Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Vierzehntes Kapitel

Von einem grünen Gartenflecke, einer weißen Marmorbildsäule, einem Gartentisch und einer grünen Bank

Wir haben schon mehr als einmal erwähnt, auf welchen Wirrwarr von Dächern, Mauern, Giebeln, Blitzableitern, Brüstungen, Galerien, Feueressen und dunkeln Höfen man südwärts aus den Hinterfenstern der Wohnung des Polizeischreibers Fiebiger sah; von dem Giebel des Astronomen Heinrich Ulex hatte man, wiederum südwärts, eine ähnliche Aussicht; doch waren die Dächer nicht so unregelmäßig, so alt und grau. Der Häuserhaufe, den man von hier aus betrachten konnte, war in jüngerer Zeit aufgerichtet worden und wurde von den Bewohnern in bester Ordnung und Reinlichkeit erhalten. Hier begann das Stadtviertel der angeseheneren Beamten, der Großhändler, ein ruhiges, reinliches, solides Stadtviertel, auf welches die Regierung sich verlassen konnte und sich auch wirklich verließ. Da ragte hier und dort Gezweig von Zierbäumen über die Mauern, man sah sogar einen Zipfel von einem kleinen Garten, und um die Zeit, in welcher wir unsere Geschichte wieder aufnehmen, war der Winter zu Ende, waren die Bäume grün, blühten die Blumen in dem Garteneckchen. Die Katzen putzten sich auf den Dächern den Bart, der Polizeischreiber Fiebiger trug Nankingbeinkleider, Julius Schminkert trug seine hellblaue Sommerkleidung nach – dem Pfandhaus und drapierte sich in einen abgelebten Wintermantel wie ein zynischer Philosoph. Der Sternseher freute sich über die klaren Nächte, und die Sonne freute sich, daß sie keine mürrischen Wolkengebilde mehr zu bekämpfen hatte. Angelika Stibbe schwebte in Flor und Flitter, bunt wie in eine abgelegte Robe der Iris gekleidet, einher. Fräulein Aurora Pogge ward immer grämlicher, je schöner das Wetter wurde, sie gönnte es der Welt nicht; der Hausbesitzer Mäuseler kam nicht aus seiner Stimmung heraus, er vegetierte fort in der gemäßigten Zone seines Daseins. Ludwig Tellering studierte mit immer höherm Eifer und Erfolg Geographie, und es kam ein Brief aus New-Orleans an die Adresse von Luise Tellering, ein sehr unorthographischer Brief, unterzeichnet Marie Heil. Der Brief verschwand spurlos, und nur der Erzähler weiß, wer ihn aus Luisens Nähkästchen stahl.

Mehr als einen Sarg und eine Wiege hatten die beiden Schreiner im Hinterhaus von Nummer zwölf der Musikantengasse angefertigt seit der Nacht, in welcher Friedrich Wolf und Eva Dornbluth die Stadt verließen. – Frühling und Sonnenschein! – Schwer hielt es, in dem jungen, ernsten, sinnenden Mann am Fenster des Klostergiebels den abgehetzten jungen Wilden aus dem Walde, Robert Wolf, wiederzuerkennen. Man sah ihm an, daß er durch seine Lehrer jetzt bereits stärker und anders gegen die Welt gerüstet war, wie der alte Ulex sagte: artibus, virtute, opere, armis. Männlicher war er geworden; das Auge, nach Milton das große Tor der Weisheit, hatte den unruhig suchenden Schimmer verloren; es war stet geworden, aber scharf geblieben; das sah man selbst jetzt, wo es sinnend träumerisch auf einem Punkte der Ferne ruhte.

Vor dem Jüngling lag der hohe Lehrmeister Virgil, der Zauberer und Dichter, aufgeschlagen; aber der Scholar beschäftigte sich heute so wenig mit ihm, daß der Astronom, der weiter weg an einem andern Tische über einem sonderbaren, auch den Gelehrten bis dahin gänzlich unbekannt gebliebenen Buche aus der Königlichen Bibliothek, betitelt: »Die Welt als Wille und Vorstellung«, brütete, öfters kopfschüttelnd seine Verwunderung darüber kundgegeben hatte. Worte lieh er freilich seiner Mißbilligung nicht; denn der Greis gab der Zeit, der Frühlingssonne ihr Recht, den Geist zu lösen aus den Banden, ihn aus der dunkeln Nähe in die blaueste Ferne, weit über die Dächer und Mauern, weit über die äußersten Grenzen von Stadt, Feld, Dorf, Wald, weit, weit über die Berge, weit in die Ewigkeit hineinzuführen.

