Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Viertes Kapitel

Treffliche Beschreibung des Hauses in der Musikantengasse und des Polizeischreibers Fiebiger im Schlafrocke

Das Haus Nummer zwölf, welches der Schreiber in der Musikantengasse bewohnte, ließ sich sehr gut mit gewissen Menschen vergleichen, die nüchtern, kalt und abgeschliffen in ein abgeschliffenes Leben hinausblicken und deren Inneres originell, warm und voll kurioser Ecken und Winkel ist. Diesen Charakteren hat die Gesellschaft eine Maske aufgelegt, und eben eine solche Maske trug das Haus Nummer zwölf.

Es war eigentlich ein altes Gebäude voll wunderlicher Baumeisterlaunen längst verloren gegangener Architekturwissenschaft. Aber über seine Vorderseite hatte die Zeit, die ebenso eine Zunge hat, wie sie Zähne besitzt, weggeleckt und alles schön modern grade gestrichen bis an das Dach hinan. Ähnlich war es allen andern Gebäuden der Musikantengasse ergangen; aber darum blieb die Gasse nichtsdestoweniger alt, und die Häuser blieben auch alt, und aus den Fenstern der Hinterseiten sah man in die tollste Welt von schwarzen Höfen, Giebeln, Brandmauern und Schornsteinen – ein rauch- und dunstüberhängtes Durcheinander, in welchem der höchste Punkt in der Nähe der Giebel eines halb abgebrochenen Klostergebäudes war, dessen noch erhaltene Räume bis auf den genannten Giebel zu Warenlagern und Werkstätten eingerichtet waren.

In diesem Giebel hatte seine Wohnung und sein Observatorium Heinrich Ulex, ein halb autodidaktischer Sterngucker, den wir bald näher kennen lernen werden.

Wir steigen jetzt in Nummer zwölf der Musikantengasse naturgemäß von unten nach oben. Im Erdgeschoß wurde der Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts durch das Atelier des tailleur de Paris Mr. Alphonse Stibbe repräsentiert und elegantes Mitschassieren mit der Zeit und der französischen Novellistik durch die schöne Tochter des Künstlers, Fräulein Angelika Stibbe. Das erste Stockwerk bewohnte eine ungemein vornehme, wohlbeleibte Angorakatze nebst einer magern, jungfräulichen ältlichen Dame, Tochter eines kurz nach den Befreiungskriegen an Apoplexie gestorbenen Proviantkommissärs, Fräulein Aurora Pogge, eine Art weiblichen Varnhagen von Enses der Musikantengasse. Im zweiten Stock vegetierte der Hauseigentümer, Herr Mäuseier, ein kinderloser, beschaulicher Witwer, welcher den größten Teil des Tages mit halbem Leibe aus dem Fenster hing, der aber in sich selber wenig zu beschauen hatte und der mit den glücklichen Völkern das Los teilte, daß wenig über ihn zu sagen ist. Im dritten Stockwerk hauste der Polizeischreiber Herr Fiebiger, und neben ihm war der Jüngling mit der beflügelten Seele, Julius Schminkert, selten – zu Hause.

Zu diesem Hause Nummer zwölf gehörte außerdem eine Hofwohnung, aus welcher zwei fleißige Hämmer vom frühen Morgen bis spät in die Nacht klangen. Auch Sägen und andere Tischlerwerkzeuge ließen sich von dorther vernehmen, und dazwischen ertönte eine helle, frische Mädchenstimme und das Zwitschern eines Kanarienvogels. Die Schreinerfamilie Tellering, bestehend aus Vater, Mutter, Sohn und Tochter, war ein herzerfreuendes Zeichen, daß auch die dunkelste Wohnung, mit der Aussicht auf den engsten, schmutzigsten Hof, den echten, rechten Lebensmut nicht zu ersticken vermag; und Ludwig und Luise Tellering gehörten unzweifelhaft zu den liebenswürdigsten Erscheinungen im Hause Nummer zwölf der Musikantengasse.

