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Große Gesellschaft bei dem Bankier Wienand. Mr. Warner aus New-Orleans wird dem Freifräulein Juliane von Poppen vorgestellt
Der Wagen, welcher Fräulein Helene Wienand und den Doktor Pfingsten von dannen führte, hielt in einer ruhigen, breiten Straße vor einem großen, stattlichen, ganz modernen Hause, welches sich durch nichts von seinen Nachbarn, welche ebenfalls groß, stattlich und modern waren, auszeichnete. Je weniger charakteristisch ein Gegenstand ist, desto schwerer ist er zu beschreiben; wir beschreiben deshalb das Haus des Bankiers Wienand auch nicht. Hoffentlich wird ein großer Teil der Leser selbst in ähnlichem Backstein-Mauerwerk wohnen und deshalb eine eingehende Beschreibung gähnend überschlagen. Gott segne ihn für den guten Geschmack!
Im untern Teil des Hauses befanden sich die Geschäftszimmer des Bankiers, die Räume der Dienerschaft und so weiter, im ersten Stock die Gesellschaftszimmer und das Reich Helenes. Wir haben es nur mit dem ersten Stock zu tun. Hinter dem Hause befand sich ein reinlich gepflasterter Hof mit dem Wagenschuppen, Pferdestall und so weiter. Ein zierliches eisernes Gitter trennte diesen Hof von einem kleinen Garten, mit welchem wir es im nächsten Frühling ebenfalls zu tun haben werden. Hohe Brandmauern umgaben diesen Hof und Garten von allen Seiten, so daß man glauben konnte, in letzterm vollkommen vor neugierigen Augen gesichert zu sein, was aber nicht der Fall war, wie wir ebenfalls im nächsten Frühling zu beweisen gedenken. Jetzt führen wir den Leser in den glänzend erleuchteten Salon durch ebenso glänzend erleuchtete und ausgestattete Nebenzimmer, in welchen Spieltische aufgestellt sind.
Der Bankier gab eine große Soiree; – werfen wir einen Blick auf die Gesellschaft, aber einen vorsichtigen, daß wir uns nicht kompromittieren. Mehrere Stunden waren verflossen, seit Robert Wolf von dem berichteten Unfall betroffen worden war; die Gesellschaft, welche sich bei dem Bankier Wienand versammelte, war ziemlich vollständig gegenwärtig. Zwei Diener reichten Tee umher; an den Spieltischen hörte man die gewöhnlichen Redensarten; es war ein Überfluß von ältern und jüngern Damen, von weißen Westen, bunten Uniformen, schwarzen Fracks vorhanden.
Ehe wir uns den Einzelheiten hingeben, können wir den Totaleindruck in der Sprache der Zeit, der Börsensprache, charakterisieren. Wir finden, daß die Stimmung der Gesellschaft im allgemeinen eine feste war und daß das Geschäft der Unterhaltung sich auf der soliden Bahn ruhigen Fortschritts bewegte. Komplimente und Schmeicheleien fanden mit den bestehenden Gegenkomplimenten Nehmer und Nehmerinnen. Nach Skandal vielseitige Nachfrage; Stadtklätschereien aber leider loco unverändert, fest – jedoch beliebt. Politik ziemlich schwankend, in Musik und Theater lebhaftes Geschäft, günstige Stimmung für den letzten Roman; wissenschaftliche Fragen und Wahrheit still und flau. Die ältern Damen befanden sich in sehr fester Haltung, die jüngern zur Notiz schwimmend und flott. Die ältern Herren unverändert – Konsumgeschäft. Die jüngern Herren in matter Haltung zur Notiz. Nach zwei Uhr sanken die Kurse der Unterhaltung; die Notierungen aus der letzten Stunde der Gesellschaft sind uns nicht zugegangen.
Wir können uns zu den Einzelheiten wenden.