›Es will alles sein Recht haben‹, dachte der Weise. ›Das sind nicht die wahren Menschenerzieher, welche der ungeduldigen Seele die Zügel so fest anziehen, daß sie fort und fort gradaus nach dem Willen des Lenkers ihren Weg nehmen muß. Wehe, wenn der Zügel reißt, oder das Geschick ihn plötzlich, mitten auf dem Wege, aus der Hand des Führers nimmt. Träume, mein Kind, träume, wandle zwischen den Sternen, wie du sie siehst; die Erde, wie sie ist, wird dich bald genug herabholen.‹

Heinrich Ulex war unstreitig ein weiser Mann, diesmal befand er sich jedoch in einem großen Irrtum; die Seele Roberts wandelte augenblicklich nicht von Stern zu Stern, die Sonne überstrahlte die Sterne viel zu mächtig; – die Seele des jungen Menschen schwebte nicht hoch über der Erde; im Gegenteil dicht am Boden klebte sie und erging sich zwischen dem Gebüsch der Gartenecke, die in der Tiefe vom Giebel des Nikolaiklosters aus zu erblicken war. Wie schon gesagt, der Jüngling hatte ein gutes Auge aus dem Walde in die Stadt mitgebracht, und es entging ihm keine Einzelheit des grünen, von der Sonne beschienenen Fleckchens. Da stand zwischen Holundergesträuch eine weibliche Bildsäule von weißem Marmor, welche mit beiden Händen eine Schale, aus der Schlinggewächse herabhingen, über das Haupt erhob. Im Schatten des Holunders, dicht neben der schönen Statue, stand eine zierliche Bank und davor ein ebenso zierliches Tischchen. Auf der Bank saß ein junges Mädchen, welches einen breitrandigen Strohhut neben sich gelegt hatte und in eifriger Arbeit sich über einen Stickrahmen neigte.

Solange der Winterschnee die Dächer und den Gartenabschnitt deckte, hatte Robert Wolf nicht auf diesen Erdenfleck, der seine Aufmerksamkeit jetzt so sehr in Anspruch nahm, geachtet; die Katzen, der Rauch, welcher aus den Schornsteinen aufstieg, hatten mehr Interesse für ihn gehabt als die paar kahlen Zweige und die mit Stroh umwickelte Puppe. Das hatte sich mit Eintritt der Tag- und Nachtgleiche geändert. Von seinem Lexikon aufblickend, sah Robert eines Tages da grüne Blätter und Blütenranken, wo kurz vorher nur ärmliches Gestrüpp zu erblicken war; ein sonniges Rasenstück war unter dem Schnee verborgen gewesen, und aus der Strohhülle hatte sich das weiße Bild der Götterschenkin Hebe losgewunden. Über Nacht war der Frühling auch in das Steingewirr dieses Teiles der großen Stadt gekommen; und am Morgen kam ein zierliches Fräulein, stand in einem Sonnenstrahl und gab einem Gärtner Anweisung, was nun weiter mit dem vom Frühling geübten Zauberwerk anzufangen sei. Der Jüngling am Fenster des Klostergiebels sah es stehen, achtete jedoch anfangs weniger auf das niedliche Kind als auf das grüne Gebüsch und die Baumwipfel, an welchen die Blüten sich öffneten. Jeden Fortschritt der Vegetation auf diesem winzigen Punkt inmitten der grauen Einöde beobachtete er sozusagen gierigen Auges. Es lag ein Trost darin, eine Art Bürgschaft dafür, daß die Welt doch noch nicht ganz zu Mauerwerk, Schornsteinen und Feueressenqualm geworden sei. Um die Gesichtszüge des jungen Mädchens, welches auf diesem sonnigen Fleckchen wandelte, mit bloßem Auge zu erkennen, war die Entfernung doch zu bedeutend.

