Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Dreissigstes Kapitel

Robert Wolf steht an einem Grabe und tritt an ein Sterbebett. Konrad von Faber zeigt, wo und wie man Gold sucht

Die erste Nacht, die Robert Wolf auf kalifornischem Boden zubrachte, verging, ohne daß der Schlaf seine Augen geschlossen hätte. In seinen Mantel gehüllt, lag er in der Hütte des Freundes und horchte den ruhigen Atemzügen Konrad von Fabers und dem fremdartigen Lärm der wunderlichen Stadt draußen, welcher die ganze Nacht nicht zu Ende kam. Gegenüber in einer Teebude krächzte bis späthin eine chinesische Sängergesellschaft ihre mißtönigen Weisen ab. Ein malaiisches Gong sandte von Zeit zu Zeit seine dumpfen dröhnenden Klänge herüber. Einmal entstand Feuerlärm in der Ferne und dann wieder blutiger Streit in einem Spielhause in der Nähe. Betrunkene Menschenhaufen wälzten sich vor der Baracke vorüber, Revolver wurden abgefeuert; Hunde heulten den amerikanischen Mond an, Pferde und Maulesel wieherten, rissen sich im plötzlichen Schrecken los und wurden von den Eigentümern mit wildem Geschrei durch die Gassen der Stadt verfolgt. Nebenan schrie der Säugling, die Mutter Anna erhob sich von ihrem Lager, und in all den Lärm mischte sich jetzt ein deutsches Wiegenlied. Ludwig Tellering richtete auch einmal im Traum sich von seinem Lager neben Robert empor und rief mit ängstlicher Stimme den Namen seiner Frau. Dazu die eigenen Gedanken und Schmerzen – das Grab des Bruders, die kranke verlassene Eva in den Bergen – es war eine böse, wirre Nacht, und mit Sehnsucht erwartete Robert den neuen Tag. Er kam, und als er kam, fielen, wie es zu geschehen pflegt, dem, welcher die ganze Nacht hindurch gewacht hatte, die Augen im ungesunden Schlummer zu. Und nun konnte selbst dieser Schlummer nicht lange dauern.

»Stand up, man, stand!
Free heart, free tongue, free hand.
Firm foot upon the sand!«

sang der Hauptmann Konrad von Faber, indem er den Schläfer an der Schulter schüttelte: »Auf, auf, Wolf, 's ist Zeit zu marschieren; in einer Viertelstunde müssen wir auf dem Wege nach den Bergen sein.«

Robert sprang auf die Füße. Alles war bereits in Bewegung in der Bretterhütte. Heißer Kaffee aus Blechschalen – ein herzlicher Gruß, welchen die Frau Marie aus ihrer Kammer schickte – ein kurzer bewegter Abschied von Ludwig und seiner Mutter: und auf dem Wege zu Eva Wolf schritt Robert mit Konrad von Faber.

Noch hingen milchweiße Nebel über dem Sacramento; als sie sich lichteten, lagen die kahlen Höhen des Meeresufers hinter den beiden Wanderern, und der dichte Wald nahm sie auf in seinen Schatten. Eichen und Riesenfichten bedeckten die Berghänge, und die Sonne brach strahlend darüber hervor und warf ihren echten Goldglanz über Hügel und Tal und auf den Spiegel des Stillen Ozeans, der blitzend zwischen den Stämmen durchschimmerte. Noch einen letzten Blick auf das weite Meer, dann tiefste Dämmerung des Urwaldes! Ein Glöckchen erklang vor den Wanderern, sie überholten einen Trupp schwerbepackter Maulesel mit ihren mexikanischen Führern. Die bunten Serapen flatterten lustig im Morgenwind, die gebräunten Gestalten nahmen die Cigaritos aus dem Munde und nickten:

»Buenos dias, Sennores!«

Robert und der Hauptmann erwiderten den höflichen Gruß; aber letzterer brummte:

»Falsches, feiges Pack! Hütet Euch vor diesen Burschen, Wolf.«

Wieder Stimmen; – welch eine seltsame Sprache redeten die Leute im Dickicht! Chinesen waren es; mit Schaufeln und Spaten, mit Hacken, Pfannen und Körben zogen sie zu den Minen.

