Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Der Baron Leon von Poppen steigt wieder herunter vom Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex

Der Bankier Wienand hatte das Haus in der Kronenstraße, in welchem ihm einst seine Freunde eine Wohnung mieteten, angekauft, da das Gebäude, welches er auf der Brandstätte in imposanter Pracht errichtete, immer noch nicht bewohnbar war. Es war ihm widerlich, mit andern, Gleichberechtigten unter einem Dache zu hausen; überall wollte er den Fuß auf eigenen festen Grund und Boden setzen; die krankhafte Scheu vor allem, was er »unsolide« nannte, sprach sich auch hierin aus.

Ein magisches Glück begünstigte alle seine Unternehmungen; rastlos arbeitete er Tag und Nacht. Wo eine Eisenbahn gebaut wurde, erschien das Haus Wienand an der Spitze der Aktionäre; das Feuer auf manchem Fabrikherde wurde durch Mithilfe des Hauses Wienand unterhalten; auf der Börse gab es keinen geachtetern Namen als den des Hauses Wienand. Das Fieber des Ehrgeizes, die Gier des Erwerbs trieben den Mann mit rasender Hast vorwärts, und laut klatschte die Stadt Beifall; der Bankier Wienand imponierte der Stadt ungemein.

Wo aber war die markige Gestalt, die einst so fest auf den Füßen stand? Wo war der helle, joviale und doch so scharfe Glanz der Augen? Der berühmte Bankier bediente sich eines Krückstocks wie das Freifräulein Juliane von Poppen, und wenn er ohne Stab gehen mußte, so lehnte er sich gern auf einen fremden Arm – am liebsten auf den Leons von Poppen, wie wir leider wissen. Die Augen glänzten zwar noch, aber es war nicht mehr der frühere ruhige, klare Schein in ihnen; halb scheue, halb gierig suchende Blicke schossen sie. Es war der glasige Schimmer, den ihnen die Krankheit gegeben hatte, nur zum Teil gewichen. Einst – in jener verhängnisvollen Nacht, in welcher im Semmelrothschen Geschäft der Funke in der Asche vergessen worden war, hatte der Bankier Wienand die starke männliche Faust selbstbewußt, triumphierend auf sein Hauptbuch gelegt; wo war jetzt diese starke, sehnige Hand? Magere, zitterige Finger wendeten die Blätter in dem neuen Buche und reihten Zahlen aneinander.

Über das große Buch gebeugt, saß der reiche Mann und horchte zwischen seinem Rechnen auf den Schritt Leons, der allabendlich um diese Zeit auf der Treppe erklang. Helene hatte mit dem Freifräulein vor kurzer Zeit das Haus verlassen, dem Bankier war die Stille, die in demselben herrschte, unangenehm; er wartete mit Verlangen auf den Baron, während dieser auf eigene Hand das Wohl des Hauses Wienand in Obacht nahm.

Wenn auch Eifersucht grade nicht im hohen Grade zu den fehlerhaften Seelenneigungen des jungen Diplomaten gehörte, so kannte er doch seinen Vorteil viel zu gut, um nicht einiges Mißbehagen, einige Sorge beim Anblick Robert Wolfs zu empfinden. Er wußte ganz genau, daß jedesmal, wenn der »alberne Bursche aus dem Walde« während seiner Studienzeit in der Stadt anwesend war, eine Zusammenkunft zwischen demselben und Helene stattfand; er hatte nur darüber gelächelt und sogar den Bankier gehindert, etwas dagegen zu sagen oder zu tun.

»Es ist Kinderei«, hatte er gemeint, »regen wir uns und die Damen nicht unnötigerweise auf. Im gegebenen Augenblick können wir alles ganz behutsam und ohne Lärm arrangieren.«

Jetzt aber, wo seine Verlobung mit der Tochter des Bankiers, wie er meinte, so nahe bevorstand, glaubte er Grund zu haben, »die Geschichte zum Abschluß zu bringen«, und so eilte er denn, nachdem er vorhin den Nebenbuhler mild, höflich, überlegen und lächelnd gegrüßt hatte, so eilig wie möglich der Kronenstraße zu, und wir betreten mit ihm abermals das Haus der Baronin Viktorine de Poppen.