Mit kindlichem Schauder haben wir in unserer Jugend in Raffs Naturgeschichte gelesen, wie in den Dschungeln, den Schilfwäldern Hinterindiens, der Elefant mit dem Rhinozeros in einen Kampf auf Leben und Tod gerät, wie das letztere Untier das erstere unterläuft, ihm mit seinem Horn den Bauch aufschlitzt und zuletzt, seinen zappelnden Gegner auf der Nase tragend, mit Triumphgeheul davonrennt, zum Ergötzen der frommen geduldigen Hindus und zum Erstaunen der langen leberkranken Engländer und der semmelblonden, langgelockten Rulebritannierinnen. In dem Salon des Bankiers Wienand stand der Elefant neben dem Ofen, wärmte als ein tropisches Tier seine Posteriora und war ein wolleerzeugender Grundbesitzer vom Lande. Das Nashorn aber trug auf der Spitze seiner Nase eine grüne Brille, welche ihm ein höchst lächerliches Aussehen gab, und wurde es Herr Kommissionsrat tituliert. Sobald der Elefant das Nashorn erblickte, ließ er die Frackschöße vom linken Arm fallen, setzte die Teetasse in die Fensterbank, ließ ein dumpfes Schnauben hören und kam seinem Gegner aus dem Ofenwinkel halbwegs entgegen. Das Rhinozeros schnob gleichfalls, und es entstand ein merkwürdiger Kampf über die Preiswürdigkeit einer Wollieferung; aber das Resultat dieses Kampfes war ein ganz anderes, als die Naturgeschichte angibt. Der Elefant besiegte das Nashorn ganz und gar; er vernichtete es vollständig, er trampelte es moralisch zu Boden, und wäre dem armen Hornträger nicht sein Hausfreund, ein besonnener Mann und Freund seiner Gattin, zu Hilfe gekommen, wer weiß, was daraus entstanden wäre. Dieser Hausfreund trug die Uniform eines Husarenrittmeisters, er schien sich vorzüglich und mit Glück auf die Kultur eines ungeheuren Schnurrbarts gelegt zu haben und sprach mit Bewußtsein, über dies haarige Ungetüm hinweg, durch die Nase. Sein Vetter, im Ministerium des Kultus angestellt, befand sich ebenfalls in der Gesellschaft, kultivierte aber hinter seinem Klapphut nichts weiter als sich selber in einem ununterbrochenen Gegähne. Ein Wirklicher Geheimer Rat von wohltuender Fülle der Erscheinung unterhielt sich mit einem unwirklichen, welchen man recht gut als ein Lesezeichen hätte in ein Buch legen können. Es befanden sich überhaupt viele Juristen in dieser Gesellschaft; denn der Bankier hatte viel mit ihnen zu tun. Vollständig beherrschten sie jedoch das Gespräch nicht, obgleich sie es gern gemocht hätten.
Auch ein sehr wohlgekleideter Dichter war zugegen, wurde aber, obgleich er sich durch nichts Außergewöhnliches auszeichnete, von dem anständigen und gottlob größern männlichen Teil der Gesellschaft mit mitleidiger Verachtung vermieden; – omnes hi metuunt versus, odere poetas. Dieser Dichter hatte ein anerkannt vortreffliches Trauerspiel verfaßt, aber einen von der Regierung zur Beförderung der dramatischen Kunst ausgesetzten Preis von tausend Talern deshalb nicht erhalten, weil Shakespeare, Goethe und Schiller Besseres ihrerzeit geleistet hatten. Der Mann hatte an diesem Abend das Vergnügen, über die Billigkeit des Verfahrens und die Versunkenheit der Literatur mancherlei zu hören von einem nichtssagenden Herrn, welcher gestern durch eine Spekulation in Guano das Zwanzigfache des für das Drama ausgesetzten Preises verdient hatte. Harmlos und gelassen lächelnd trug der Poet sein Mißgeschick und diese Unterhaltung; höflich war er bereit, die Verbreitung der künstlichen Dungmittel sowie des Vogelmistes als den schlagendsten Beweis der fortschreitenden menschlichen Intelligenz anzusehen.