»Die Langzöpfe haben ein ganz verzweifeltes Glück«, sagte der Hauptmann. »Sie scheinen das Gold unter der Erde zu wittern, wie das Schwein die Trüffeln. Aber kommt, Sir, wir wollen dort jenen Vorsprung erklettern; es lohnt die Mühe.«

Sie stiegen durch das nasse Gras; und über den Wald hatten sie den ersten vollen Blick auf die Sierra Nevada. Drunten zogen Mexikaner und Chinesen weiter, und gell klang durch den Wald der ermunternde Ruf der Maultiertreiber:

»Hippah, mulah! hippah, mulah!«

Keuchend arbeiteten die Tiere, und Konrad von Faber erklärte:

»Sie schleppen eine Dampfmaschine für eine Gesellschaft Amerikaner droben am Federfluß. Die Kerle haben sich in den Kopf gesetzt, einen ganz anständigen Nebenarm des Wassers abzuleiten, und es wird ihnen mit ihrem never give up gelingen. Vorwärts, Wolf!«

An einer andern Stelle des Waldes trat ein schmutziger Indianer aus dem Gebüsch, fuhr beim Anblick der zwei Fremden erschreckt zusammen und schlich scheu in den Wald zurück, in welchem er, der Besitzer, nur noch ein kaum geduldeter Rechtloser war.

Als der Tag sich neigte und die Nacht schnell den Wald füllte, setzten sich Faber und Robert an einem Feuer nieder, welches Landsleute, die sich ebenfalls auf dem Wege zu den Minen befanden, angezündet hatten. Diesmal schlief der junge Mediziner tief und fest, sei es aus übergroßer Ermüdung, sei es, weil die Wildnis ihren Einfluß auf das Kind des Winzelwaldes, den Sohn des Forstwarts vom Eulenbruch, ausübte.

In den Sacramento ergießen sich vier größere Flüsse, der Featherriver, der Bearcreek, die Amerikan-Fork und der Yuba. In diese Flüsse stürzen sich aus wilden Schluchten, Cannons genannt, Hunderte von größern oder kleinern Bergwassern, die jedoch im Sommer meistenteils versiegen und deren Betten und abschüssige Uferränder den Tummelplatz der Goldsucher bilden. Nach einem solchen Tal, aus welchem sich ein munterer Waldbach dem Yuba zudrängte, ging der Weg Fabers und Roberts, und sie vollendeten diesen Weg, ohne irgendwelche nennenswerte Fährlichkeiten zu bestehen zu haben. Allerlei Volk zog mit ihnen desselben Pfades oder kam ihnen aus den Bergen entgegen und bot die Gelegenheit, den Ausdruck menschlicher Hoffnung und Enttäuschung in allen Phasen zu studieren, im vollsten Maße. Der Hauptmann ließ es auch nicht daran fehlen, seinen Begleiter auf alle charakteristischen Vorgänge, Gestalten und Gesichter aufmerksam zu machen; aber Robert war nicht mehr fähig, mit der gehörigen Aufmerksamkeit den Glossen und Bemerkungen des berühmten Reisenden zu folgen. Je näher er dem Ende seiner langen Wanderung kam, desto heftiger und unwiderstehlicher verdrängte das Bild der sterbenden Eva alles andere. Er zitterte an allen Gliedern, als endlich der Hauptmann von der Ecke eines langgestreckten Bergrückens in ein Tal und auf das Dach einer Blockhütte deutete, die abseits von einer Gruppe ähnlicher Gebäude an die gegenüberliegende Bergwand sich lehnte. Es regnete leise, als die beiden Männer auf dieser Höhe standen und in das verschleierte Tal stumm hinabblickten. Aus der Tiefe schallte das Jauchzen der Goldsucher, welche lange vergeblich auf diesen Regen, der ihr mühseliges Werk nicht wenig erleichterte, gewartet hatten. Sie sangen auch in ihrer Freude, den Yankeedoodle, die Marseillaise und das Lied vom deutschen Vaterlande, und das Echo tat das seinige, die wilde Harmonie oder vielmehr Disharmonie zu stärken.