Noch immer grinste oder glotzte einem beim Eintritt Baptiste, der bunte Lakai, entgegen, noch immer trippelte Elise kokett treppauf und ab oder durch die Gemächer. Zwei weitere Jahresringe hatte die Baronin angesetzt; immer weichmütiger, immer schläfriger war sie geworden, und winselnd beklagte sie die vollständige Entfremdung der beiden Freundinnen Artemisia und Lydda von Flöte. Immer rücksichtsloser wurde sie von dem »bösen Kinde«, dem eigenwilligen Leon, behandelt, und den Plänen desselben in Hinsicht auf seine Verbindung mit dem Hause Wienand konnte sie nur den allerpassivsten Widerstand entgegensetzen. Dieser Widerstand beschränkte sich darauf, daß sie von ihrem Diwan aus mit sehr kläglicher Stimme Klagelieder sang, die sehr einschläfernd auf den vortrefflichen Ministerialsekretär wirkten.

Leon erreichte das Haus seiner Väter; Baptiste trat ihm mit dem Lichte entgegen, leuchtete ihm zu seinen Gemächern voran und wurde sanft gebeten, für einige Augenblicke in dieselben mit einzutreten.

»Lege ein Schloß vor deinen Mund, knöpfe Ohren und Augen auf, Mensch«, sagte der Baron. »Ich habe einen Taler und einen Auftrag für dich, im Notfall aber auch eine Tracht Prügel. Zeige dich als ein vernunftbegabtes Wesen, welches verdient, einen so guten Herrn, wie ich bin, zu haben.«

Baptiste verbeugte sich bei jedem Redepunkte, und der Baron fuhr fort:

»Mache dich so dünn wie möglich, Esel. Hinunter mit dir in die Gasse; gib acht auf die Tür drüben – du weißt. Ich werde am Fenster warten. Sobald ma tante, das Freifräulein von Poppen, an deinem Horizont aufgeht, das heißt an der nächsten Ecke erscheint, benachrichtigst du mich durch den bekannten Pfiff. Wenn sie drüben eintritt, achtest du darauf, ob sie mit dem gnädigen Fräulein von drüben ausgeht. Geschieht das, so folgst du den Damen so unbemerkt wie möglich; du bringst mir Nachricht, wohin sie gehen – ventre à terre. Allez!«

Baptiste verdiente es, einem so guten Herrn zu dienen; er pfiff nach einer halben Stunde und kam nach einer andern halben Stunde mit der Botschaft heim: die gnädige Tante habe sich mit dem gnädigen Fräulein im Niklaskloster verloren. Leon von Poppen zog den Überrock und die Handschuhe an, setzte den Hut auf und ging zum Bankier Wienand, indem er brummte:

»Wirklich, die Geschichte mit diesem jungen Waldteufel tritt aus dem Stadium der Lächerlichkeit in das der Langweiligkeit. Machen wir ein Ende.«

Er hatte eine kurze, aber lebendige Unterhaltung mit dem Bankier, und zehn Minuten später fuhren die beiden Herren ebenfalls dem Nikolauskloster zu. Auf dem Hofe des alten Gebäudes griffen sie ein altes Weib mit einer Laterne auf und gelangten unter ihrer Führung zur Tür des Sternsehers.

Heinrich Ulex öffnete ihnen, und sie fanden sich inmitten der kleinen Versammlung.

Wild suchend blickte der Bankier umher; doch ungemein verbindlich grüßte Leon und schien sich im geheimen sehr an der peinlichen Erstarrung, die sich auf den Gesichtern der überraschten Freunde malte, zu ergötzen.

»Bitte die Herrschaften tausendmal um Entschuldigung, wenn wir stören!« lächelte er und machte sogar Miene, der Tante die Hand zu küssen; aber er erhielt für diesen Versuch eine so gut angebrachte Ohrfeige, daß das Lächeln von seinen Lippen ganz verschwand und peinliche Erstarrung auch seinen Zügen sich mitteilte.