Christliches Bankiertum mit jüdischer Legierung und jüdisches Bankiertum mit feudaler Betitelung war in der Wienandschen Gesellschaft, wie sich das von selbst verstand, am stärksten vertreten. Drei bis vier Stockbureaukraten standen ebenso weitbeinig über ihrer engen Welt, wie Julius Cäsar in Shakespeares Trauerspiel über der seinigen. Sie folgten jedoch zugleich äußerst ehrfurchtsvoll den Spuren einer Exzellenz, die sich in der Soiree befand. Obgleich es nur eine außer Kurs gesetzte war, so umgab sie doch ein achtungsvoller Kreis deutscher Männer auf Schritt und Tritt und horchte den seltenen Worten, die ihr entfielen, mit dienstergebener Entzücktheit. Und doch gibt es vielleicht im Volksbewußtsein keinen Titel, der unangenehmer berührt als das abgeschmackte Wort »Exzellenz«! Es klebt ihm etwas Lächerliches und zugleich Unheimliches an. Ich weiß nicht, ist das Theater oder etwas anderes, Kabale und Liebe oder unsere vortreffliche Diplomatie schuld daran? Selbst Wolfgang Goethes hohe Göttergestalt läuft komisch schillernd an, wenn man auf das Piedestal: Exzellenz! schreibt.
Die Jünglinge, welche in den Urwäldern Germaniens den Ur, das Elen und den Römer jagten, trugen nicht einen Frack und nicht den Hut in der Hand; – auch meldet Tacitus nicht, daß sie ein Stück Glas in die Augen kniffen und sich so unbeschreiblich allein mit sich selber eins fühlten wie die Jünglinge im Salon des Bankier Wienand.
Wir wollen uns zu den Damen wenden, und die heilige Zahl der Charitinnen möge uns dabei zur Seite stehen.
Ein hellglänzender Schein geht über das graue Konzeptpapier; mit Naivität gepaarte holde Anmut erscheint neben matronenhafter Würde, Vorblüte und Nachblüte schmiegen sich aneinander; Flittergold sucht echtes, treues, wahres Gold zu überfunkeln, und gelingt ihm das öfter, als man für möglich halten sollte. Alle Übergangsformationen der weiblichen Welt, vom sechzehnten bis zum sechsundsechzigsten Jahre, kommen zur Erscheinung; der Liebhaber von Frühlingssonnenschein und Blütenstaub wie der Antiquitätenliebhaber finden gleichmäßig nach Neigung und Geschmack den Stoff zur Begeisterung. Die ewige Sehnsucht des Menschen nach dem Schönen, wie die ironische Lust am Häßlichen können auf gleiche Weise befriedigt werden.
Aber sollen wir uns hier auch auf Einzelheiten einlassen?
Stille, stille! Das Auge, die Religion und die Frauen lassen nicht mit sich spaßen; das interessanteste Studium ist zugleich das mühsamste und gefährlichste; und weder leidenschaftliche Entzückung und raffaeleske Begeisterung, noch zynisches Grinsen stehen uns dazu genügend zu Gebote. Hüten werden wir uns; was wir sagen, bedecken wir mit Rosen und besprengen es mit Kölnischem Wasser; für die Bemerkungen, welche späterhin andere Herren in diesem Kapitel machen, nehmen wir die Verantwortung nicht auf uns. Laß die Leute selbst sehen, wie sie mit den Damen zurechtkommen!
Nach dem Tee und Spiel wurde bei dem Bankier Wienand gegessen, worauf das junge Volk mit den alten Empfindungen nach hergebrachter Weise tanzte. Wir aber lassen die große Welt brausen und gleiten verstohlen in das Gemach Helenes, wo es am stillsten und wo die Beleuchtung gedämpfter ist; denn die junge Bewohnerin dieses Raumes hatte sich noch immer nicht von ihrem Schrecken erholt, und nur die Kürze der Zeit hatte überhaupt ein Absagen der Gesellschaft verhindert.
Der Bankier Wienand war ein sehr reicher Mann, welcher sein einziges Kind fast abgöttisch liebte. Keinen Wunsch konnte Helene fassen, welchem er nicht auf halbem Wege entgegenkam; mit allem, was ihr Herz verlangte, umgab er sie, und so war auch ihr Zimmer der Gegenstand des gerechten Neides mancher andern jungen Dame in der Stadt. Auf die beliebte Dekorationsmalerei wollen wir uns jedoch auch an dieser günstigen Stelle nicht einlassen; wir beschränken uns darauf, mitzuteilen, daß Teppiche, Bilder, Gerätschaften, Vorhänge usw. in vollster Harmonie miteinander waren, und daß alles wiederum in Harmonie mit dem lieblichen, nur ganz wenig verzogenen Wesen war, welches in diesem duftenden Raume atmete. Die erste Regel des guten Geschmacks: nirgends zu viel, nirgends zu wenig! kam zur vollsten Geltung, in der Zimmerausstattung wie in der jungfräulichen Gestalt Helenes selbst.