»Das ist der Hawk-Gulch«, sagte Konrad von Faber. »In jener Hütte drüben liegt Eures Bruders Frau, zwischen jenen drei Riesenfichten, rechts von dem Blockhaus, liegt Euer Bruder. Vorwärts, Herr, nehmt Euch zusammen!«

Der Regen wurde stärker, sie stiegen nieder durch den rauschenden Wald, überschritten den Bach, und ein kurzes Steigen an der Berglehne brachte sie zu den drei himmelhohen Fichten, unter welchen der Grabhügel Friedrich Wolfs aufgeworfen war, fünfzig Schritt ungefähr von dem Blockhaus entfernt.

»Hier, hier!« murmelte Robert Wolf. »Hier, hier – das ist das Ende!«

Er griff in das regennasse Gras, welches bereits aus dem Hügel emporgeschossen war. Er fühlte in diesem Augenblick eigentlich nicht Schmerz; ein Lächeln flog über seine Züge, aber es war ein schreckliches Lächeln; die kahle, fürchterliche Gleichgültigkeit, welche aus dem Verlust alles dessen, was uns eigenst gehörte, hervorgeht, preßte ihm mit eiskalter Faust das Herz zusammen.

Gegen das Grab, wo der Bruder, der stolzeste, mutigste Ringer des Glücks, verlassen von seinen Sternen, den letzten Schlaf schlief, neigte er sich: dann wollte er auf die Blockhütte zueilen, aber Konrad von Faber faßte seinen Arm und hielt ihn zurück:

»Wartet hier noch. So dürft Ihr nicht zu ihr; ich will sie erst vorbereiten auf Eure Ankunft. Euer zu plötzliches Erscheinen könnte ihr den Tod geben.«

Er ging, und neben dem Grabe unter den Riesenfichten wartete Robert.

Es war jetzt Nacht auf der andern Hälfte des Erdballs, und auf dem Observatorium des Sternsehers Heinrich saßen die Alten aus dem Walde, welche für sich selbst das Leben überwunden hatten, deren Hoffnungen und Sorgen sich nicht mehr auf das eigene Dasein richteten. Der Kinder des Winzelwaldes gedachten die Alten, für die fürchteten und hofften sie. Und auch die Kinder aus dem Walde hatten sich wieder zusammengefunden; aber es war ihnen nicht so gut geworden wie den drei Alten: ein Grab, ein Krankenlager und ein von tausendfachem Weh zerrissenes Herz – das war's, was die drei Kinder aus dem Winzelwalde im wilden Wald der Welt gefunden hatten.

Der Regen rauschte immer heftiger hernieder; sein Haupt barg der gigantische Baum, an dessen Stamm Robert lehnte, in den Wolken. Der Gesang der Goldgräber im Tal verstummte, in den Wäldern gegenüber krachte ein Büchsenschuß und weckte hallend das Echo. Begriff von Zeit hatte Robert jetzt nicht; ob sich der Hauptmann von Faber seit einem Augenblick in jener Hütte befand oder ob Stunden vergangen waren, seit sich die Tür hinter dem Reisenden schloß, – der Bruder am Grabe des Bruders wußte es nicht.