Unerwachsene Kinder gab es in diesem Hause leider nicht, dafür aber desto mehr davon in den nachbarlichen Wohnungen; es war sehr gut, daß sie nicht in der Luft tanzen konnten wie ein Mückenschwarm, sie hätten sonst den Weg durch die Musikantengasse zu einem sehr gefährlichen Unternehmen gemacht. Ratten und Mäuse waren im Überfluß vorhanden, und ein Eulennest wurde vor kurzem erst, nachdem es eine geraume Zeit hindurch allnächtlich einen großen Teil der Inquilinen in Bangen, Schrecken und Gespenstergrausen gestürzt hatte, in einem alten vermauerten Schornstein durch Ludwig Tellering und den Polizeischreiber Fiebiger entdeckt und zum großen Mißmut des letztern schadenfrohen Herrn ohne Gnade expropriiert. Wir erwähnen noch eine wechselnde Bevölkerung von Ausläuferinnen, Schneidergesellen und unglücklichen Lehrjungen im Erdgeschoß, eine grämliche Magd, die sich Hulda nennen ließ, im ersten Stock, eine überaus milde, durchsichtige Haushälterin, Frau Krieg, die dem Rentier Mäuseier das Leben erträglich machte, und zum Beschluß den Geist im weiß und schwarzen Mönchsgewande, welcher nächtliche Streifzüge von dem alten Kloster des heiligen Nikolaus her in das Haus Nummer zwölf unternehmen sollte und von Fräulein Aurora Pogge mit dem vergrabenen Klosterschatze, von Fräulein Angelika Stibbe aber mit einer blutigroten Liebesgeschichte in Nummer zwölf in Verbindung gebracht wurde: damit schließen wir unsere Liste der Hausbewohner, behalten uns aber natürlich vor, eine Million interessanter Einzelheiten über sie an den betreffenden Stellen einzufügen.

Dunkel, feucht und eng war die Hausflur, über welche Robert Wolf von dem Polizeischreiber und Julius Schminkert geführt wurde; dunkel war der Blick, welchen der Tailleur aus seinem gasbeleuchteten Atelier auf den Sommerbühnenmimen warf, tief und dunkel war das Auge Angelikas, welches aus einer andern Pforte dem leichtsinnigen Julius entgegenblitzte. Die steile Treppe hinauf mußte Robert Wolf mehr geschleift und getragen als geführt werden, und das dadurch entstehende Gepolter beschwor auf den Treppenabsatz, wenn auch nicht den gespenstischen Mönch, so doch eine nicht viel weniger schreckliche Erscheinung, Fräulein Aurora Pogge mit ihrer Küchenlampe. Ahnte sie, daß ein neuer Charakter für ihr Memoirenbuch am Horizont des Hauses Nummer zwölf aufging? Menschenfeindlichen Blickes betrachtete sie den mit dem Schreiber an ihr vorüberschwankenden Robert und beklagte sich nachher bitterlich bei dem Hauseigentümer darüber, daß man solch wild, wüst und vagabundenhaft aussehende, verdächtige Individuen bei ›nachtschlafender‹ Zeit in Häuser einführe, wo alleinstehende und -schlafende Damen und schutzlose Jungfrauen mit allem, was sie um und an sich hätten, den Gelüsten jedes verwegenen Verbrechers ausgesetzt seien, wie die Gerichtszeitung ›tagtäglich‹ durch haarsträubende Berichte und Beispiele gräßlich der Welt vor die Augen stelle. Der beschauliche Hausherr jedoch, als er vernahm, daß der Polizeischreiber bei der Sache beteiligt sei, wurde in der Ruhe des sichern Bürgers nicht aufgestört durch diese Klagen. Sein Herr Fiebiger gehörte ja der Polizei an und somit der allein infallibeln Macht und Autorität auf dieser Erde; und dem Schutze und der bessern Einsicht dieser Macht darf, kann und muß man alles, was man hat und ist, kindlich vertrauend anheimstellen.

Grollend zog sich Fräulein Aurora Pogge in ihre jungfräulichen Gemächer zu ihrer Katze, ihrem Tagebuch und ihrer Magd zurück, während der Partikulier Mäuseler eine frische Pfeife stopfte und sich glücklich und sicher in dem Bewußtsein fühlte, daß andere Leute für ihn dachten und handelten; als deutscher Mann und freier Bürger fühlte er sich in dem Bewußtsein, daß ihn zum Denken und Handeln niemand zwinge.