Zurückgelehnt in die Kissen eines Diwans in der Nähe der Tür, welche in den Salon führte, saß Fräulein Wienand, noch recht bleich und angegriffen aussehend, umgeben von einigen nähern Freunden. Die Gesellschaft hatte den Unfall vernommen und besprochen; das junge Mädchen hatte dieselben Bedauerungsformeln, Glückwünsche mit den selbstverständlichen Variationen hundertfältig anhören und beantworten müssen; jetzt waren die Kräfte des armen Kindes vollständig zu Ende; es stützte das schmerzende Köpfchen mit der weißen Hand, und der Sanitätsrat Pfingsten hatte auf Bitten des Bankiers mit ärgerlichem Gebrumm seine Karten – es waren sehr gute! – einem andern Herrn gegeben und saß jetzt wieder in einem Lehnstuhl neben der Tochter des Hausherrn. Auf der andern Seite derselben saß im Diwan eine kleine magere Dame, welche einmal den Fuß gebrochen und deshalb einen Krückstock neben sich hatte, in schwarze Seide gekleidet war und auf dem grauen Haar ein winzig kleines Mützchen trug. Sie hatte trotz ihres Alters ein sehr weißes Gesicht, merkwürdig beweglich und ausdrucksvoll; ihre Augen waren schwarz und voll Leben und ausdrucksvoll wie ihre Züge. Diese kleine Dame war das Freifräulein Juliane von Poppen, eine Hausfreundin des Bankiers Wienand und eine Person, welche eine wichtige Rolle in dieser unwichtigen Geschichte spielt. Im folgenden Kapitel werden wir mehr über sie sagen, in dem vorliegenden lauscht sie, höchlichst interessiert, dem Bericht, welchen der Polizeirat Tröster, der jetzt in Frack und weißer Weste sehr nobel aussieht, über Robert Wolf und den Polizeischreiber Fiebiger gibt. Das Freifräulein kannte den Schreiber sehr genau, – kannte mehr Menschen, als sonst die Leute ihres Standes kennen.
Der Polizeirat, welcher ebenfalls vom Spieltisch abgerufen war, erzählte, was die hohe Polizei wußte, so kurz als möglich und mit manchem sehnsuchtsvollen Blick nach der Tür. Mit einem Seufzer der Befriedigung ließ er sich von dem Freifräulein zum Whist zurückschicken.
Juliane von Poppen schüttelte den Kopf gleich allen andern Leuten über die Idee des Schreibers; aber sie schien dabei zugleich innerlich recht zu lachen.
»Bitte, lieber Herr Doktor, erzählen Sie uns noch ein wenig von diesem wunderlichen Schreiber!« bat Helene Wienand, und wenngleich das Freifräulein die Achseln zuckte, so tat sie doch mündlich keinen Einspruch, sondern setzte sich nur bequemer zurecht in den Kissen des Diwans mit einer Miene, welche deutlich sagte:
»Was kann der davon wissen? Nun gut, ich will alles über mich ergehen lassen. Schwatzt zu.«
Der Sanitätsrat rieb in der Ermangelung eines Stockknopfes die Nase mit dem Knöchel des Zeigefingers und sagte:
»Meine Damen, von allen Menschen, die mir auf meinem Lebenswege entgegengetreten sind, beneide ich diesen am meisten!«
»Weshalb?« fragte das Freifräulein.