Durch den Raum zwischen der Fichte und der Blockhütte, welche die kranke Frau des Bruders barg, drängte sich ein verworrenes Gewühl von Figuren und Szenen aus allen Epochen seines jungen Lebens, und das Trivialste verschlang sich immer unauflöslich mit dem Ergreifendsten. Das Dorf Poppenhagen, die große deutsche Stadt, die Universität, – der Eulenbruch, des Pastors Tanne Studierstübchen, das Polizeibureau mit dem Hauptmann auf der Armensünderbank, die Wohnung Fiebigers, der Giebel des Sternsehers – alle sandten Gestalten, Klänge, wahnsinnig ineinander verschlungen, über das Meer, und mit halbirrem Lachen sah Robert Wolf, während sein Herz in tödlicher Qual fast zerbrechen wollte, den Schauspieler Julius Schminkert Toilette machen und mußte sich fragen, wie es möglich sei, daß man solche Körperverrenkungen dabei zustande bringen könne.

Die Qual dieser Minuten war unerträglich; was half es, daß der Leidende alle Seelenkräfte zusammenraffte; machtlos war der eine Geist vor der Masse der Geister, welche aus dem Boden emporstiegen zwischen dem Krankenlager Eva Dornbluths und dem Grabe Friedrich Wolfs.

Nun aber öffnete sich die Tür der Blockhütte; ein junges Chinesenweib erschien auf der Schwelle und starrte nach der Fichtengruppe hinüber, Robert bemerkte jeden Zug ihrer wunderlich zusammengedrückten Physiognomie, jede Einzelheit ihres Anzuges von den Schuhen bis zu dem Pfeil im glänzend schwarzen zusammengedrehten und zurückgekämmten Haar; und doch wurde die Unerträglichkeit dieses Wartens immer fürchterlicher. Die Tochter des himmlischen Reiches zog sich wieder zurück, wie es schien, von innen gerufen, und statt ihrer trat endlich, endlich Konrad von Faber auf die Schwelle und winkte.

Vorüber war der Kampf, unter welchem Robert Wolf gelitten hatte, zerstoben war der Geistertanz; mit einem Sprunge war der Sohn des Winzelwaldes an der Seite des Reisenden – er stand in dem verdunkelten, engen, heißen Raum der Blockhütte, und von einem niedrigen Lager richtete sich bleich, hager, mit fieberglühenden Augen Eva Wolf aus Poppenhagen auf und breitete mit einem klagenden Ruf die Arme aus. So kamen Robert und Eva seit dem Tage, an welchem der Polizeileutnant Kirre sie in dem Hause des Kunstfreundes und Regenschirmfabrikanten Schwebemeier in der Lilienstraße trennte und den Baron von Poppen aus der Gefahr der Erdrosselung errettete, zum erstenmal wieder zusammen. So kurze Zeit und so großer Wechsel – neben dem Krankenbett Evas kniete Robert, und die Frau des Bruders schlang ihre Arme um seinen Hals und vermischte ihr Schluchzen mit allerlei abgebrochenen Liebkosungen und Ausrufen.

Ein stummer, tiefbewegter Mann stand der Reisende Konrad von Faber, der so viel gesehen hatte von der Welt und in der Welt, neben den beiden, und die chinesische Frau starrte verwundert an seiner Seite auf ihre Herrin und den fremden jungen Mann.

Nicht mehr die schöne, wohl aber noch die stolze, tapfere Eva hielt Robert umfangen. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr seiner Umarmung zu entziehen. Fest hielt sie ihn an ihr Herz gedrückt und küßte ihm Mund und Stirn.

