Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Elftes Kapitel

Das Hinterhaus von Nummer zwölf in der Musikantengasse erfährt eher etwas Merkwürdiges als das Vorderhaus

Es war spät in der Nacht, und doch war noch Licht in der Werkstatt des Schreiners Tellering im Hinterhaus von Nummer zwölf in der Musikantengasse. Der Kanarienvogel im Bauer hatte sein Köpfchen unter die Flügel gezogen und schlief sanft; aber Hobel und Hammer in den Händen von Johannes und Ludwig Tellering, Vater und Sohn, waren noch nicht zur Ruhe gekommen, obgleich sie ein saures Tagewerk hinter sich hatten. Der alte und der junge Handwerksmann waren beschäftigt, einen Sarg zu zimmern; und ein Sarg ist ein kurioses Stück Arbeit, welches keinen Aufschub duldet. Für die Wiege darf der Mensch als Mensch und Hausvater lange vorher, ehe sie gebraucht wird, sorgen, und die junge Braut und Frau darf sie in errötender Erwartung der Dinge, die da kommen sollen, unter ihrer Aussteuer in das Haus des Mannes bringen. Wenn aber jemand bei Lebzeiten seinen Sarg bestellen wollte, so würde das mit Recht die Verwunderung der Nachbarn und Mitlebenden erregen, und das Exempel des Kaisers Karl des Fünften würde zur Rechtfertigung solcher Schrulle durchaus nicht ausreichen. In Gedanken zimmert der fromme Christ leider freilich oft genug einen hübschen, festen, bequemen Sarg im voraus für geliebte Anverwandte, die sehr reich, oder andere, welche zu mürrisch und alt sind; aber hat man jemals wohl davon gehört, daß ein liebender Neffe einem alten Erbonkel solch ein schwarzes, solides, mit Silber beschlagenes Ruhebett zum Geburtstag oder bei einer andern festlichen Gelegenheit als Zeichen seiner Verehrung und Liebe dargebracht habe? Weder die alten noch die neuen Schriftsteller, weder die Klassiker noch die Epigonen melden von einem solchen Faktum.

Übrigens ist es immer eine traurige Arbeit, einen Sarg zu machen, in Gedanken sowohl wie in der Wirklichkeit; man kann in keiner fröhlichen Stimmung dabei sein; und so arbeiteten auch in dieser Mitternacht Vater und Sohn ernst und eifrig nebeneinander fort und sahen kaum von ihrer Arbeit auf. Jeder dachte dabei das Seinige, und ob die Gedanken aus einem grauhaarigen oder braungelockten Kopfe entsprangen, einerlei, sie waren gleich melancholisch gefärbt, obgleich weder Meister Johannes noch Ludwig viel von dem Schläfer wußten, welchem sie das letzte Ruhebett bauten.

Neben der Werkstatt befand sich die Schlafkammer der Frauen der Familie. Die hübsche, lustige Luise schlief so sanft und friedlich wie der kleine Vogel im Bauer; sie lächelte im Traum und vernahm nicht das mindeste von Hobel, Hammer und Säge. Wachend lag aber die Mutter Anna, sie horchte schlaflos der fortschreitenden Arbeit des Mannes und Sohnes. Solch eine alte Frau hat mehr Sorgen als ein junges Ding von sechzehn Jahren; die Jungen und Gedankenlosen wissen gar nicht, wie glücklich sie sind.

Die beiden Fenster der Werkstatt gingen auf den Hof hinaus; das einzige Fenster der Kammer der Frauen sah in die enge schwarze Gasse, durch welche man gehen mußte, um zu dem Klosterhof von Sankt Nikolaus, um zu dem Giebel des Sternsehers Heinrich Ulex zu gelangen. Wir kennen den Weg bereits. An das Fenster der Schlafkammer klopfte plötzlich jemand ganz leise und erschreckte die Mutter Anna dadurch ungemein. Sie fuhr hoch auf und horchte, ob sie sich auch nicht getäuscht und das Spiel des Windes für das Anpochen einer menschlichen Hand genommen habe. War der Tote, für welchen der Ehemann und der Sohn sich quälten, ungeduldig geworden? Kam er, um sich nach seinem letzten Hause zu erkundigen? Frau Anna warf einen Blick nach dem Lager ihrer Tochter; das junge Mädchen schlief ruhig weiter; auch Hammer und Hobel in der Werkstatt ließen sich in ihrem Werke nicht stören. Aufrecht saß die Frau im Bett; eben wollte sie sich wieder niederlegen, als sich das Anpochen wiederholte. Eine klare Stimme rief dicht vor dem Fenster:

»Ich bin's. Erschreckt nicht. Ich bin's – Marie Heil!«

»Mein Jesus!« rief die Frau. »Johannes! Ludwig! Da ist jemand draußen. Marie Heil ist draußen, öffnet ihr doch! Luise, Kind, wach auf!«

Luise erwachte und fragte, was es gäbe. In der Werkstatt hörte das Hämmern und Pochen auf. Auf den Ruf seiner Mutter hatte sich Ludwig Tellering blitzschnell von der Arbeit emporgerichtet. Als er den Namen Marie Heil vernahm, lief er, im höchsten Grade betroffen, eiligst der späten Besucherin die Tür zu öffnen. Die Frauen kleideten sich schnell an.

Mit zitternder Hand schob Ludwig den Riegel der Haustür zurück. Der Wind blies ihm die Lampe aus, und er mußte die Hand der kleinen Familienfreundin ergreifen, um sie zu der Hofwohnung zu geleiten.

»Was ist denn geschehen, Fräulein Marie?« fragte er ängstlich. »Um Gottes willen, es ist doch kein Unglück geschehen?«

Die Stimme Maries kämpfte zwischen Weinen und Lachen, als sie antwortete:

»Ein Unglück? Nein, nein! Aber ich muß fort – ich gehe fort – weit – weit – o, so weit, Herr Ludwig!«

Herr Ludwig faßte die kleine Hand noch viel fester als vorher; er ließ sie auch nicht eher los, bis die Hofwohnung erreicht war. Das Wort des Mädchens hatte den jungen Mann so erschreckt, daß ihm jedes Wort, jede Frage im Munde stecken blieb; desto lauter und vielfältiger aber drängten sich die Fragen der übrigen Familie Tellering, deren Glieder jetzt sämtlich in der gerümpelvollen, verräucherten Werkstatt, zwischen Hobelspänen, Brettern, Werkzeug allerart und neben dem Sarge versammelt waren.

Der scharfe Wind, die Gemütsbewegung und der eilige Lauf durch die Gassen hatten die Wangen der kleinen Marie noch viel röter gemacht, als sie schon im gewöhnlichen Zustande waren. Eine geraume Zeit stand sie inmitten der verwunderten, erschreckten Freunde, ehe sie sich so weit gesammelt hatte, um Bericht zu geben über das, was sie zu so ungewohnter Stunde hertrieb. Ludwig Tellering hatte die Faust auf den halbfertigen Sarg gelegt, wiederholte im Innersten seiner Seele: ich gehe fort, weit, weit fort, – starrte das junge Mädchen mit weit offenen Augen an und sah ungefähr aus wie jemand, welcher aus einem schönen Traum vermittelst eines Waschnapfes voll kalten Wassers geweckt worden ist.

»Setzen Sie sich doch, Marie«, sagte der Meister Johannes, eine Bank mit der Handwerksschürze abstäubend; aber das junge Mädchen schüttelte energisch den Kopf:

»Ich danke sehr, Meister. Ach, du lieber Gott, fürs erste werde ich wohl nicht wieder zum Sitzen kommen und noch weniger zum Liegen. Wir gehen fort, o so weit, – bis an der Welt Ende; – erst nach Italien, dann nach Paris, dann nach Amerika.«

»Nach Amerika?!« rief die Familie Tellering in den verschiedensten Tonarten, und Ludwig fuhr abermals zusammen, wie vom Blitz getroffen, faßte sich aber als ein Mann sogleich wieder und stellte sich fest auf den Füßen, als wolle er im Boden Wurzeln schlagen und Blätter und Blüten treiben gleich einer von einem allzu persönlichen Gott verfolgten griechischen jungen Dame aus der Zeit der Metamorphosen.

»Nanu?« rief der Alte.

»Ach du mein Himmel!« rief Luise.

»Nach Amerika?!« rief die Mutter Anna, auf einen Holzschemel sinkend.

Ludwig Tellering sagte gar nichts; er nahm mechanisch seine Mütze vom Tisch und setzte sie fest auf den Kopf.