»Er kennt die Menschen so gut wie ich; aber – er ärgert sich nicht darüber wie ich«, knurrte Pfingsten. Er horchte nach dem Salon und schüttelte die Faust nach derselben Richtung:
»Hören Sie, das war die Stimme des großen Kirchennachtlichts, des Konsistorialrats Krokisius. Sollten sie es für möglich halten, daß dieser treffliche Herr vorhin gegen die Baronin Silberstein behauptete: Goethe habe durch die Weinszene in Auerbachs Keller jedenfalls, unbedingt und unter allen Umständen das Wunder der Hochzeit zu Kana verspotten wollen?!«
»Sie wollten uns von dem alten Fiebiger erzählen, Doktor«, sagte das Freifräulein; aber Pfingsten hielt horchend die Hand an das Ohr:
»Das war das silberne Gelächter – mehr doch Britannia- oder Christoffelgelächter – unserer reizenden Witwe Everilde von Strippelmann. Die Dame ist doch der wahre Pirat und Flibustier des Ballsaals! Wie sie mit aufgespannten Segeln einherstreicht! Wie sie Breitseiten gibt! Fräulein Helene, wenn Sie etwas lernen wollen, so studieren Sie die kecken Handstreiche weiblicher Koketterie an dieser – diesem reizenden Motiv.«
»Kommen Sie auf den alten Fiebiger, Doktor!« rief das Freifräulein, merklich bedeutungsvoll nach ihrem Handstock greifend.
»Ich bitte Sie, Gnädigste, bin ich nicht dabei? Die Gelegenheit ist günstig. Hier sitze ich im Winkel und horche auf das Wortgeplätscher dort hinter der Tür, kann auch, wenn es mir beliebt, einen Blick durch die Ritze in das Gewühl der weitärmeligen Pierrots und Harlekins, der schwarzbemäntelten Pantalons, der grämlichen Anstandsdamen, der allerliebsten flitterhaften Kolumbinen werfen. Ich ärgere mich darüber; Fritze Fiebiger würde sich nicht darüber ärgern. Ich glaube, der Mann kann zu seinem Privatvergnügen den Staub im Sonnenstrahl in ein Universum der Narrheit verwandeln, weil ihm dieser Erdball mit allem, was daran hängt, noch nicht ausgiebig genug ist.«
Das Freifräulein lächelte jetzt und nickte; der Arzt sprach weiter:
»Mir spiegelt sich die Welt am besten in einem Glase Rheinwein, dem andern strahlt sie am vorteilhaftesten aus einem schönen Auge, einem Dritten aus einem klaren Waldquell; Ihr Herr Neffe, Fräulein von Poppen, sieht sie im besten Licht in dem Spiegel, welcher seine liebenswürdige Person in Lebensgröße zurückwirft, weil er nichts damit zu tun haben mag: dieser Schreiber aber legt sich so weit als möglich aus dem Fenster einer Wohnung, in der kein Student hausen möchte, raucht einen Knaster, den kein Schäfer vertragen kann, und lacht – lacht. Ich lache nicht, wenn ich mich aus dem Fenster lege! Wodurch hat sich dieser unverschämte alte Knabe in aller Welt den Göttern so beliebt gemacht? Unsereiner hat doch auch seine Verdienste, muß sich aber allstündlich halb zu Tode ärgern und kriegt höchstens ein Ordenszeichen vierter Klasse zum fünfzigjährigen Jubiläum.«
»Woher kennen Sie diesen Herrn Fiebiger so genau?« fragte das Freifräulein.
»Die Polizei und die Medizin treffen wohl einander«, brummte der Sanitätsrat. «Übrigens haben wir auch die Jahre dreizehn und vierzehn zusammen durchgemacht.«
Juliane von Poppen sagte: »Sie stammen doch wohl aus ganz verschiedenen Lebenssphären?«
»Jene Zeit leimte die Menschen schon zusammen, heute freilich ist der Leim längst wieder aufgeweicht. Ja, wir bewegen uns in unsern verschiedenen Sphären, der Rat im Medizinalkollegium und der Schreiber in der Polizeistube.«
In immer tieferes Nachdenken versank Juliane von Poppen, während Pfingsten der andächtig lauschenden Helene noch allerlei Einzelheiten über den alten Humoristen in der Musikantengasse mitteilte.