Auf seine Tochter ging der Bankier zu und faßte heftig ihren Arm:

»Was geht hier vor? Weshalb bist du hier? Bist du toll geworden, daß du dich in solcher Weise von mir suchen lässest? Komm fort – auf der Stelle!«

»O mein Vater!« schluchzte Helene; aber der Bankier unterbrach sie und sagte mit berechneter Betonung seiner Worte:

»Wer es auch sei, der dich gegen meinen Willen, ohne mein Wissen an solche Orte, in solche Gesellschaft lockt, ich habe nicht die Verpflichtung, ihm dafür dankbar zu sein. Leon, geben Sie dem albernen Geschöpf, dem törichten Mädchen Ihren Arm; ich meine, es ist nichts mehr zu sagen, und wir können gehen.«

»Es wäre noch recht viel zu sagen, wenn Sie Vernunft annehmen wollten, Wienand!« sprach das Freifräulein. »Aber Unglück und Krankheit haben Sie verblendet; Sie können nicht sehen, nicht hören. Wienand, Sie sind ein beklagenswerter Mann!«

Zornig schrie der Bankier auf:

»Wessen Mitleid verlange ich? Wer wagt es, mich zu bedauern? Gnädiges Fräulein, was verlangen Sie eigentlich von mir? Sie haben mir Gutes – Dienste – erwiesen, Sie haben sich meines Kindes angenommen zu einer Zeit, wo ich in einiger Verlegenheit war. Ich habe das immer anerkannt, und ich erkenne es auch jetzt noch an; aber ich habe auch von Ihnen mehr ertragen, als ich von irgendeinem andern Menschen erduldet haben würde. Sie haben oft, sehr oft in meinem Hause die Tyrannin gespielt, und ich habe mich Ihnen gefügt, ohne ein Wort darüber zu verlieren. In diesem Falle aber leide ich es nicht, daß Sie meinen Wünschen, meinem wohlbedachten Willen so schroff entgegentreten. Sie haben mir einen großen Teil der Neigung meines eigenen Kindes entfremdet – wollen Sie mir alles nehmen? Ich sage Ihnen, im Notfall überlasse ich Ihnen die Liebe der verzogenen Dirne, den Gehorsam derselben aber halte ich fest.«

»Vater, Vater, o höre mich!« rief Helene jammernd.

»Still, Mädchen! Zu Hause will ich zu dir reden. Fräulein von Poppen, weshalb führen Sie meine Tochter ohne mein Vorwissen zu diesem Orte? Wer sind diese Herren? Wer ist dieser junge Mensch? Ich bitte gehorsamst um Antwort; die Auskunft wird mir sehr interessant sein.«

»Dieser Ort«, sprach Juliane von Poppen ernst, fast feierlich, »dieser Ort ist für Leute Eures Schlages heiliger Boden; Ihr habt im Grunde doch großen Respekt davor, wie Ihr Euch auch stellen mögt. Und hört, Wienand; wenn das Schicksal es wollte, daß ein neuer Windstoß abermals Euer armes buntes Kartenhaus umstieße, und der böse Geist – Ihr wißt, was ich meine – abermals die Hand nach Euch ausstreckte: so klopft schnell, schnell an diese Tür und bittet um Einlaß, und wenn der Euch gewährt wird, so ziehet die Schuhe von den Füßen und tretet ein. Erinnert Euch daran, daß damals nichts Euch vor dem schwarzen Dämon schützen konnte: hier an diesem guten Ort findet Ihr vielleicht die Sicherheit, welche Euresgleichen die ganze weite Welt versagt,

›So oft der Herr der Wasser und der Erden
Die Krämer beugt, daß sie nicht Fürsten werden.‹

Was diese Männer anbetrifft, so sind es meine Freunde, und bessere, treuere sind nimmer zu finden. Gott gebe Ihnen solche Freunde, Wienand, und dazu die Macht, sie zu erkennen und hochzuhalten. Gib mir deine Hand, Robert Wolf; – sehen Sie hier, Herr Bankier Wienand, diesem jungen Mann habe ich einst verboten, sich Ihrer Tochter, meinem Pflegekinde, zu nähern, ich habe ihm meine Gründe dafür gesagt, und er hat gehorcht, obgleich er Helene liebte. Jetzt hab ich selber mein Kind, Ihre Tochter, ihm entgegengeführt, um es zu erretten vor jenem klugalbernen Laffen, Leon von Poppen, meinem Neffen, welchem Sie schwacher Mann Ihr eigen Fleisch und Blut gegen einen Pergamentfetzen verhandeln wollen. Hören Sie wohl zu, Wienand; auf mein Wort hat jetzt Helene diesem Jüngling Treue geschworen, und sie wird daran halten, solange sie lebt; aber morgen geht der junge Mensch fort von hier, nach Amerika; nie wieder wird er vielleicht zu seiner Verlobten reden, und an sie schreiben wird er auch nicht. Sie sollen einen Teil Ihres Willens haben, Wienand; Helene wird sich nicht gegen Ihren Willen verheiraten, aber diesen Burschen, der leider Gottes meinen Namen trägt, sollen Sie ihr in alle Ewigkeit nicht aufdrängen. Nun führen Sie Ihr Kind fort, Herr; für heute habe ich genug zu Ihnen gesprochen.«

