeit, ist gleichbedeutend mit Selbstmord der Individualität, deren höchste Freude es ist, in dem großen Drama von Leben, Mensch und Natur eine eigene Rolle, sei sie nun tragisch oder komisch, zu spielen.
Dieser Schule steht die altasiatische Kunst wiederum näher als die moderne, da sie, wie gesagt, allein in dem Streben nach Höherem und nicht in dem bloßen Nachahmungstrieb die Lebensberechtigung der Kunst erblickt. Der Strom der Ideen ist das Wesentliche, die Tatsachen das Nebensächliche. Wir verlangen von dem Künstler daher, nicht daß er den Gegenstand selbst wiedergibt, sondern das Ewige, das hinter ihm liegt. Daraus folgt, daß das Gefühl für die Linie, für das Helldunkel als Verkörperung der Schönheit und für die Farbe als Trägerin des Empfindens wahre Kraft bedeutet, und daß bereits das Streben nach Schönheit und die Betonung des Ideellen der naturalistischen Kritik gegenüber als Erfüllung zu gelten hat.
Ausschnitte der Natur in ihrer malerischen Wirkung: düstere Wolken, hinter denen das Gewitter schlummert; erhabene Waldesstille und Heiterkeit des niemals schwankenden Schwertes; ätherische Reinheit des aus dunkelndem Wasser auftauchenden Lotus; Duft der Pflaumenblütensterne; Heldenblut auf jungfräulichem Gewand; Heldentränen im Greisenalter vergossen; Grauen und Pathos des Krieges: sie alle dienen dem Bewußtsein des Künstlers als Ausdruck und Symbol, ehe er mit entschleiernden Händen an jener Maske rührt, hinter der sich das Ewige verbirgt.
Die Kunst ist somit flüchtige Ruhestatt der Religion, eine kurze Rast der Liebe, da sie, ihrer selbst kaum bewußt, still steht auf der Pilgerfahrt ins Reich des Grenzenlosen und Ausschau hält nach der vollendeten Vergangenheit wie nach der nebelhaften Zukunft, – ein ahnungsvoller Traum, – nichts Greifbares, – ein Kind des Geistes und erhaben.
Die Technik dagegen stellt im Krieg der Künste nur die Waffe dar: Kenntnis von Anatomie und Perspektive, die Verwaltung der Armee. Die Technik mag die japanische Kunst getrost vom Abendlande entlehnen; sie wird darum von ihrer Eigenart nichts einbüßen. Die Ideale wiederum sind die Stimmungen, in denen sich das künstlerische Gemüt bewegt, der Feldzugsplan, den das Gelände der Kriegführung aufzwingt. Hinter ihnen steht der allmächtige Feldherr, der, selbstbewußt und unerschütterlich, Vernichtung oder Frieden in der Hand hält.
Dank dieser neuen Freiheit erweiterte sich sowohl die Zahl der Gegenstände wie ihre Ausdrucksmethoden. Der leider verstorbene Kanô Hôgai und der größte lebende Meister dieser Zeit, Hashimoto Gahô, sind, wie auch ihre zahlreichen begabten Anhänger, nicht allein durch ihre Technik bekannt, sondern auch durch ihre großzügige Auffassung vom Wesen der Kunst. Diese berühmten Männer waren unter dem Shogunat persönlich an der Kanô-Akademie tätig und setzten sich für die reine Kunst der alten Ashikaga- und Sung-Meister und für das Studium der Tosa- und Kôrin-Koloristen ein, ohne indes den zarten Naturalismus der Kyôtoer Schule preiszugeben.
Diese Maler haben wie alle großen Meister zur Blütezeit der Kunst, von Äschylus an bis zu Wagner und den nordischen Dichtern, den Hauch der alten Volksmythologie und Geschichte verspürt; und ihre Bilder verleihen diesen Themen neuen Schwung und neuen Sinn.