»Da bist du, da bist du!« rief sie. »So – hier müssen wir uns wiederfinden. Du guter, lieber Bruder, wie danke ich dir, daß du gekommen bist! Ich fühle mich jetzt viel wohler, viel besser als damals, in jenen bösen Stunden, da ich dich rief. O, solch einen weiten Weg bist du meinetwegen gekommen! Vielleicht hat dich mein Schrei um Hilfe aus dem Schoß des Glücks emporgerissen und fortgetrieben. Bruder, lieber Bruder, ich hätte dich nicht gerufen, wenn mein armer Kopf damals so klar gewesen wäre, wie er jetzt ist. Aber sieh – ich – werde dich nicht lange auf dem Wege aufhalten; Segen über dich; bald sollst du wieder gehen dürfen!«

»Dein Ruf hat mich in keinem Glück gestört. Vielleicht hätte ich mich, auch ohne daß du nach mir verlangtest, zu dir geflüchtet. Vielleicht bedarf ich deiner mehr, als du mich nötig hast, du Liebe, Starke. Wir haben uns soviel mitzuteilen; von deinem Lager weiche ich nicht, bis du ganz genesen bist, und dann – dann gehen wir über das Meer zurück und suchen die Heimat wieder auf, die rechte wahre Heimat, den Winzelwald und das stillste, vergessenste Tal darin.«

Die Kranke schüttelte den Kopf:

»Und Friedrich? . . . Nein, Bruder, meine Heimat, meine wahre Heimat ist hier auf dieser fremden Scholle, ist hier neben dem Grabe unter jener Fichte.«

Sie blickte durch das schmale Fenster neben ihrem Lager nach der Baumgruppe, unter welcher vorhin Robert Wolf stand.

»Ich sah dich stehen, Bruder«, fuhr Eva fort, »dort an Friedrichs Seite. Du warst ihm so ähnlich. Nun bist du hier, ich halte deine liebe Hand; dort draußen steht noch der Tote und winkt. Sie haben seinen Leib begraben unter den hohen Bäumen; aber seine Seele konnten sie nicht begraben. Seine Seele irrt um jenen Fleck und wartet auf mich, bis ich komme. Und ich komme bald, ich weiß es; der Tote hat keine Ruhe, und ich auch nicht. Wir gehören nun einmal zueinander – dort, dort, neben den Fichten, Robert, lege meinen Leib hin, daß meine Seele mit der deines Bruders fortgehen kann aus diesem traurigen Tal, wo man so arg friert und doch von giftigen Flammen verzehrt wird.«

»Schwester! Schwester!«

Die Kranke schwieg einige Minuten; dann fuhr sie mit der Hand über die Stirn, dann legte sie dieselbe Hand auf Roberts Schulter und lächelte trübe:

»Erschrick nicht, armer Bruder, wenn ich manchmal etwas toll durcheinander spreche; ich bin nicht allein in meinem Gehirn, das Fieber sitzt mit darin, und das ist ein böser, eigenwilliger Gast. Sieh, Robert, ich sterbe doch als ein glückliches Weib; denn ich habe Fritz zu einem glücklichen Mann gemacht, so lange er lebte. Und in seinem brechenden Auge habe ich noch seine Liebe gelesen, und die war so stark, daß dieser letzte Blick mich ihm nachzieht – hinaus über jenen Hügel unter den Fichten. Laß meine Hand los, Robert Wolf, soll ich deines Bruders Leib hier in der Wildnis unter den fremden, wüsten Gesichtern allein lassen? Laß meine Hand, Robert! Sei ruhig, Fritz, ich komme schon – ich bin da; Samana ist schon gesattelt. Zieh den Gurt fester an, Scipio, daß es nicht wieder geht wie vor Santa Fe, wo der Herr durch deine Schuld so sehr über mich lachte. Wie die Prärie im grünen Glanz wogt! Ready, Fred – vorwärts, meine Herren! Komm, Fritz, du mußt neben mir reiten – Galopp! Ah wie schön, so wild in die untergehende Sonne hineinzujagen!«

Immer tiefer verlor sich die Kranke jetzt in ihre Phantasien. Sie glaubte, an der Seite des geliebten Mannes über die großen Wiesen gegen die Felsengebirge zu galoppieren, indianische Krieger, kühne Jäger aus allen Nationen neben sich, vor sich, hinter sich. Manchen unbekannten Namen rief sie; die Genossen der vergangenen Tage waren lebendig um sie. Sie lachte und strich die Haare aus der Stirn; auch den Namen Marie Heil rief sie zärtlich; ihre Phantasien quälten sie nicht, sie waren nicht schreckhafter Art, sondern glänzend, lebhaft, angenehm.