»Genug, übergenug!« murmelte der Bankier zwischen den Zähnen. Dann sprach er laut:

»Fräulein von Poppen, ich übernehme von jetzt an die Leitung meines Hauses und damit auch meiner Tochter wieder allein; ich denke, das ist klar! Komm, Mädchen, fort mit dir!«

»Sie weisen mir die Tür, Herr«, sagte das Freifräulein höchst vornehm, wirklich vornehm. »Das ist eine große Ehre, die Sie mir unter den jetzigen Umständen erzeigen. Ändern werden Sie dadurch übrigens nichts! Helene Wienand, im Namen deiner toten Mutter, deren Stelle ich versehen habe und für die ich hier stehe, im Namen deiner Mutter verbiete ich, Juliane von Poppen, dir, diesem Mann, meinem Neffen Leon von Poppen, deine Hand zu geben. Wir müssen uns jetzt trennen, bleibe treu den Sternen und gedenke, mein armes Kind, daß ich dir zu jeder Stunde doch nahe, ganz nahe sein werde. Habe Mut, traue deinen Müttern, der toten wie der lebenden, sie werden ihr Kind nicht verlassen.«

Nach einer kurzen, hastigen letzten Umarmung schob das Freifräulein das verzweifelte Mädchen dem Vater zu, indem es demselben ganz leise ins Ohr flüsterte:

»Da nehmt es, armer Mann; versucht, was Ihr erreichen könnt. Ich habe den Sarg Eurer Frau geschmückt, obgleich Ihr mich nicht gerufen hattet. Hütet Euch, daß ich nicht nochmals ungerufen Euer Haus betreten muß, um eine andere Tote in den Sarg zu legen! . . . Nun, Herr von Poppen, bieten Sie dem Fräulein Wienand Ihren Arm.«

Damit wandte sich Juliane ab und griff nach der Hand Robert Wolfs, welcher sich zwischen den Baron und das junge Mädchen stürzen wollte; Herr Leon aber bot dem Fräulein Wienand nicht den Arm; er stand betäubt, »wie vor den Kopf geschlagen«. Wankend folgte er dem Vater und der Tochter und stolperte draußen über das alte Weib, welches neben seiner Laterne auf der Treppe eingeschlafen war. Atemlos hielte er sich an dem morschen Geländer und ächzte:

»Pauken und Trompeten, welch ein Weib, welch eine Suade! Ich werde mich zu Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen.«

Er fuhr nicht mit in dem Wagen des Bankiers nach Hause; er ging oder schwankte vielmehr heimwärts. Als er vor dem Café de l'Europe von einem ihm begegnenden Kollegen erfuhr, daß das Nobilitierungspatent für den Bankier Wienand von Seiner Majestät fürs erste noch zurückgelegt worden sei, machte diese Nachricht kaum einen bemerkenswerten Eindruck auf ihn.

Er kam in seinem Zimmer an und zog wirklich die Decke über den Kopf, nachdem er vorher noch dem getreuen und klugen Baptiste wieder einmal auf die alte Art, das heißt durch einen Tritt vor die Posteriora, gute Nacht gewünscht hatte. Er selbst hatte keine gute Nacht.

Im Observatorium des Sternsehers sprachen die Freunde nicht viel mehr zueinander. Was sie bewegte, ließ sich schwer in Worte fassen.

Mit heißen Tränen nahmen Juliane von Poppen und der alte Ulex Abschied von Robert Wolf; und Polizeischreiber Fiebiger war fast von allen der Weichmütigste.

Am folgenden Morgen schon reiste Robert nach Hamburg ab.


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