»Ihm zunächst auf der Leiter des Glücks«, meinte er, »setze ich den großen Reisenden und Menschenfischer Faber. Der eine in seiner Dachstube hockend und seine Tage in dem denkbar widerlichsten Amte verkritzelnd, der andere, mit dem weitesten Spielraum für seine Beine, durch alle Völker und Länder streifend, sind einander verwandt wie zwei gleichschenkelige Dreiecke, und der Gesichtskreis des einen ist nicht weiter als der des andern; – sie haben beide gute Augen.«
»Und jetzt will er diesen armen jungen Mann, welcher beinahe durch mich getötet worden wäre, bei sich aufnehmen?«
»Tröster sagt's; so sind diese Glücklichen, wenn's ihnen zu wohl wird –.«
»Sie sind ein alter Egoist, Pfingsten«, sagte das kleine Freifräulein trocken. »Lassen Sie diesen Friedrich Fiebiger, Sie kennen doch blutwenig von ihm. Wen haben wir hier?«
»Lupus in fabula, der Hauptmann von Faber mit seinem jungen Yankee – der Papa Wienand«, sagte der Doktor und seufzte im geheimen: »Gottlob, so komme ich endlich doch noch zu meinem L'Hombre. Falsch ist alles, die Menschen und die Karten; ich ziehe aber die letzteren vor.«
Der Bankier Wienand konnte an diesem denkwürdigen Abend, von der Sorge für seine Gesellschaft in Anspruch genommen, immer nur einige Augenblicke in dem Zimmer seiner Tochter weilen. Höchstens durfte er dann und wann den Kopf hineinstecken und sich nach ihrem Befinden erkundigen. Jetzt erschien er – ein wohlbehäbiger Herr mit stahlgrauem Haar, etwas harten Gesichtslinien und einem Zug lächelnden Selbstbewußtseins um den Mund, gleich einem Sonnenstrahl, der um einen eisernen feuerfesten Geldschrank spielt. Er kam Arm in Arm mit Konrad von Faber und einem jungen stattlichen Herrn mit rötlichem Haar und Bart, der mit sicherm Anstand vor den Damen sich verneigte und von dem Hauptmann vorgestellt wurde als:
»Herr Friedrich Warner aus New-Orleans.«
Der Sanitätsrat benutzte die gute Gelegenheit, dem Boudoir Helenes zu entschlüpfen. Während er zu den Spieltischen zurückschlüpfte, murmelte er aber: »Ein prachtvoller Menschentypus, dieser junge Deutsch-Amerikaner. Ich liebe diese breitschultrigen Gesellen mit diesen blonden Löwenmähnen und den vollen Bruststimmen. Man fühlt sich dabei in seiner Rasse noch für einige Zeit gesichert; 's ist ein Trost für einen Arzt heutiger Epoche.« –
Um diese Zeit stand der Polizeischreiber Fiebiger in der Musikantengasse mit untergeschlagenen Armen vor dem Lager seines Schützlings.
»So habe ich nun«, sprach er, »den Griff in das volle Menschenleben getan. Was hab ich gepackt? Eine Handvoll Glück oder Unglück? Wir wollen sehen. Eins ist sicher; als William Shakespeare seine schönen Verse über den Mann, ›der nicht Musik hat in sich selbst‹, dichtete, da verstand er unter Musik jedenfalls nicht solche Nasallaute, wie sie der Junge hier jetzt hervorbringt. Bah, es ist besser, zu schnarchen als zu schluchzen. Soll mich doch wundern, was Ulex dazu sagen wird.«
Der Schreiber nahm die Lampe von dem Stuhl wieder auf und schlich auf den Zehen aus der Kammer. Er zog seinen Oberrock wieder an, setzte den Hut auf, schloß sorglich die Tür seiner Wohnung, versenkte den Schlüssel in seine Hosentasche und verließ das Haus.
Um die Ecke der Musikantengasse biegend, schritt er eine zweite Gasse hinab bis in einen Winkel, wo er vor einer niedrigen schwarzen Pforte stillstand. Diese Pforte führte auf einen umfangreichen Hof voll Gerümpel aller Art; der Schreiber trat hinein, und der schwere Türflügel schlug sogleich hinter ihm zu. Ein Licht flimmerte aus der Höhe, es flimmerte in dem Giebel des Astronomen Heinrich Ulex. Es war derselbe Schein, welchen man auch aus der Kammer sah, in der jetzt Robert Wolf schlief. Tastend fand Friedrich Fiebiger seinen Weg über den Hof, und in einer Ecke desselben stieg er eine Wendeltreppe empor. Sie führte empor zum Gemach des Sternsehers.