Das letzte Meisterwerk Kanô Hôgais stellt Kwannon, die Weltmutter, von ihrer menschlich-mütterlichen Seite dar. Sie ist zwischen Himmel und Erde schwebend abgebildet; ihr dreifacher Heiligenschein fließt mit dem goldigreinen Himmel zusammen, und in ihren Händen ruht ein kristallener Kelch, aus dem die Wasser der Schöpfung träufeln. Ein einziger Tropfen wandelt sich im Fallen zu einem neugeborenen Kinde um, das, umhüllt von dem Geburtsmantel wie von einem Strahlenkranz, den unschuldigen Blick zu ihr erhebt und langsam auf die rauhen Schneegipfel der Erde niedersinkt, die aus nebelreicher, blauschwarzer Tiefe aufsteigen. In diesem Bilde verschmilzt die Farbengewalt der Fujiwara-Zeit mit der Anmut Maruyamas, um einer Naturauffassung Ausdruck zu verleihen, die so mystisch wie realistisch, so ehrfurchtsvoll wie leidenschaftlich ist.
Gahôs Bildnis des Chôkwarô (Changkuo) vereinigt den prägnanten Stil Sesshûs mit der Kraft Sôtatsus. Es ist eine moderne Wiedergabe der veralteten taoistischen Idee des Magiers, der mit nachdenklichem Lächeln den Esel betrachtet, den er soeben aus seinem Schlauch hervorgezaubert hat: eine heitere Versinnbildlichung des Fatalismus.
Kanzans »Scheiterhaufen Buddhas« erinnert an die großartigen Kompositionen der Heian-Zeit, gesteigert durch die klaren Umrisse der frühen Sung-Maler und eine der italienischen Meister würdigen Körpermodellierung. Es stellt die göttlichen Arhats und Bodhisattvas dar, den Scheiterhaufen umstehend und mit geheimnisvoller Ehrfurcht die ätherische Flamme hütend, die, aus dem mystischen Sarge aufsteigend, die Welt eines Tages mit dem Lichte erhabensten Verzichtes erfüllen soll.
Taikan hat uns die wilde Fülle seiner Bilder und seine stürmische Phantasie geschenkt, wie zum Beispiel in seinem »K'üh Yüan, auf den öden Bergen wandernd«. Man sieht ihn von windgeküßten Narzissen, den Blumen der stillen Keuschheit, umgeben, während in seiner Seele das wütende Unwetter sich zusammenzieht.
Die epischen Heldengestalten der Kamakura-Zeit werden heute mit tieferer Einsicht in die menschliche Natur wiedergegeben. Die Mythologie wird in ihrer Beziehung zum Sonnensystem dargestellt, und die uralten Volksballaden von China und Japan haben uns ein bisher noch unerforschtes Gebiet erschlossen.
Die Plastik und ihre Schwesterkünste haben einen ganz ähnlichen Weg eingeschlagen. Die wunderbare Glasur Kozans bedeutet nicht nur eine Neuentdeckung des verloren gegangenen Geheimnisses der ältesten chinesischen Keramik, sondern hat auch ungeahnte Farbenträume Kôrins neu geschaffen.
Die Lackarbeit hat sich heute von dem überzarten Raffinement der jüngeren Tokugawa befreit und schwelgt mit Vorliebe in einem bisher unbekannten Farben- und Materialreichtum. Auch das übrige Kunstgewerbe, wie Stickerei und Weberei, Cloisonné- und Metallarbeit, atmet neues Leben. Die Kunst strebt, dem Mäzenatentum und der furchtbar harten Tretmühle des Industrialismus zum Trotz, nach einem höheren Dasein, das unsere nationalen Ziele verwirklichen soll. Allein die Stunde für eine umfassende Darstellung der Zeitverhältnisse ist noch nicht gekommen. Jeder Tag weckt neue Hoffnungen und Möglichkeiten, die nach einem Platz in dem Organisationsplan unseres neugeborenen Nationalstaates suchen. China und Indien, von dem nach neuen Formen ringenden Kunstleben des Abendlandes ganz zu schweigen, eröffnen den Ausblick auf eine große, ideale Zukunft, die jedoch erst von kommenden Geschlechtern erobert werden muß.