Konrad von Faber faßte die Hand Roberts und zog ihn ein wenig vom Lager Evas fort.

»Kommt jetzt«, sagte er, »wir wollen aus der Hütte gehen; Loatoa ist eine gute, treue Wärterin und wird der Kranken in diesem Augenblick von größerm Nutzen sein als wir beide. Selbst in ihren Träumen ist sie noch die prächtige Eva Wolf, die Waldfürstin, die Königin der Prärien. So sind ihre Phantasien immer; entweder befindet sie sich inmitten der Szenen ihrer Jugend, oder sie leidet, kämpft, jubelt und triumphiert mit dem tollen Fritz. Das Elend hat keine Macht über sie; es ist herzzerreißend, aber es ist prachtvoll. Kommt, Herr; der Anfall wird vorübergehen – morgen früh werdet ihr ruhiger miteinander reden können.«

Die beiden Männer traten aus der Hütte. Der Regen war vorüber; von allem Gestein, aus allen Schluchten, von Busch und Baum rieselte, rauschte und tropfte es. Verstummt war der Gesang der Goldgräber. Jeder war zu emsig mit seiner Arbeit beschäftigt, und die Arbeit war zu schwer, als daß man dabei hätte singen können. Nieder zur Talsohle stiegen Faber und Robert und sahen von einem Felsenstück aus dem merkwürdigen Treiben zu. Der Gegensatz zwischen der fieberhaften Aufregung, der keuchenden Hast, dem gierigen Wühlen in Schmutz und Schlamm hier und dem Aufgeben jeder irdischen Hoffnung durch das kranke Weib droben in der Hütte, war überwältigend. Nimmer wurde die harte Wahrheit von der Nichtigkeit und Eitelkeit der menschlichen Dinge, an welche so wenig Leute glauben wollen, so eindringlich gepredigt wie hier im Stromgebiet des Sacramento. Wahrhaft erschütternd wirkte der Kontrast auf den Verlobten Helene Wienands; o wie hohl fühlte er diesen golddurchzogenen Boden unter seinen Füßen! Keine Macht der Welt hätte ihn in diesem Augenblick bewogen, ebenfalls zum Bett des Flüßchens niederzusteigen und einzutreten in die Reihen der Goldgräber.

Konrad von Faber las klar in den Gesichtszügen des jungen Mannes.

»Ihr habt recht«, sagte er, »man läßt am besten die Finger davon, wenn man es irgend vermeiden kann, 's ist ein Hasardspiel wie zu Baden-Baden oder Wiesbaden, und Hasardspiele sind überall und immer gefährlich. Dort, wo die Eiche niedergebrochen ist vom Sturme, habe ich der kalifornischen Fortuna mein Kompliment gemacht, und, by Gad, die Dame war gnädig genug und warf mir an einem Tage mehr vom Nerv der Dinge in den Hut als andern, die dankbarer dafür gewesen wären, in Monaten. Mit Bowiemesser und Büchse habe ich aber den Claim, das heißt das Loch, in welchem mir der Dreck bis an den Hals ging, verteidigen müssen, und nach Haus werde ich von den Schätzen nichts bringen, als für ein Paar neugierige junge Frauenzimmer im Osten drüben einige Schächtelchen mit blinkendem Staub, soviel als man zwischen Daumen- und Zeigefinger halten kann – nicht genug zu einem Trauring für die naseweisen jungen Persönchen. Nun kommt, ich will Euch zeigen, wo Ihr für die nächste Zeit hausen werdet.«

Robert Wolf folgte dem Hauptmann abermals die Berglehne hinauf, und Faber brachte ihn zu einer Hütte, die ungefähr hundert Schritt von der Evas gebaut war.