»Himmlische Augen, wunderbare Augen – schwarzes Meer – bodenlose Tiefe – ewiger Untergang!« murmelte Julius, während der Schreiber in seinem Stockwerk nach dem Schlüsselloch tastete. Wir wollen uns aber nicht mit der Gedankenreihe beschäftigen, welche der Deklamator durch diese Ausrufe und Bilder zum Abschluß brachte, nur das wollen wir sagen, daß sie sich längst nicht mehr auf Helene Wienand bezogen.

Der Polizeischreiber fand das Schlüsselloch, Robert trat in die Behausung seines Führers, seine neue Heimat. Schminkert folgte, rezitierend:

»O Venus Cypria, den kleinen Fuß
Soll sie mir setzen auf den stolzen Nacken,
Und höher trag' das Haupt ich als ein König.«

In Prosa setzte er hinzu:

»Können Sie die Lampe nicht finden, Alterchen, oder liegt's an den Schwefelhölzern? Ordnung, Ordnung, Mann der Ordnung! Wie oft soll ich Ihnen das sagen? Ordnung ist die Hauptsache im menschlichen Leben, das sehen Sie deutlich an mir. Aha, – endlich! Licht wird's, und aus dem Chaos steigt die Welt.«

»Hier sind die versprochenen zehn Taler«, sagte der Schreiber. »Nun packen Sie sich auf der Stelle, Julius, und kommen Sie nicht eher heim, bis das Geld den Weg Ihrer übrigen Besitztümer gewandelt ist. Hier – nehmen Sie! – nun, warum nehmen Sie nicht?«

Der Deklamator wies mit einer majestätischen Handbewegung die dargebotenen Banknoten weit von sich, warf die Augen »graß in einen Winkel«, wie der Major von Walter in Kabale und Liebe, blickte dann »fürchterlich zum Himmel«, wie derselbe unzurechnungsfähige Major, und sagte mit den hohlsten Brusttönen, die er aufbieten konnte:

»Pieseke, wie kommen Sie mir vor?!«

»Was fällt Ihnen ein? Nehmen Sie, und fort mit Ihnen!«

»Weder das eine noch das andere, Greis. Sie sind ein großartiger Charakter, Fiebiger; aber Julius Schminkert wird Ihnen an Erhabenheit nicht nachstehen. Ihr schnödes Geld erlaube ich mir mit legitimer Verachtung zurückzuweisen; aber ein steifes Glas Grog wollen wir uns und diesem Jüngling brauen, Alter; und ich will Euch das neueste Couplet vom Thaliatheater singen; trinken wollen wir auf die Tugend, Schönheit und Gesundheit des Engels, welcher diesen Sohn der Wildnis mit seinem Flügelschlage auf das Pflaster warf. Trinken wollen wir und – Hölle und Teufel, was soll –«

Der Polizeischreiber hatte mit einer Kraft, welche man ihm nicht zugetraut hätte, den Komödianten an den Schultern genommen und ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zur Tür hinausgedreht. Eilig schob er hinter dem mundfertigen Künstler den Riegel vor und sagte energisch:

»So!«

Draußen ein ärgerliches Gebrumm, untermischt mit pathetischen Tiraden aus den Werken einheimischer und fremder Dramatiker! Nun ging dieses Fluchen und Deklamieren in ein höhnisches Pfeifen über, dieses in eine lustige Opernmelodie, und diese in ein Lied, in welchem der Dichter und Julius Schminkert die alles in allem doch so ernste Welt aufforderten, dem Trübsinn und der Trauer ein Schnippchen zu schlagen, die silbernen Becher anzuklingen und zu leeren auf das Wohl einer gewissen romanischen und romantischen Dame, Tochter eines hohen römischen Würdenträgers, welche sich, wie es schien, in politischen Angelegenheiten zu Venedig aufhielt, da es in dem Liede an geheimnisvollen Anspielungen, Lagunen, Mondschein und Gondeln nicht fehlte.