Eines Tages aber kam der Polizeischreiber sehr ärgerlich gestimmt von dem Polizeibureau nach Hause; eine Dame, welche von einer Nachbarin in ihren heiligsten Gefühlen beleidigt war und welche an der Menschheit verzweifelte, hatte auch den Protokollführer beinahe zur Verzweiflung gebracht. Er hielt während des Mittagmahls seinem Zögling eine donnernde Philippika gegen die Weiber, zog zur Verdauung Göckingks Gedichte aus seiner Bibliothek und trug dem gleichgestimmten Robert den beherzigungswerten Vers:

»Jüngling, hüte dein Herz und dünke gegen die Schönheit
Nie dich weise genug, nimmer dich stärker als sie!« –

nebst polizeilich angehängtem Kommentar daraus vor. An demselben Tage richtete Robert in Abwesenheit des alten Ulex eins der Fernrohre des Astronomen auf den Gartenfleck, die Marmorbildsäule, die Laube und die junge Dame und erkannte nun das Gesicht wieder, welches an jenem Abend, wo er, von dem Wagenrad niedergeworfen, auf der kalten, nassen Erde lag, sich so erschreckt, lieblich und rührend zu ihm niedergebeugt hatte. Der Garten gehörte zum Hause des Bankiers Wienand, das kleine Fräulein unter den Holunderblüten war Helene Wienand.

Wir wollen jetzt versuchen zu sagen, was und wie der junge Mensch in diesem neuen Frühling dachte und fühlte, wenn er das junge Mädchen im Grün neben der weißen Statue sitzen sah. Der ersten Überraschung folgte in der Brust des Jünglings ein gewisser Mißmut, eine Art ärgerlichen, verbissenen Grolles; denn fürs erste sah er noch das ganze Geschlecht in der Gestalt der einen verkörpert, durch welche er solchen Schmerz erduldet hatte und noch dulden mußte. Während dieses Zustandes mußte Ulex seine wahre Freude an dem Schüler haben. Mit brennendem Eifer vertiefte dieser sich in die Bücher und machte in jeder Hinsicht solche Fortschritte, daß der Alte gegen Fiebiger sein Lob nicht laut genug aussprechen konnte.

Doch wer kann immerdar über die schwarzen Lettern, wenn sie auch noch so viel Weisheit und Poesie enthalten, sich beugen? Stets von neuem fordert das Lebendige sein Recht über das Tote, und von dem Buche mußte das Auge des jungen Mannes sich doch zuletzt wieder erheben – zum Himmel, zu den Wolken, die der Südwind über die Dächer trieb. Über die Dächer selbst mußte es schweifen, bis es wieder auf dem grünen Fleck, den es meiden wollte, haftete. Hatte der Knabe die Stelle, welche er so unwillkürlich suchte, gefunden, so fuhr er wohl ärgerlich zusammen, schlug er mit verdoppelter Energie ein Blatt der Leiden des klugen Wanderers Odysseus, des Äneas und seiner Genossen oder eine Seite im Schiffskatalog um; aber dasselbe Spiel wiederholte sich von neuem, in der nämlichen Viertelstunde, auf die nämliche Weise. Der Sternseher hatte recht, wenn er sich nun über die Unbeständigkeit der Stimmung seines Schülers wunderte; er schob dieselbe aber auf irgendeine schwierige lateinische oder griechische Konstruktion und pflegte zu sagen:

»Gemach, gemach, mein Sohn; die ruhige Hand greift am sichersten. Woran liegt es denn?«

Errötend ließ der Jüngling den Greis in seinem Irrtum und wies irgendeine klassische Schwierigkeit auf, über welche nicht fortkommen zu können er behauptete. Der Sternseher konnte unmöglich wissen, was an der Sache war; er erklärte, und zwar mit Vergnügen; um keinen Preis hätte er die begonnene Unterweisung des Schützlings Friedrich Fiebigers wieder aufgeben mögen.

Geraume Zeit dauerte der Kampf Roberts gegen die zauberhafte Anziehungskraft der weißen Bildsäule, der grünen Baumgruppe und des kleinen Menschenfigürchens drunten in der Tiefe, zwischen den hohen Brandmauern. Darauf kam eine Zeit, in welcher Robert sich nicht mehr wehrte gegen den magischen Punkt im Süden, eine Zeit, in welcher der Sternseher die Fortschritte seines Zöglings nicht mehr so wie früher zu loben hatte. Selbst ein so gescheiter Mann wie Heinrich Ulex kann nicht auf alles achtgeben, zumal wenn die Astronomie seine Lieblingswissenschaft ist, zumal wenn er den Jahren, bis zu denen die Heilige Schrift des Menschen Lebensalter ausdehnt, so nahe gekommen ist, als der Sternseher es war.