»Mein Haus und meine Burg! Tretet ein und seid willkommen. Ich weiß, die Leute vom Eulenbruch sind nicht verwöhnt. Nehmt vorlieb mit dem, was ich Euch in der Wildnis bieten kann.«

Ein roher Tisch, einige leere Kisten, ein Lager aus Fellen und wollene Decken bildeten die Ausstattung, den Hauptschmuck ein an der Wand ausgespannter riesenhafter Pelz des eigentlichen amerikanischen Waldherrn, des grauen Bären.

»Der Mensch kann geistig wie körperlich mit ungemein Wenigem auskommen, Herr«, sagte der Hauptmann. »Geistiger und körperlicher Überfluß kann zwar etwas sehr Angenehmes sein; aber das Glück wird dadurch nicht bedingt. Daß der Millionär oft seinen Schuhputzer zu beneiden hat, ist eine alte Geschichte; vielleicht findet aber auch öfter, als man für möglich hält, ein ähnliches Verhältnis des Neides zwischen dem erleuchtetsten Philosophen, dem sublimsten Poeten und dem Schuhputzer statt. Nochmals willkommen im Hawk-Gulch und unter dem Dache Konrad Fabers. Hier ist das Mehlfaß, hier der Whiskykrug, Knaster und Zigarren, hier eine Kiste mit Crackers, Schiffszwieback, an welchem Ihr Euch aber die Zähne nicht ausbeißen dürft. Da ist auch ein Bündel getrocknetes Fleisch und hier das Tintenfaß, ein Dutzend Federn von einer wilden Gans und einige Buch Papier. Frisches Fleisch holen wir aus den Bergen und Wäldern. Hier ist noch ein Haufen trockenes Holz, hier das Feuerzeug, nun seid so gut und zündet Feuer an, ich will derweilen die Pfanne reinigen; – gebt acht, es ist unter Umständen sehr nützlich, zu wissen, wie man einen flap-jack, einen amerikanischen Pfannkuchen, bäckt.«

Hals über Kopf stürzte der Wirt den Gastfreund in die Sorgen der Haushaltung; er tat es mit Absicht, um ihn zu verhindern, sich zu sehr seinen trüben Gedanken hinzugeben. Auch sich selbst schien er durch Lärmmachen in eine bessere Stimmung setzen zu wollen. Er sang ein tolles amerikanisches Tanzlied:

»Here we go up, up, up,
Here we go down, down, down,
Here we go backwards and forwards
And here we go round, round, round.«

Dann unterbrach er sich und fragte:

»Was spluttert und knackt das Holz im Feuer? Spuck hinein, Bob; die alten Weiber zu Hause meinen, es gäbe noch Zank in der Wirtschaft, wenn das nicht geschehe.«

Nun gab er es wieder auf, heiter und ruhig zu scheinen, warf den Sombrero zur Seite und wischte den Schweiß von der Stirn; er legte die Hand dem jungen Gastfreund auf die Schulter:

»Es hilft nichts; zum Teufel mit der lustigen Fratze! Ja, mein Sohn, du hast recht, es ist ein traurig Ding. Ich will's nur gestehen; wenn ich in der letzten Zeit manchmal, wenn Loatoa draußen wirtschaftete, allein bei ihr saß am Bett, so sind mir die dicken Tränen in den Bart gelaufen. Mein armer Junge, es ist ein Jammer, daß das Herrlichste, was es in der Welt gibt, so zugrunde gehen muß. Der Tod en masse bedeutet gar nichts; aber das einzelne Sterben dieses Weibes ist scheußlich.«

Robert Wolf starrte in das Feuer, welches er angezündet hatte, und antwortete nicht. Die beiden Männer gingen dann noch einmal hinüber zur Hütte Evas; aber die Kranke schlief, – die Chinesin saß regungslos am Bett; – die Männer konnten nicht das mindeste für das Weib Friedrich Wolfs tun.


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