Dieser Gesang entfernte sich die Treppe hinunter, drang zu den schläfrigen Ohren des Partikuliers Mäuseler und seiner Wirtschafterin, ärgerte Fräulein Pogge und fand einen sympathischen Nach- und Widerhall nur in dem zarten Busen Angelikas, welche belesene junge Dame sich ganz dafür geeignet fühlte, ebenfalls die Tochter eines Kardinals zu sein und auf den Lagunen im Mondenschein in einer Gondel zu schweben. Ihr tragisches Ende fand die Arie erst an der nächsten Straßenecke, wo der talentvolle Sänger Don Julio Schminkertino auf dem Glatteis ausglitschte und sich mit schmerzlichem Nachdruck auf einen unnennbaren, aber durchaus nicht transzendentalen Körperteil setzte.

Wenn wir noch einmal über die Schulter nach ihm hinblicken, so bemerken wir, daß er sich – nicht die Stirn reibt. Wir überlassen ihn jetzt seinen Gefühlen, die wir leider in des Wortes höchst materiellster Bedeutung nehmen müssen, und sprechen von dem Polizeischreiber Fiebiger in seiner Wohnung und in seinem Schlafrocke.

Kalt gewordener Tabaksrauch ist noch eine der geringern Qualen, denen das Weib des neunzehnten Jahrhunderts ausgesetzt ist, wie zwischen den Zeilen mehr als einer schriftstellernden Makarie zu lesen ist. Die Natur des alten Polizeischreibers hatte viel vom Duft des kalt gewordenen Tabaksrauchs und sein Zimmer nicht weniger. Eine über und über mit Pfeifen von allen Formen und Größen behängte Wand bestätigte, daß der Alte ein eifriger Feueranbeter und Verehrer des stinkgiftigen Krautes sei. An der entgegengesetzten Wand fiel ein Bücherbrett ins Auge; die römischen Autoren in der Ursprache, die Griechen in Übersetzungen, deutsche, englische und französische Dichter und Philosophen in unvollständigen Exemplaren waren hier aufgestellt.

Auf den ersten Blick sah man dieser Büchersammlung an, daß sie allmählich beim Antiquar und in Versteigerungen zusammengekauft war und daß viele Jahre darüber hingegangen waren, ehe sich die mehr oder weniger zerlesenen Bände an dieser Stelle zusammengefunden hatten.

Das zweifenstrige Gemach war bedeutend länger als breit, und eine Glastür führte in eine fast noch längere und schmälere Kammer, aus der man die schöne Aussicht auf die Höfe und Hintergebäude der Musikantengasse und auf den Giebel des Sternsehers genoß. In der Stube befanden sich einige Stühle, welchen man ebenfalls den Trödelmarkt ansah, ein zerlumptes Sofa, ein runder Tisch, ein Schreibtisch und ein Spiegelembryo, der nur beim hellsten Wetter zu gebrauchen war und welcher dann doch noch dem schönsten Mädchengesicht die verschrobenste Fratze zugeschnitten hätte, wenn eins hineingelächelt haben würde. In der Kammer stand ein schlechtes hartes Bett, ein Stuhl, ein Nachttisch und ein Kleiderstock. Eine Tür führte in eine leere zweite Kammer.

Wir notieren das Mobiliar der ganzen Wohnung nur deshalb gleich einem Auktionskommissarius, weil wir die Originalität des Bewohners nicht dadurch hervorheben wollen, daß wir ihn in eine originelle Umgebung versetzen. Kleider machen nicht immer Leute, den Menschen erkennt man nicht immer an seinem Umgange, nicht immer ist ein Genie nachlässig in seinem Äußern, und es kann Sonderlinge geben, die nicht mehr einen Zopf dem zwanzigsten Jahrhundert entgegentragen und die sich durch nichts Auffälliges von den übrigen Menschen abheben.

Man sagt und klagt, die Sonderlinge – diese ernsthaft-spaßhaften Menschen, über die man sich so gern ergötzte – verschwänden allmählich ganz und gar, und hält auch das für ein Zeichen, daß die Welt und Zeit immer flacher werden. Ein großer Teil der Leute, welcher von dem Sterngucker Ulex weiß, möchte ihn gern unter Glas und in Spiritus setzen samt dem alten Giebel vom Nikolaikloster, um beides so lange als möglich zu erhalten. Sollte sich die Originalität in jetziger Zeit vielleicht nicht mehr auf die innern Teile einzelner Bevorzugter werfen?