Der Polizeischreiber machte sich keine Sorge über die Zerstreutheit seines Schützlings, und noch weniger Sorge machte er sich über eine andere Umwandlung, welche im Wesen des Jünglings eingetreten war. Anfangs hatte Robert sich vor den Gassen, vor dem Gewimmel der großen Stadt sehr gescheut, fast gefürchtet, und der einzige Weg, welchen er allein ging, war der zum Giebel des Nikolaiklosters gewesen. In das Gewühl der Stadt hatte er sich nur an der Seite des Polizeischreibers gewagt, und stets war er bedrückt und verwirrt draus heimgekehrt. Er schien auf keine Weise sich darin zurechtfinden zu können; die Häuser und Mauern wollten ihm auf den Kopf fallen, die Tausende und aber Tausende von Gesichtern waren ihm unheimlich; überall vermutete er lauernde Feinde, Spott und höhnisches Lachen.

Das änderte sich allmählich ganz und gar.

Robert Wolf wagte es, auf eigene Faust die Gassen zu durchstreifen; die Scheu, die Angst vor den Menschen verlor sich, und der Polizeischreiber Fiebiger rieb sich die Hände nach seiner Gewohnheit darüber. Der Ortssinn, welchen der Jüngling aus seinem Heimatswalde mitgebracht hatte, leistete ihm jetzt die besten Dienste; er suchte die Straße, in welcher das Haus stand, dessen Gärtchen man vom Giebelfenster des Sternsehers aus erblickte. Er fand die Straße und fand das Haus; durch Julius Schminkert erfuhr er, wem es gehöre. Robert fing an, nähere Bekanntschaft mit dem leichtsinnigen Wandnachbar zu machen; auch Schminkert gehörte zu den Lehrmeistern, welche den Jüngling in die Geheimnisse des Lebens einweihen sollten; – ein gefährlicher Lehrer war er freilich, und seine Maximen, seine Philosophie wären ohne das Gegengewicht, welches Ulex und Fiebiger in die Waagschale warfen, im höchsten Grade bedenklich gewesen. Es war die Philosophie des praktischen Zynismus, welche dem Jüngling hier entgegentrat, nicht jener Art des Zynismus, von der die Stoiker sagten, sie sei eine Abkürzung des Weges zur Tugend, sondern jener Art, welche nur eine Abkürzung des Weges zur Schenke, zu allen Ausschweifungen ist, indem sie die ganze Welt zu einer Kneipe macht und jede Tugend zu einem Schenkmädchen.

»Ich will Euch mal was sagen, Waldmensch«, meinte der treffliche Julius, »Ihr scheint mir ein ganz guter Junge zu sein; aber die Alten werden doch einen Esel aus Euch machen; Ihr seid da in die richtigen Hände gefallen. Haltet Euch stellenweise ein wenig zu mir, ich werde Euch mancherlei zeigen, von welchem selbst die hohe Polizei keinen rechten Begriff hat. Man muß sich in das Leben hineinfressen wie die Maus in die Speckseite und sich nicht gleich ins Mauseloch jagen lassen, wenn die alte Person, der Küchendragoner Moral, mit Besen und Feuerzange ein großes Gepolter macht.«

Julius Schminkert gehörte zu den Menschen, welche in der ebenso angenehmen wie leicht erklärlichen Illusion befangen sind, zu den achtungswertesten, verkanntesten, geistreichsten und unentbehrlichsten Charakteren der Gegenwart zu gehören, und welche es zugleich für ihre Pflicht halten, sich von Zeit zu Zeit ein Individuum aus der Masse der Menschheit zu wählen und es mit allen ihren in ihnen verborgenen trefflichen Eigenschaften speziell bekannt zu machen. Diese Menschen sind von der Natur mit seltsam kräftigen Anklammerungswerkzeugen ausgestattet; den Gegenstand ihrer Zuneigung halten sie fest, bis er ihnen langweilig geworden, bis sein Geldbeutel leer ist; – es sind noch lange nicht die schlechtesten Gesellen, und der schlaue alte Fiebiger ließ seinen Schützling ruhig mit dem Schauspieler gehen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Die Augen hielt er aber weit offen.