»Das ist wirklich eine merkwürdige Nachricht«, rief der Meister. »Und wann soll die Reise vor sich gehen?«

»In dieser Nacht – gleich! Ich komme zu fragen, meine Herren, ob Sie uns helfen wollen beim Einpacken. Wir wollen mit fremden Leuten nichts zu tun haben. Viel nehmen wir nicht mit. Seht mich nur nicht so erschreckt an, ihr Leutchen; es geht alles mit rechten Dingen zu. Wir überlegen es uns erst recht reiflich, ehe wir uns entführen lassen.«

Die Aufregung der Familie Tellering stieg immer höher.

Luise schloß die kleine Freundin in die Arme und rief schluchzend:

»Es ist dein Ernst nicht, daß du weggehst! O, Marie, was soll das nur? Was soll das heißen?«

»Es ist mein völliger Ernst«, schluchzte dagegen Marie Heil. »Ich kann nicht anders, so große Angst ich auch habe. Es ist eine merkwürdige Geschichte, und ich hätte nie gedacht, daß ich so etwas erleben sollte. Ich kann meine Herrin nicht verlassen.«

Die Dienerin Eva Dornbluths erzählte nun, was vorgegangen war, wie Herr Friedrich Wolf, der Bräutigam ihres Fräuleins, als ein reicher Mann heimgekehrt sei aus den fernen Mohren- und Indianerländern, und wie er seine Braut sogleich mit sich fortführen wolle, und wie man keinen Augenblick versäumen dürfe.

»Wir entschlossen uns kurz«, fuhr sie fort, »denn wir haben uns nie lange besonnen, das Leben ist nicht lang genug dazu. Mein Fräulein fragte mich, ob ich weiter mit ihr gehen oder ob ich hier bleiben wolle. Ich fragte sie, was sie von mir dächte, ob sie mich für ein Ding hielte, das sich vor einem Mohren oder einem Indianer oder sonst einem wilden Mann fürchte. Ich sagte, ob sie sich nicht erinnere, was sie alles an mir getan habe und wie sie mich so gut wie eine Schwester behandelt habe. Sie sagte, das sei alles recht schön; aber der Weg sei so weit, und die Welt sei so weit, und man könne nicht wissen, ob man jemals wieder zurückkomme. Der Herr sagte, er wolle auch hier gut für mich sorgen; aber ich antwortete ihm, wie er es verdiente: was er von mir dächte, ich wolle mein Fräulein doch nicht mit ihm allein zu allen Hottentotten und Russen, Chinesen und Menschenfressern ziehen lassen – dazu kennte ich ihn doch noch nicht lange genug. Und um die Sache zu einem schnellen Ende zu bringen und nicht laut heraus zu weinen, sprang ich weg nach meinem Mantel und Hut, und wenn die Herren uns nun helfen wollen, unsere Koffer zur Eisenbahn zu schaffen, so soll uns das sehr angenehm und lieb sein. Was wir nicht tragen können, lassen wir zurück und kümmern uns nicht drum. Die Armen sollen es haben; denn wir sind selbst arm gewesen und mögen es überall besser wiederfinden.«

Die Aufregung der Familie Tellering war nicht zu schildern, sie hatte den äußersten Grad erreicht. Das Plötzliche und Unerwartete tat das Seinige, jedermann in die höchste Verwirrung zu bringen. Selbst der Kanarienvogel erwachte, zog den Kopf unter dem Flügel hervor, sah verwundert umher und riet mit hellem Gezwitscher der kleinen Marie, Vernunft anzunehmen und im Lande zu bleiben. Luise weinte laut, es weinte die Mutter Anna, der Alte schüttelte betrübt den Kopf, und Ludwig – Ludwig schien den Kopf vollständig verloren zu haben. Dann kam ein Augenblick, während welchem Marie und Luise einander schluchzend in den Armen lagen und beiderseitig nicht an die plötzliche Trennung glauben konnten und wollten; dann kam ein Augenblick, wo Marie Heil sich wieder zusammenraffte und eine kleine tränenerstickte Rede hielt über die Flüchtigkeit der Zeit, und wie man nie wisse, ob man nicht recht bald wieder zusammenkommen werde. Nun hatte der Meister Johannes Tellering Mütze, Jacke und Rock gefunden, und die Mutter Anna hatte weinend dem jungen Mädchen, welches so weit in die Welt gehen wollte, ihren Segen gegeben. Ludwig Tellering quälte sich vergeblich ab, mit dem linken Arm durch den rechten Ärmel in den Rock zu gelangen; es bedurfte der vereinigten Hilfe von Vater und Mutter, um seine Ausrüstung zu vollenden.