Für das Innerliche hat die Menschheit niemals ein sehr scharfes Auge gehabt, und wir wollen ihr keinen Vorwurf daraus machen; denn die Winter sind kalt, die Kartoffeln mißraten sehr häufig, und man hat seine liebe Not mit den Regierungen, den Weibern und Kindern. Achtung oder du erfrierst! Achtung oder du verhungerst! Achtung oder man stellt dich unter polizeiliche Aufsicht! Achtung oder die Frau zieht den Pantoffel vom Fuß! Achtung oder deine Tochter kriegt keinen Mann! – Zum Teufel mit der Innerlichkeit, die arme Menschheit hat wenig Zeit, sich mit ihrem eigensten Wesen zu beschäftigen.

Der Polizeischreiber Fiebiger aus Poppenhagen hatte das Leben von den verschiedensten Seiten kennen gelernt. Er hatte in seiner Jugend fast so viel Inkarnationen durchgemacht wie ein indischer Gott; nun aber betrachtete er fast schon dreißig Jahre lang das Dasein von seinem hohen Dreibein im Departement der öffentlichen Sicherheit aus, und seine Philosophie war die eines geistreichen Mannes und Autodidakten, der alles benutzt hat, um zu lernen, und in Fesseln und Ketten ein freier Mann geblieben, aber ein kaustischer Verächter aller Prätensionen menschlichen Stolzes und menschlicher Vollkommenheiten geworden ist. Er war wenig krank, und wenn er sich je unwohl fühlte, so litt er an versetzter Satire, wie andere Leute an versetzten Blähungen leiden. Dieser Natur konnte keine bessere Stellung in der Gesellschaft als die, in welcher sie sich befand, zuteil werden. Dieser Herr Fiebiger war ganz an seinem Platze im Bureau Nummer dreizehn. Er behauptete, zwei Gewänder zur Bedeckung seines Ichs zu haben, einen Frack und einen Schlafrock. Im Frack sammelte der Polizeischreiber den Stoff, welchen er im Schlafrock in langen Monologen sich selber oder in kurzen Bemerkungen andern, nach seiner Art verarbeitet, zum besten gab, sich selber höchst vergnügt, andern zu Ärger, Lehre und Nutzen.

Wörtlich genommen, trug der Schreiber keinen Schlafrock, sondern eine kurze wollene Jacke, in welcher er sich in diesem Augenblicke, dicht am warmen Ofen, mit seinem Schützlinge zu einem höchst frugalen Abendessen niedersetzte.

Mechanisch aß und trank Robert Wolf, ohne zu wissen was. Er sah alles durch einen gestaltenvollen Nebel und starrte seinen Wirt an wie den Beherrscher dieses Nebels, dieser Gestalten, wie ein Rätsel, welches zu lösen er sich viel zu schwach fühlte. Der Knabe war sehr weich geworden, und man sah es an seinen Augen, daß sie sich, wie die eines Kindes, bei dem geringsten Anlaß mit Tränen füllen würden.

Während des Mahles beobachtete der Wirt den Gast scharf und genau und unterwarf ihn schweigend einer nochmaligen Prüfung, die ganz zu seiner Zufriedenheit auszufallen schien; denn er schob seinen Teller zurück und stopfte seine erste Abendpfeife mit dem Ausdruck eines Mannes, der ein großes Werk zum erwünschten Abschluß gebracht hat und vollkommen mit sich einverstanden ist.