Julius Schminkert führte den Jüngling ein in den Kreis, von welchem der Rentier Schwebemeier ein so ausgezeichnetes Mitglied und kostbarer Zierat war und wo die früher schon erwähnten Damen die weibliche Grazie in der echtesten Karikatur zur Darstellung brachten. Groß war die Verwunderung Roberts über die Anschauungen und das Gebaren dieses Kreises, über die Geschichten, welche die Herren und Damen erzählten, über die Art, wie sie ihre Geschichten erzählten. Es konnte nicht fehlen, daß von Zeit zu Zeit auch die Rede auf die »durchgegangene« Eva Dornbluth kam, und Robert mußte alle Geisteskraft zusammenraffen, um nicht, wenn dieser Name mit Spott und unendlicher Heiterkeit genannt wurde, aufzuspringen und dreinzuschlagen. Eines Abends kehrte der Jüngling aus der Gesellschaft des Schauspielers heim in das stille verräucherte Gemach, wo der Polizeischreiber in Tabakswolken gehüllt bei seiner Lampe saß und las, legte mit Tränen der Reue und Wut dem Alten unaufgefordert Beichte ab und versprach ihm und sich selbst feierlich, nicht mehr den Wegen, auf welchen der lustige Julius sein Dasein vertaumelte, folgen zu wollen.

Der Alte fuhr sich komisch durch die Haare und meinte: »Hast du genug in den Topf gerochen? Ein arabisches Sprichwort sagt: ›Spiele nicht mit den Hunden, sie könnten sich deine Vettern nennen.‹ – Man kann vieles in einem langen Leben lernen; aber oft noch mehr in ein paar Tagen, in einem kurzen Augenblicke. Na, beruhige dich, Bursche; ich wußte, daß es so kommen würde; man soll den Menschen nicht auf alles mit der Nase stoßen, es schadet gar nichts, wenn er sie sich selbst von Zeit zu Zeit an einer Ecke blutig rennt.«

So wurde der Knabe aus dem Walde zwischen der Weisheit, die in der Einsamkeit unter den Sternen wandelt, der Weisheit, die im Gewirr der Menschheit den festen Boden der Erde tüchtig und ernst beschreitet, und der Lebensansicht, welche im Schmutz tappt und den Fuß nur hebt, um ihn desto tiefer wieder in den Kot zu setzen, seines Weges geführt. Seine Schule begann sehr früh, und oft genug zitierte ihm der Sternseher die Worte Senecas: »Non est ad astra mollis e terris via.« Er vertiefte sich in den bittersüßen Inhalt des Buches des Lebens zu einer Zeit des Lebens, in welcher andere sich noch kindlich über den schönen goldglänzenden, bunten Einband freuen. Er war zu beneiden; aber er war auch zu beklagen. Wie wunderlich ist es doch, daß die Menschen, deren Los, alles in allem genommen, ist, hienieden beklagt zu werden, so oft und so grundlos beneidet werden und wieder andere beneiden!

Aber die Sonne lag auf dem grünen Gartenfleckchen hinter dem Hause des Bankiers Wienand, welches vom Giebelfenster des Sternsehers Heinrich Ulex zu erblicken war. Der Himmel war blau, trotzdem die große Stadt so viele schwarze Rauchwolken zu ihm emporsandte. – Robert Wolf vergaß den Zauberer Virgil über die Holunderbüsche, die weiße Statue der Hebe und die kleine Gartenbank, und der Sternseher Ulex wunderte sich darüber; wir aber wenden uns jetzt zu dem jungen Mädchen auf der Bank unter den Holundern, neben der Bildsäule.

Die Welt, in welcher Helene Wienand geboren und aufgewachsen war, zu schildern ist kein Vergnügen. Es gibt darin selten große Verbrechen, aber fast ebenso selten große Tugenden. Es gibt darin recht hübsche, bequeme und angenehme Laster und ebenso hübsche, bequeme und angenehme Tugenden. Man liebt und haßt auf eine Art, welche uns allen leider nur zu gut bekannt ist und welche keiner Beschreibung bedarf; – durchschnittlich überwiegen die Tugenden die Laster, durchschnittlich überwiegt die Liebe den Haß, doch das ist nicht sehr hervorzuheben. Jedermann ist von seiner Vortrefflichkeit höchlichst überzeugt und verlangt, daß jedermann dieselbe Überzeugung davon habe. Der Kreis, den man übersieht, ist nicht sehr weit, und was man sieht, erblickt man durch die gefärbten Gläser der Gewohnheit, des angeborenen oder allzu schnell gefaßten Vorurteils. Man hat seine Art, der Welt gegenüber die Lorgnette vor die Augen zu halten, und es ist inkonventionell, von dieser Manier abzulassen – man würde sich allerlei mehr oder weniger spitze und stumpfe Bemerkungen und kleine, ganz winzige tödliche Verfeindungen dadurch zuziehen, – man muß mit den andern leben, und man lebt gleich den andern.