Nun ein Türöffnen und ein Türschließen: auf ihren Betten – allein in ihrer Kammer – saßen die Frau Anna und Luise; sie weinten beide und machten ihrem Kummer in abgebrochenen Ausrufen Luft. Dann war die kleine Freundin gegangen, und der Kanarienvogel in der Werkstatt, jetzt vollständig wach und munter, sang ihr sein lustigstes Leibstückchen nach. – – –

Mitten im unbehaglichen nächtlichen Getümmel am Bahnhof! Wie pfiff und heulte der kalte Wind durch die dunkle hohe Halle! Jede Laterne diente nur dazu, die Nacht noch finsterer zu machen; ungeduldig keuchte die Lokomotive und sah mit feurigen Augen in die Dunkelheit. Vor der Wagenreihe drängte sich das fröstelnde, vermummte, bepelzte Gewimmel der Reisenden; Beruf und Pflicht, Glück und Unglück kümmern sich nicht um Jahreszeit, Wetter und Stunde; sie jagen die Menschen auf und treiben sie, und die armen Menschen denken gar noch, sie seien auf der Wanderung, weil sie es wollen, weil sie es reiflich überlegt und beschlossen haben.

Eva Dornbluth saß bereits im Wagen; Friedrich Wolf drückte dem alten Meister Tellering die Hand zum Abschied; Ludwig aber zögerte mit der kleinen Marie noch immer vor der Tür so betäubt wie je. Krampfhaft hielt er den Arm des jungen Mädchens.

»Marie, Marie, weshalb gehen Sie fort? Bleiben Sie hier!«

»Ich darf nicht, Herr Ludwig.«

»Wollen Sie meiner Schwester immer schreiben, wo Sie sind und wie es Ihnen geht?«

»Gewiß! Ach, machen Sie mir das Herz nicht noch schwerer.«

»Sie wollen uns nicht vergessen?«

»O Herr Ludwig!«

»So leben Sie wohl, Marie. Wir sehen uns wieder!« Er riß die Kleine in den Arm und küßte sie. Er tat es. Dann schob er sie in wilder Hast in den Wagen und stürzte aus der Bahnhofshalle, ohne sich umzusehen. Ihm nach klang ein leiser Ruf: »Ludwig!« aber er vernahm ihn nicht mehr; wie konnte er hören und sehen? Friedrich Wolf gab dem Meister Johannes noch einen Brief für einen Mitbewohner des Hauses zwölf in der Musikantengasse, über welchen er mit ihm viel auf dem Wege zum Bahnhof gesprochen, von welchem er vieles sich hatte erzählen lassen.

Nun schrillte die Pfeife des Zugführers. Laut auf schrie die Lokomotive, einem wilden Tier gleich, das losgelassen wird von der Kette. Der heiße Atem füllte mit dichten Wolken die hohe Halle; der Zug setzte sich in Bewegung. Hinaus, hinaus, schnell und immer schneller hinaus in die Nacht, die Zukunft; südwärts soll es Länder geben, wo es nicht schneit, wo die Sonne keinen Winter duldet. Südwärts fuhren Fritz und Eva. Noch einmal winkte Marie Heil aus dem Fenster; kopfschüttelnd, traurig sah den Reisenden der Meister Johannes nach. Dann schritt er ebenfalls aus dem Bahngebäude und fand an der nächsten Straßenecke seinen armen Jungen.

Sie gingen nach Haus, und der Alte legte sich erschöpft zu Bett, Ludwig Tellering aber machte sich mit fieberhafter Hast von neuem an die Arbeit und vollendete den Sarg allein. Mit grimmiger Energie schlug er Nagel auf Nagel ein. Es war ein trauriges Werk; aber Todesgedanken hatte der Jüngling nicht dabei. Wir können ihm nur Glück wünschen zu seinen Gedanken; es waren mutige Gedanken, und der Mut ist ein edel Ding in dieser Welt.


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