Mit blauen Ringeln und Wolken füllte sich von neuem das Gemach; der Regen schlug in Stößen gegen die Fenster, dumpf rollten die Wagen in den Gassen. Der alte Gastfreund lehnte sich zurück in dem zerlumpten Sofa, sah noch einmal seinem Gast in die Augen, blies eine Rauchwolke gegen ihn und begann ganz ex abrupto:

»Ich heiße Friedrich Wilhelm Fiebiger, bin im Jahre 1788 zu Poppenhagen im Wirtshaus zum Drachen geboren und bin in die Welt gelaufen, nachdem mein Vater sein Wirtshaus in seiner eigenen Gaststube vertrunken, den Drachen in anderer Leute Hand, sich selber aber in die Grube gebracht hatte. Per varios casus bin ich endlich hier Polizeischreiber geworden und zugleich ein alter Gesell, der seine Stiefel selber putzt, selber seinen Kaffee kocht, gerade wie Robinson Crusoe auf der Insel Juan Fernandez. Kennen Sie die Geschichte, Robert?«

Der Knabe nickte.

»Gut, so wissen Sie auch, wie der in doppelter Hinsicht verschlagene Reisende einen grünen Vogel, wenn ich nicht irre, einen Papagei, fing und zu seinem Freunde und Genossen machte. Ich versuchte dasselbe, um meine Einsamkeit zu erheitern, brachte es aber nur zu einem Starmatz, von dem sein Verkäufer behauptete, es sei der gebildetste Vogel, der jemals den Unterricht des Menschen genossen habe. Mißtrauisch innerhalb der Polizeistube, bin ich der leichtgläubigste Mann außerhalb derselben. Ich kaufte den Vogel, und mein Kummer war nicht gering, als ich aus dem Schnabel des schwarzen Satans nichts als die injuriösesten Schimpfnamen, Epitheta, wie sie noch niemals einem Polizeier geboten waren, zu hören bekam. Die Katze fraß die Bestie und rächte mich, – nun frage ich dich, Robert Wolf vom Eulenbruch, willst du den Versuch machen, auf dem Fuße vollkommener Gleichberechtigung mit mir Stiefel zu putzen und Kaffee zu kochen? Willst du meine Grillen und Launen ertragen und mir deine Seele geben, wie du sie der schönen Eva Dornbluth, unserer Landsmännin, gabst? Ich bin kein Onkel Zauberer, der expreß aus Afrika nach China kommt, um sich von dem dummen Schneiderjungen Aladin die Wunderlampe aus der Zauberhöhle holen zu lassen und den Armen in blinder Wütenhaftigkeit darin einzusperren. Ängstige dich nicht, Robert Wolf. Ich bin arm und kann dir keinen Glanz versprechen. Ich bin arm und du wirst mit mir arm sein; hart wirst du arbeiten müssen, denn der Mensch ist zur harten Arbeit geschaffen. Viel Feiertage wird's nicht abwerfen, denn die Feiertage sind den Menschen deiner Art nichts nütz; Licht und Luft wirst du in dem Dasein, welches ich dir biete, nicht so unmittelbar aus der ersten Hand haben wie in deiner – in unserer waldigen Heimat. Bedenke dich – wirst du dein Leben in meine Hand legen, so will ich versuchen, mit guter Hilfe diesem Leben einen Inhalt zu geben, wie er sich für ein vernünftiges Wesen schickt!«

Zitternd rief der Jüngling:

»Sie wollen sich so meiner annehmen? Ich soll hier bei Ihnen leben? Ich soll hier in dieser Stadt wohnen?«

»Wenn du willst, so wird dem nichts entgegenstehen.«

»Ich kann mit ihr nicht in einer Stadt leben!« schrie Robert Wolf, mit der alten Energie aufspringend. »Ich könnte ihr in den Straßen begegnen, und ich würde sie dann töten. O lassen Sie mich meines Weges gehen, jetzt, jetzt gleich!«

»Ruhe, mein Junge; immer ruhig Blut«, sagte der Schreiber gemütlich. »Wir haben nun das erste Brot und Salz der Gastfreundschaft miteinander gegessen, jetzt wollen wir dir, so gut es angeht, ein Nachtlager bereiten. Ich leihe dir für diesmal einen Strohsack und einen alten Mantel. Morgen im Tageslicht wird alles ganz anders aussehen. Morgen will ich meine Fragen dir wiederholen; jetzt hast du ein wenig das Fieber und mußt ausschlafen. Komm zu Bett!«