Wir kennen diese Lebenskreise ziemlich genau; wirkliche Originale sind in den Grenzen, bis zu denen dieser Teil der menschlichen Gesellschaft sich ausdehnt, vielleicht am wenigsten zu finden, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil man es hier am wenigsten mit Extremen zu tun hat. Die goldene Mittelstraße hat auch ihre Schattenseiten; es ist nichts vollkommen in dieser Welt. Die aurea mediocritas erträgt auch am wenigsten gern das Vollkommene; denn wie kann sie Freude und Genugtuung darüber empfinden, daß irgend etwas sich über ein anderes zu erheben sucht oder wirklich erhebt? Ist es so angenehm, überragt, überstrahlt zu werden?

In diese Welt, wo man mehr lächelt als lacht, mehr leise haßt als laut zürnt, mehr verleumdet als schmäht und schilt, wurde Helene Wienand hineingeboren, und ihr Leben würde sich wohl wie das der andern Kinder ihres Standes entwickelt haben ohne die Dazwischenkunft der guten Fee, des alten Mütterleins im Märchen, welches wir geschildert haben. Wie gesagt, was für Robert Wolf erst der Pastor Tanne und jetzt Fiebiger und Ulex waren, das war für Helene von frühester Jugend an das Freifräulein Juliane von Poppen.

Leider müssen wir gestehen, daß die Bekanntinnen der jungen Dame nicht viel von ihr, Helenchen Wienand, hielten; sie erklärten sie für ein Gänschen, sie behaupteten, sie sei hochmütig und wisse sich nicht zu kleiden; sie erzählten kleine Geschichtchen von ihr, und manche Schwester konnte nicht begreifen, was der Bruder an dem albernen, blöden Lärvchen finde. Die Herren Brüder aber – die jungen Herren der Gesellschaft überhaupt – fanden doch mancherlei an dem reizenden, so leicht errötenden Gesichtchen, an der zierlichen elfenhaften Gestalt; es gab mehr als einen gutgekleideten und gutgestellten jungen Mann, welcher für das »kleine Mädchen« schwärmte und seufzte; es gab mehr als eine Mama, welche auf die reiche Bankierstochter »ein Auge« hatte und sie für ihren heirats- und geldbedürftigen Sohn für eine gute Partie hielt. Das »kleine Mädchen« selbst hielt sich aber durchaus nicht für eine gute Partie, dazu war es viel zu bescheiden, dazu kannte es viel zu wenig den eigenen Wert und den Wert des Geldes. Das Kind dachte gar schlimm von sich und hielt sich für recht dumm, recht unbeholfen und blöde; es hätte seinen Gespielinnen vollständig recht gegeben in ihren Behauptungen, wenn diese jungen Damen das verlangt hätten. Es liebte seinen Papa vom ganzen Herzen, aber die mütterliche Freundin doch fast noch mehr; der Vater hatte so viele wichtige Dinge, so viele Zahlen im Kopfe. Daß er sein Töchterlein vergötterte, wissen wir, aber daß der harte, gewandte Geschäftsmann ein großes Verständnis für manche Eigenschaften seines Kindes haben sollte, konnte man nicht verlangen. Der Bankier war eigentlich ein sehr eitler Mann; er prahlte zwar nicht laut und im schlechten Geschmack; aber er war doch sehr überzeugt von der Wichtigkeit seiner Stellung, dem Glanz seines Namens und Reichtums. Der Bankier war auch eitel auf seine Tochter. Sie mußte den elegantesten Wagen, die eleganteste Toilette haben; die Leute sollten überall, wo sie erschien, sagen: »Das ist die Tochter des großen Bankiers, das ist Fräulein Helene Wienand, ein reiches Mädchen, ein schönes Mädchen, ein liebenswürdiges Mädchen, dieser alte Wienand ist doch ein glücklicher Kerl, ich wollte, ich besäße sein jährliches Einkommen als Vermögen.«

»Ich würde mir doch nicht so ungeheure Mühe geben, dem Mädchen den Kopf zu verdrehen, Wienand«, sagte das Freifräulein von Poppen, »macht euch nicht lächerlich, ihr Geldaristokraten; wenn ihr euch blamieren wollt, so besorgt ihr das noch besser als wir, die wir auch mehr als billig des Ruhmes mangeln, den wir vor Gott und den Menschen haben sollten. Übrigens ist das Kind ein gutes Kind, und es wird euch nicht gelingen, eine Äffin daraus zu machen.«

Der Bankier brummte ein wenig in die weiße Halsbinde hinein und vertiefte sich von neuem in seine Kursberechnungen, seine Spekulationen mit spanischen und türkischen Anleihen, seine Betrachtungen über Russen-Stieglitz, über das Haus Arnstein und Eskeles, über das Haus Rothschild. Er fügte sich leicht, wenn das kleine lahme Freifräulein die Hand erhob, und befand sich samt seinem Hause wohl dabei. Helene Wienand aber ward ein sehr vornehmes Mädchen, und aus ihren tadelnden Altersgenossinnen sprach mehr der Neid als sonst irgend etwas. So kam der Zeitpunkt, in welchem unsere Erzählung ihren Anfang nahm; das Wagenrad warf Robert Wolf auf das Straßenpflaster, und einen unauslöschlichen Eindruck machte dieser Zufall auf die Seele des jungen Mädchens. Eine geraume Zeit hindurch erwachte sie jede Nacht aus ängstlichen Träumen, in welchen sie durch das bleiche, blutige Gesicht des Jünglings erschreckt wurde. Vergebens waren anfangs alle Beruhigungsversuche des Freifräuleins; die zitternden Nerven des Kindes mußten ihre Zeit zum Ausklingen haben. Juliane von Poppen erzählte die Geschichte Roberts, wie sie dieselbe auf dem Observatorium des Sternsehers erfahren hatte, dadurch trat eine andere Art der Teilnahme an die Stelle der Angst. Diese kurze einfache Geschichte war so rührend, war so traurig; – immer wieder mußte Helene sich ihre Einzelheiten wiederholen. Ihre lebendige Phantasie malte ihr den Wald, die Forsthütte, das Bett mit den fieberkranken Kindern und das sonstige wilde Leben und Sterben daselbst, das stille, friedliche Pastorenhaus von Poppenhagen und die schöne, die böse Eva Dornbluth mit den deutlichsten Farben. Wie ging es doch zu, daß die kleine Helene allmählich anfing, die schöne Eva recht von Herzen zu verabscheuen, trotzdem daß das Freifräulein nicht anstand, die Arme in Schutz zu nehmen und sie für ein wackeres Mädchen zu erklären?!

Auf den schlauesten Umwegen und den verborgensten Seitenpfaden brachte die arglistige Helene das gute Fräulein immer von neuem zu Auslassungen über den Schützling des Polizeischreibers, den Schüler des Sternsehers. Und Juliane von Poppen, für welche der Gegenstand selbst von Interesse war, willfahrtete gern und sprach sich von freien Stücken aus. Nun ertappte sich Helene öfters über dem Gedanken, es sei doch recht gut, daß endlich alles auf diese Weise gekommen, recht gut, daß die wilde Eva mit dem eben so wilden Fritz übers Meer fortgegangen sei. Das junge Ding setzte sich selber heimlich in den verständigsten altklugen Gedankenreihen auseinander, wie Robert und Eva nimmer zueinander gepaßt haben würden, wie niemals etwas Gutes aus ihrer Vereinigung entstanden wäre. Welch ein Unglück hätte schon daraus entstehen können, wenn Eva Dornbluth mit dem Jüngling in derselben Stadt zusammengeblieben wäre!

Nun erzählte Juliane von Poppen, wie fleißig Robert bei dem alten Ulex im Kloster Sankt Nikolaus studiere, und wie der Gelehrte mit dem Kopfe und den Fortschritten seines Schülers so sehr zufrieden sei. Das freute das junge Mädchen unbeschreiblich, und nun kam ihr bald der Gedanke, wie sie selbst noch ein gar so dummes Gänschen sei, wie sie gar nicht Bescheid wisse in der Welt. Daraufhin hatte das gescheite Köpfchen auf dem hübschen Halse wiederum einige schlaflose Nächte, und dann sah Robert von seinem Giebel aus durch des alten Ulex Fernrohr, wie von dem Tisch in der Holunderlaube Stickrahmen, Körbchen mit bunter Seide und Wolle, Spitzenrollen, Bänder und Zeugstücke allerart verschwanden und Bücher, Papier und ein Tintenfaß an ihre Stelle traten. Das war für den Studenten eine liebliche Aufmunterung zum Studium, wenn nur nicht zugleich eine solche Verlockung damit verbunden gewesen wäre, die eigenen Bücher ganz und gar über das Betrachten des fremden Fleißes zu vergessen.