Robert Wolf folgte dem Alten schwankend; in der zweiten Kammer wurde der Strohsack auf den Boden geworfen, und ein erträgliches Lager hergestellt. Der Knabe aus dem Walde hatte zu oft auf nackter Erde geschlafen, um nicht ein solches Bett eines Königs würdig zu finden. Der Schreiber reichte ihm die Hand und sprach:

»Schlafe wohl, mein Kind; träume nicht allzu unruhig; du schläfst in der Wohnung eines Freundes. Denke nicht an das hübsche Mädchen, sondern tu mir die Liebe an und schnarch. Der Klang der Fußtritte des Glücks ist von dem Gepolter, womit das Unglück einherschreitet, oft schwer genug zu unterscheiden. Es ist immer aber hübsch von beiden, wenn sie nicht in unhörbaren Gummiüberschuhen herangeschlichen kommen. Fac, ut valeas.«

Der Alte ging mit der Lampe, und der Knabe warf sich seufzend auf das harte Lager. In der Stube schritt der Schreiber auf und ab und horchte kopfschüttelnd auf das bitterliche Weinen, in welchem sich das arme zusammengepreßte Herz des Knaben, jetzt wo es dunkel und still umher war, unaufhaltsam Luft machte.

»Armes Kind«, murmelte der Alte. »Weine nur, spül rein die junge Seele! Wer weiß, wozu du bestimmt bist? Mit harter Hand faßt das Schicksal vor allem gern seine Günstlinge; ruhig, auf makadamisiertem Pfad – alle Viertelmeile ein Meilenzeiger – läßt es nur die wandeln, welchen das Los der goldenen Mittelmäßigkeit aus der geheimnisvollen Urne fiel. Nicht in Goldwolken hüllt das Schicksal seine Erkorenen: in den dunkeln Mantel des Schmerzes, der Gebrechen, der Krankheit und jeglichen Elends hüllt es sie und reißt sie durch das Leben. Und neidisch ist das Schicksal; wie manchen hohen Geist hat es für sich behalten in dem dunkeln Mantel, wie selten fällt die Hülle von der Schulter eines Auserwählten, wie selten wird ein Individuum für die übrige Menschheit denkmalreif und ein würdiger Gegenstand für Toaste, Reime und Festessen.«

Es war gut, daß dem Alten über diesen Gedanken die Pfeife ausging; während er sie von neuem in Brand setzte, lächelte er über sich selbst, rieb sich die Stirn und brummte:

»Sieh, Fiebiger, hab ich dich wieder? Alter Knabe, wirst du die Dinge außerhalb der Schreibstube nie so sehen, wie sie alle übrigen verständigen Leute erblicken? Du setzest mich in Erstaunen, Fritze Fiebiger! Hebräer, Griechen und Lateiner sind einig, daß es vor allem übel ist, mit der Nase ein Loch in das Firmament stoßen zu wollen; man vergißt darüber die Löcher im realen Erdboden, liegt drin und wird ausgelacht. Hier haben wir den großen Redner und Oberbürgermeister Marcus Tullius Cicero, welcher keine Verse machen kann, aber sehr gern die des Ennius zitiert:

Keiner schaut, was vor dem Fuß liegt,
Himmelsräum' ausspähen sie.

Und hier hebt der semitische Weise die Hände empor und hält sich mit denselben Worten über dieselben sternguckenden Naturen auf. Wir wollen beiden kein Ärgernis weiter geben, Fiebiger, wie sehr wir auch dich beneiden mögen, Heinrich Ulex. Kurz und bündig, Fiebiger, was willst du nun mit diesem Jungen, welchen du von der Straße aufgelesen hast, anfangen? 's ist doch in Wahrheit ein Brief mit fremdem Siegel und fremder Aufschrift.«

In diesem Augenblick erschien dem Polizeischreiber die Verantwortlichkeit, welche er sich aufgeladen hatte, nicht mehr so klein wie vorhin. Bedenklich nahm er seinen Weg durch das Gemach wieder auf; die Geister seiner großen Register ließen ihn vollständig in Ruhe; sie wagten sich nicht hervor aus ihren Folianten, und somit hatte der Schreiber wenigstens etwas erreicht.


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