Wenn Robert Wolf das Fräulein von Poppen neben der zarten Lichtgestalt auf der Gartenbank erblickte, so freute er sich jedesmal, daß es solch ein verbindendes Mittelglied zwischen seiner Existenz und der Helene Wienands gab. Und verstohlen sah Helene nach dem fernen Giebelfenster und war dabei in tödlicher Angst, daß das Freifräulein frage: was sie da oben zu sehen habe. Das Kind hätte wahrlich keine Aufklärung darüber geben können, so fest auch das Faktum stand. Es war ein schöner Sommer – blau war der Himmel, die Sonne leuchtete, – was konnte es Besseres geben!

Und wenn das alte Fräulein das junge Mädchen überraschte, wie es selbstverloren durch die Baumzweige in den blauen Himmel sah, so berührte es wohl leise die Schulter des Kindes, um es solcher Selbstvergessenheit zu entreißen, meinte aber doch im geheimen:

›Man sollt's eigentlich nicht tun und so dazwischen fahren, man zerreißt immer einen Blütenkranz, wie ihn der Mensch in spätern Jahren nicht mehr zu winden versteht. Die Träume und Bilder, die man zu solcher Lebenszeit hat, sind doch die schönsten; sie kommen in solcher Pracht später nicht wieder; alle Farben verblassen, auch die Farben der Träume.‹

Die Alte dachte dabei an den Winzelwald und seine grünen Verstecke im Dickicht, unter den Felsen, am plätschernden Bach; sie gedachte des Sonnen- und Mondenscheines ihrer eigenen Jugendzeit; auch die Alte blickte aus dem Garten des Bankiers Wienand nach dem Fenster der Studierstube Heinrich Ulex'; – o wie seltsam Gedanken und Seufzer der Jungen und Alten sich kreuzen in der Welt! Die größesten Wunder gehen in der größesten Stille vor.

»Du magst träumen, Knabe«, sagte der Astronom auf dem Turm; »aber du darfst das Leben nicht ganz wegträumen. Viel mußt du noch lernen, ehe du die große Kunst errungen hast, auch am Tage die Sterne zu schauen, und ehe du ihren Lauf im Blauen und im klaren Schein der Sonne verfolgen kannst. Die Sonne vermag jeder zu begreifen, welcher Gefühl für Wärme und Kälte hat, wie viele aber begreifen die Sterne am Tage?« Der Schreiber fing an, über die Zerstreutheit seines Schützlings allerlei Glossen zu machen. Er sagte: »Sperre die Augen auf, Junge, wer am Tage stolpert, wird am meisten ausgelacht, und das mit Recht. Ich bitte dich inständigst, stellenweise nicht so lächerlich dumm auszusehen. Streife die Ärmel in die Höhe und greif zu mit derben Fäusten; – wer will mit genießen, der muß auch mit schießen und büßen. Kinderstubengedanken, Krankenstubengedanken haben zwar auch dann und wann ihre Berechtigung; aber sie dürfen uns nicht durch das ganze Leben begleiten, wenn es ein ordentliches, wahrhaftiges, männliches Leben sein soll.«

Auf solche Reden antwortete der Jüngling wenig, er bekam einen kleinen Rückfall in seinen Haß des weiblichen Geschlechts, derselbe hielt jedoch so wenig an, daß es nicht der Mühe wert ist, darüber ein Wort zu verlieren. Es war Sommer, und die niedergetretenen Blütenhalme richteten sich wieder auf; und das meiste kommt doch auf die Beleuchtung an! Die Sonne geht auf und beschreitet ihren glänzenden Weg; aber der arme blödsichtige Mensch schließt nur allzuoft die Läden am hellen Tage, um hinter einem Augenschirm bei einem kümmerlichen Nachtlicht, in Bitternis und Qual, ein Feind der Götter, sein Dasein zu verzürnen und zu verseufzen: vox clamans in deserto, eine Stimme in der Wüste, und zwar einer oft selbst geschaffenen Wüste.


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